Literatur
Bewertung: 3 Punkt(e)
Ziel der Arbeit1. Ziel der Arbeit
Das 1494 entstandene »Narrenschiff« Sebastian Brants bedeutet den Beginn der im
ganzen 16. Jahrhundert und darüber hinaus weithin populären Narrenliteratur.
Dieser Begriff bezeichnet eine neue Literaturgattung, die sich, den Typus des
Narren in den Mittelpunkt der Daseins- und Weltdeutung stellend,
satirisch-didaktisch mit dem Phänomen der Narrheit als »Signum der Epoche«
auseinandersetzt.
Daß die Schlüsselposition bei der Verbreitung des Narrenmotivs Sebastian Brant
zukommt, ist unbestritten:
"Denn Brant war der erste, der das Phänomen der Narrheit in geistigem Sinne
deutete, indem er den sündhaften und irrenden Menschen mit seinen vielfältigen
Fehlern und Lastern zum Narren stempelte und ihn als eine in jeder Hinsicht
negative Größe dem Weisen als einem allgemeinen Menschheitsideal
gegenüberstellte." (Könneker, Wesen, S. 2)
Der durchschlagende Erfolg des »Narrenschiffs« liegt denn auch vor allem in der
Wahl des Narrenthemas begründet. Die Illustration durch einzeln den Kapiteln
vorangestellte Holzschnitte und der Stil, der einerseits mit volkstümlichen
Narrenbeschreibungen, zahllosen Beispielen und Merksprüchen, andererseits wegen
der theologischen und philosophischen Erörterungen Ungebildete und Gelehrte
gleichermaßen anspricht, trägt dazu bei, das »Narrenschiff« zum größten
deutschen literarischen Erfolg bis Goethes »Werther« werden zu lassen.
Der auf die Fastnacht 1494 erscheinenden Originalausgabe folgen bald zahlreiche
Nachdrucke, Umarbeitungen, Übertragungen, 1497 Jakob Lochers lateinische
Übersetzung mit dem Titel »Stultifera Navis« und schließlich Übersetzungen ins
Französische, Englische und Niederländische, so daß man vom »Narrenschiff«
tatsächlich als einem europäischen Bucherfolg sprechen kann.
Die gesamtgesellschaftlichen Strukturveränderungen, die an der Schwelle zur
Neuzeit auf technischem, wirtschaftlichem, sozialem und religiösem Gebiet die
Lebensverhältnisse der Menschen neu zu definieren beginnen, lassen die
Zeitgenossen Brants ihre Epoche als Zeit der Krise, des Umbruchs und des Chaos
empfinden, zu deren Erklärung und Deutung nun die Narrenmetapher herangezogen
werden kann.
Da Brant den Narrenbegriff nicht neu erschafft, sondern durch das Mittelalter
vorgeprägt findet, wird hier zu untersuchen sein, welche Vorstellungen seine
Zeit mit der Symbolfigur des Narren verbindet und wie es Brant durch Umformung
und Umdeutung gelingt, sie zum repräsentativen Menschheitssymbol zu erheben.
Der mittelalterliche Narrenbegriff2. Der mittelalterliche Narrenbegriff
Die ältesten Narrendarstellungen finden sich in den illuminierten
Psalterhandschriften, in denen der Narr, als Widersacher des Weisen, zusammen
mit dem Teufel das Sinnbild des Antichristen darstellt.
Der Anfang des 52. Psalms: "In seinem Herzen redet der Tor: Es gibt keinen
Gott." (Psalm 52,2) formuliert das Konstituens der Narrheit, die
Existenzverneinung Gottes. In der Gestalt des Narren steigert sich die
Gottesverleugnung zur Gottesferne, die letztlich zur Teufelsnähe gerät und ihn
zum Handlungsträger des Bösen gegen Gott macht. Denn gemeinsam ist dem Teufel
und dem Narren ihre aus dem »Non est Deus« resultierende Existenz. Abkehr
(=aversio) und Verkehrung (=perversio) als das Wesen der Narrheit lassen den
Narren als Repräsentant einer verkehrten Welt, die vom Antichristen als
Gegenwelt gegen die göttliche Heilsordnung geschaffen wurde, erscheinen. Seine
Abkehr vom Glauben bedeutet eine Auflehnung gegen Gott, verleiht ihm einen Zug
zur Rebellion, so daß ihm etwas Bedrohliches, Destruktives anhaftet, da sie die
Grundlagen der mittelalterlichen Weltordnung erschüttert.
Seine Ignoranz gegenüber der göttlichen Schöpfungsordnung findet in der
Darstellung der Ständetreppe (Abb. 1) seinen Ausdruck: In diesem System der
stufenweisen Zuordnung auf Gott hin stehen zwei Figuren außerhalb, nämlich das
Kind und der Narr, denen es beiden an Einsicht in den göttlichen Heilsplan
mangelt. Während jedoch das Kind im Laufe seines Lebens an Weisheit zunimmt und
irgendwann seinen Platz im Ordnungsgefüge einnehmen wird, bleibt der Narr ein
Außenseiter, eine Sonderexistenz, die sich außerhalb der christlichen
Gemeinschaft bewegt. Damit steht die Narrheit in krassem Gegensatz zum
mittelalterlichen Ordogedanken, wobei Narrheit auch als moralische Kategorie
verstanden wird, d. h. jeder kann zum Narren werden, wenn er den sittlichen und
ethischen Anforderungen seines Standes nicht genügt. Denn:
"Nach der mittelalterlichen Auffassung ist der Mensch eingebunden in den Ordo,
und in dieser Einbindung verwirklicht sich seine Beziehung zu Gott.
Gottgefälliges Verhalten bedeutet vor allem die Erfüllung [...] der Pflichten
des Menschen an seinem ihm zugewiesenen Platz." (Bohnert, S. 616-617)
Aus der fehlenden Gottesliebe und seiner Position außerhalb der christlichen
Gemeinschaft resultiert ein weiteres Merkmal des Narren: seine Unfähigkeit zur
christlichen Nächstenliebe.
Hier kommt in Bezug auf die Narrenidee der Zweistaatenbegriff des Augustinus zur
Anwendung, der im 4. Jahrhundert in seiner Schrift »De civitate Dei« die
Gemeinschaft der Gläubigen im Gottesstaat der civitas terrena gegenüberstellt.
Während sich in der Gemeinschaft der Gläubigen die Gottesliebe (=amor Dei) bis
zur Selbstverachtung steigert und sich mit der selbstlosen Nächstenliebe
(=caritas) verbindet, führt die gottverachtende Selbstliebe (=amor sui) der
Gottlosen zur triebhaften Begierde (=cupido), die sich in der fleischlichen
Liebe (=amor carnalis) manifestiert. Demnach gehörte der Narr, charakterisiert
durch seine bis zur Gottesverachtung gesteigerte Selbstliebe und
Ich-Bezogenheit, zur cupido-Gemeinschaft.
Er besitzt die Fähigkeit zur christlichen Nächstenliebe nicht, sondern ist den
Begierden der amor carnalis verfallen. (Abb. 2)
So steht, da alle Weisheit auf das Bewußtsein der menschlichen Nichtigkeit
zurückführt, dem »memento mori« des Weisen das Bekenntnis des Narren zu
gottferner vergänglicher, lebensbejahender Daseinsweise gegenüber.
Alle diese Merkmale des Narren sind der Grund, daß im Mittelalter verschiedene
Erscheinungsformen der Narrheit unter diesem Begriff zusammengefaßt werden
können:
"Als Narren galten spätenstens seit dem 15. Jahrhundert alle, die aufgrund
abweichender Verhaltensformen - bedingt durch geistige Defekte, durch
körperliche Anomalien, insbesondere aber auch durch Gleichgültigkeit gegenüber
dem christlichen Glauben - dem herrschenden Normsystem nicht entsprachen."
(Mezger,Narrenidee, S. 38)
Die »natürlichen« Narren, das heißt geisteskranke oder geistig zurückgebliebene
Menschen, besitzen aufgrund mangelnder intellektueller Fähigkeiten keine
Einsicht in Gott. Sie fristen ein Dasein als Bettler oder Musikanten und sind
ständig von Isolierung in »Narrenhäusern« oder Vertreibung, zum Teil auf
tatsächlichen Narrenschiffen, bedroht.
Bemerkenswert ist, daß nicht nur psychische, sondern auch physische Defekte mit
dem Attribut der Narrheit belegt werden. In dem Gemälde »Die Krüppel« von Pieter
Bruegel (Abb. 3) sieht man eine kleine Gruppe körperlich Deformierter mit den
Narrenattributen Schellen und Fuchsschwänzen, auf die später noch eingegangen
werden soll, ausgestattet. Werner Mezger kommentiert dieses Bild: "Es steht
damit zweifelsfrei fest: Krüppel galten als Narren." (Mezger, Narretei, S. 22)
Der Grund dafür ist, daß die körperlich Abnormalen keinesfalls Ebenbilder Gottes
sein können, im Gegenteil, ihre Ähnlichkeit mit dem verkrüppelten, hinkenden
Teufel rückt sie gar in dessen Nähe.
Eine weitere Personengruppe, die ohne jede Differenzierung als unfromm, sündhaft
und gottesfern verurteilt und demzufolge dem Phänomen der Narrheit zugeordnet
wird, sind alle diejenigen, die sich aus religiöser Überzeugung weigern, den
christlichen Glauben anzunehmen. Juden, Moslems und Ungetaufte verschließen sich
also einer Einsicht in Gott, zeigen sich blind für die göttliche Ordnung und
geben sich dadurch der ewigen Verdammnis anheim.
Im Holzschnitt zu Kap. 98 des »Narrenschiffs« »Von ausländischen Narren« (Abb.
4) sieht man demzufolge einen Juden sich selbst erhängen, während im Vordergrund
eine Gruppe, an ihrer Kleidung als fremdländisch erkennbare Personen, auf einer
überdimensionalen Narrenkappe stehen, was sie, ohne daß jeder einzelne von ihnen
mit diesem klassischen Narrenattribut ausgestattet wäre, eindeutig als Narren
ausweist. Die äußere Bedrohung des christlichen Europas durch die Türken trägt
ein weiteres zum Bild des boshaften und furchterregenden Heiden bei:
"In der populären Vorstellung war der Türke oder irgend ein anderer Moslem
nicht ein Mann, der eine andere Religion besaß, sondern vielmehr ein
Gotteslästerer und Gottesleugner. Außerdem sagte man den Türken nach, sie
seien blutdürstig, grausam und verräterisch." (Burke, S. 180)
Die Figuren Narr und Tod2.1. Die Figuren Narr und Tod
Der Sündenfall, durch den der Mensch das Paradies und die Unsterblichkeit
verloren hat, steht am Anfang aller Narrheit. Deshalb ist die Narrheit der
Grund, daß der Tod in die Welt gekommen ist, und der Tod wiederum die letzte
Konsequenz der Narrheit. Durch die Gleichsetzung von Narrheit und Erbsünde wird
der Narr als Symbol irdischer Vergänglichkeit (=vanitas) in die unmittelbare
Nähe des Todes gerückt.
"Bei der häufigen Identifizierung von Narrheit und Tod im Spätmittelalter
stehen die in ihren Eigenschaften oft austauschbaren Symbolfiguren Narr und
Tod für den Vanitasgedanken; beide kritisieren die bestehenden Verhältnisse,
die es zu verspotten gilt, relativieren die Werte der irdischen Endlichkeit
und mahnen den Menschen an seine Vergänglichkeit und die Hinfälligkeit seines
Tuns. Der Tod erscheint in der mittelalterlichen Ikonographie häufig in
spielmännisch verkleideter Form als Todesnarr, der die Menschen zwingt, nach
seiner Pfeife zu tanzen." (Kuper, S. 137)
Die Wesensverwandtschaft der Gestalten Narr und Tod wird häufig in der
Verkleidung des Todes als Narr veranschaulicht: So erscheint im Großbaseler
Totentanz (Abb. 5) der Tod mit den klassischen Narrenattributen, wie Gugel,
Eselsohren und Schellen.
Noch deutlicher wird die Annäherung der beiden Figuren in den, im Abstand von
einem Jahr entstandenen Darstellungen von Hans Sebald Beham. An der Stelle, wo
in der Radierung von 1540 unter der Narrengugel das Narrengesicht sichtbar wird,
grinst dem Betrachter im Kupferstich von 1541 ein Totenschädel entgegen. (Abb. 6
und Abb. 7)
Mezger sieht denn auch bereits im 15. Jahrhundert die Austauschbarkeit der
beiden Gestalten als gegeben: "Die Gestalten Narr und Tod standen nahezu
gleichbedeutend für ein und dasselbe: vanitas." (Mezger, Narrenidee, S. 431)
Im »Narrenschiff« Sebastian Brants wird das Verhältnis zwischen den Gestalten
Narr und Tod gleich mehrfach aufgegriffen und auch in den Holzschnitten
gestaltet: Verdeutlicht Kapitel 5 »Von alten Narren« die Unbekehrbarkeit des
Narren selbst angesichts des Todes, im Holzschnitt dargestellt anhand des
Narren, mit einem Fuß im Grabe stehend (Abb. 8), sieht sich der Narr in Kapitel
85 aufgrund seiner sündhaften Lebensweise mit dem gefürchteten unerwarteten,
unvorbereiteten Tod (=mors improvisa) konfrontiert (Abb. 9). In Kapitel 94
erscheinen Narr und Tod sogar als Komplizen, da der Narr, ohne sich seiner
eigenen Endlichkeit bewußt zu sein, vom Tod eines anderen seinen Nutzen ziehen
will.
Das Motiv des Narrensäens2.2. Das Motiv des Narrensäens
Der Ursprung des Motivs liegt wohl in den Aussaat-Ernte-Gleichnissen (Matthäus
13,3 ff. und 13,18 ff.), aus denen sich die Idee des Menschensäens (Abb. 11) und
später des Narrensäens entwickelt. Im Gleichnis vom Sämann wird die Saat in vier
verschiedenen Qualitäten beschrieben, die vier verschiedene Menschentypen
repräsentiert:
Saat, die auf den Weg fällt und von Vögeln gefressen wird (Menschen, die das
Wort Gottes nicht verstehen)
Saat, die wegen steinigen Grundes zu früh aufgeht und verdorrt (Menschen, die
Gottes Wort nur oberflächlich hören, wo es aber keine Wurzeln schlägt)
Saat, die von den Dornen erstickt wird, die ringsum wuchern (Menschen, bei
denen das Wort Gottes vom Reichtum der Welt erstickt wird)
Saat, die auf gutes Erdreich fällt und vielfältige Frucht bringt (Menschen,
die das Wort Gottes hören und verstehen)
Mit diesem Gleichnis im Matthäus-Evangelium korrespondiert eine Stelle im 1.
Korintherbrief, wo Paulus spricht: "Du Tor! Was du säest, wird nicht lebendig,
wenn es nicht (zuvor) gestorben ist. [...] Gesät wird ein sinnenhafter Leib,
auferweckt ein geistiger Leib." (1. Kor. 15,36 ff.) Mezger bemerkt hierzu:
"Diese Stelle enthält im Grunde die Quintessenz der gesamten
spätmittelalterlichen Narrenidee, wonach der irdische Tod einzig und allein
aus der Narrheit resultiert, die ihrerseits nichts anderes als ein Synonym für
die Erbsünde ist." (Mezger, Narrenidee, S. 378)
Denn durch die Narrheit Evas, den Sündenfall, ist der irdische Tod in die Welt
gekommen und die Erlösung des Menschen liegt einzig in der Überwindung der
Narrheit und der Sünde, die nach dem Tod die Auferstehung zum ewigen Leben
ermöglicht:
"Die Idee vom Narrensäen setzt sich mit eben dieser Problematik bildhaft
auseinander. Sie will zeigen, daß seit dem Sündenfall, durch den sich die
ersten Menschen mit der Narrheit befleckt haben, Adams Saat nur noch aus
Narren besteht. Mit anderen Worten: was auf Adams Acker gedeiht, muß seiner
Narrheit wegen zuerst sterben und auf den 'Gottesacker' kommen; denn erst von
dort - und darin liegt die tiefere Bedeutung der Bezeichnung 'Gottesacker' für
'Friedhof' - kann die Menschensaat zum wahren Leben erweckt werden." (Mezger,
Narretei, S. 45)
Daher kann das Narrensäen als sinnfälliges Motiv für die Gleichsetzung von
Narrheit und Erbsünde, und zugleich für die Annahme, daß Narrheit sich immerzu
selbst vermehrt, gelten. Statt des Samenkörner-Symbols werden dabei entweder,
als pars pro toto z. B. kleine Narrenkappen oder kleine Menschen als das
Bezeichnete selbst als Saatgut auf den Acker gebracht.
Die äußere Erscheinungsform des Narren2.3. Die äußere Erscheinungsform des
Narren
Die Außenseiterexistenz des Narren wird an seinem äußeren Erscheinungsbild
sichtbar; er repräsentiert einen Darstellungstypus, der es ermöglicht, eine
eindeutige Zuordnung zum Narrentum vorzunehmen. Die Verkleidung und Maskierung
der Narren bewirkt und demonstriert eine Veränderung der Identität und
signalisiert den bewußten Verzicht darauf, ein Ebenbild Gottes zu sein. Das Bild
des Narren ist ein Kostüm mit symbolischen Attributen, wobei bestimmte
Kennzeichen seinen negativen Eigenschaften entsprechen. Sowohl Michael Kuper als
auch Werner Mezger beschreiben einen langen Entwicklungsprozeß der äußeren
Standardisierung des Narren vom 13. bis zum 16. Jahrhundert:
"Die allegorische Zeichenhaftigheit des Narrengewandes und der närrischen
Attribute hat sich erst am Ende eines langen, um 1470 abgeschlossenen
Entwicklungsprozesses herausgebildet, der zum vereinheitlichten
Erscheinungsbild des Narren in der Ikonographie des 15. und 16. Jahrhunderts
führte." (Kuper, S. 114)
Im Folgenden sollen die wichtigsten Merkmale dieses äußerlich unverwechselbaren
Typus beschrieben und erläutert werden.
Das älteste Narrenkennzeichen ist die Marotte, über deren Ursprung vermutet
wird, daß sie den »natürlichen« Narren, die sich dem Spott und den Angriffen
ihrer Umwelt ausgesetzt gesehen haben, ursprünglich als Verteidigung gedient
hat. Präsentiert sie sich um 1200 noch als eine aufrecht getragene Keule, tritt
sie in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts in ein neues Entwicklungsstadium:
Die einfache Keulenverdickung am oberen Ende verwandelt sich in einen etwa
faustgroßen modellierten Kopf, der den Träger der Marotte porträtiert. (Abb. 12)
Durch diese Verfeinerung erfährt dieses Kennzeichen eine Bedeutungserweiterung,
denn als das vom Narren mit sich herumgetragene Ebenbild seiner Selbst "[...]
versinnbildlicht die Marotte letztlich genau das, was nach mittelalterlicher
Überzeugung der Kern aller Narrheit war: die Abkehr von Gott und die Fixiertheit
aufs eigene Ich" (Mezger, Narretei, S. 25).
Die Selbstverliebtheit als Prämisse jeglicher Narrheit und die ausschließliche
Beschäftigung des Narren mit sich selbst zeigt sich darin, daß das Antlitz der
Marotte stets seinem Träger zugewandt ist und mal als Spiegelbild seiner selbst
(Abb. 13), mal als des Narren Narr - als Mittel für Zwiegespräche mit dem
eigenen Ich (Abb. 14) - erscheint. Illustriert wird hier der Gegensatz der
selbstlosen Nächstenliebe (caritas) des christlichen Menschen zum Narzißmus des
Narren, der sich sich bis hin zur Gottesverachtung steigert.
Spätestens seit dem 15. Jahrhundert wird der Spiegel als bedeutungsgleiches
Attribut gegen die Marotte austauschbar. (Abb. 15 und Abb. 16) Im »Narrenschiff«
wird das Spiegelmotiv als sinnfälliges Zeichen für Selbstliebe, Verblendung und
Hoffart mehrmals in den Holzschnitten aufgegriffen. (Abb. 17, Abb. 18 und Abb.
19) Eine Bedeutungserweiterung bzw. -verschiebung erfährt dieses Symbol
schließlich ab Mitte des 16. Jahrhunderts, als sich, in den Anfängen der
Schalksnarren-Tradition, der Spiegel zum Mittel der Entlarvung, zum Instrument
der Rüge und der Erkenntnis, also zur moralischen Instanz im Sinne des "erkenne
dich selbst" wandelt.
Eine interessante Deutung des Spiegelmotivs findet sich unter Abb. 20
dargestellt, wo der abgebildete Narr den Betrachter mit den Worten "Nun sind
unser zwey" ebenfalls als Narrengestalt definiert.
Als weiteres Zeichen, daß der Narr unfähig zur Nächstenliebe ist, sind die
Schellen anzusehen, deren Ursprung wohl im 1. Korintherbrief 13,1 zu finden ist:
"Wenn ich mit Menschen-, ja mit Engelszungen rede, habe aber die Liebe
[=caritas] nicht, so bin ich ein tönendes Erz oder eine gellende Schelle." Zudem
signalisieren die Schellen mit ihrem hohlen, mißtönenden Geklingel dieselbe
Unordnung und Unstetigkeit, wie sie auch in der Gestaltung des oftmals bunten
Narrengewandes zum Ausdruck kommt.
Vielfach erscheint jedoch die gesamte Narrentracht in der Eselsfarbe grau, (Abb.
21), wobei man sich die negative Bewertung des Esels, der im Mittelalter für
Dummheit, Uneinsichtigkeit, Trägheit, Geilheit, Lächerlichkeit, Verkehrtheit und
Häßlichkeit steht, für das negative Bild des Narren zunutze macht. Im
»Physiologus« wird er gar, vielleicht seiner überdimensional spitzen Ohren
wegen, mit dem Teufel gleichgesetzt, so daß diese Eselsohren ab ca. 1450
integraler Bestandteil der exzentrischen Ausgestaltung der Narrengugel sind. Und
der Holzschnitt zu Kapitel 26 des »Narrenschiffs«: »Von unnützem Wünschen« zeigt
König Midas sogar mit angewachsenen Eselsohren. (Abb. 22)
Zwei weitere, im Mittelalter mit negativen Eigenschaften belegte Tiergestalten
lassen sich im Narrengewand wiedererkennen.
Da ist zum einen der Fuchs - in den Fabeln Äsops und im »Physiologus« das
Sinnbild für Geiz, Betrug, Verschlagenheit, Unehrlichkeit und Falschheit - der
als pars pro toto in Form von auf den Kleidern befestigten Fuchsschwänzen in
Abb. 3 und als Klöppel in Form eines Fuchsschwanzes in Abb. 23 der Narrenfigur
seinen negativen Bedeutungsgehalt verleiht.
Das andere Tier, das mit der Narrengestalt in Verbindung gebracht wird und
ikonographisch meist nur an der Narrengugel angedeutet (Abb. 12, Abb. 13 und
Abb. 21), teilweise aber auch, wie im Gemälde »Allegorie der Narrheit« (Abb. 24)
voll ausgestaltet erscheint, ist der Hahn. Werner Mezger konstatiert in diesem
Zusammenhang:
"Unter den negativen Bewertungen war jedoch die Haupteigenschaft, die man in
der Gestalt des Hahnes verkörpert sah, ohne Zweifel die Geilheit. Und Geilheit
galt in der Tat als ein untrennbar mit der Narrheit verbundenes Laster.
Schließlich waren die Narren in den Augen der Theologen typische Vertreter der
'civitas terrena', des sündhaften irdischen Staates, von dem der hl.
Augustinus gesagt hatte, daß man in ihm nicht nach dem Geist - secundum
spiritum -, sondern nach dem Fleisch - secundum carnem - lebe." (Mezger,
Narretei, S. 27)
Auf diesem Gemälde fällt noch ein weiteres, körperliches Narrenmerkmal auf,
nämlich das Stirnmal der Narrheit, das, wie in der Apokalypse (Offenbarung
13,16) beschrieben, als Signum des Teufels alle diejenigen tragen, die dem
Antichrist verfallen sind. Es sitzt genau an der Stelle, an der am
Aschermittwoch der Priester das Aschekreuz markiert und damit nach der Zeit der
Fastnacht den bekehrten Narren wieder in die Gemeinschaft der Christen aufnimmt.
Da mehrfach die »medizinische« Entfernung des Narrenmals künstlerisch gestaltet
ist, erscheint auch Mezgers folgende Feststellung plausibel:
"Am nächstliegenden ist wohl die Erklärung, daß man die Narrheit für eine vor
allem im Kopf wuchernde Krankheit hielt und daß man folgerichtig davon
ausging, dort müsse sie sich in besonders schweren Fällen auch äußerlich
sichtbar als bösartige Hautveränderung zeigen." (Mezger, Narrenidee, S. 297)
Gottfried Benn: Ithaka1900-14
Gottfried Benn: Ithaka
PERSONEN:
A l b r e c h t, Professor der Pathologie
D r. R ö n n e, sein Assistent
K a u t s k i, ein Student
L u t z, ein Student
Studierende der Medizin
Im Laboratorium des Professors.
Am Ende eines Kurses. Der Professor, Studierende
der Medizin.
P r o f e s s o r :
Und nun, meine Herren, habe ich Ihnen zum Schluß noch eine ganz köstliche
Überraschung aufgespart. Hier sehen Sie, habe ich die Pyramidenzellen aus
dem Ammonshorn der linken Hemisphäre des Großhirns einer vierzehntägigen
Ratte aus dem Stamme Katull gefärbt und siehe da, sie sind nicht rot,
sondern rosarot mit einem leicht braunvioletten Farbenton, der ins
Grünliche spielt, gefärbt. Das ist nämlich hochinteressant. Sie wissen,
daß kürzlich aus dem Grazer Institut eine Arbeit hervorgegangen ist, in
der dies bestritten wurde, trotz meiner eingehenden diesbezüglichen
Untersuchungen. Ich will mich über das Grazer Institut im allgemeinen
nicht äußern, aber ich muß doch sagen, daß mir diese Arbeit einen durchaus
unreifen Eindruck machte. Und sehen Sie, da habe ich nun den Beweis in
Händen. Das eröffnet nämlich ganz enorme Perspektiven. Es wäre möglich,
daß man die Ratten mit langem, schwarzen Fell und dunklen Augen von denen
mit kurzem, rauhen Fell und hellen Augen auch auf diese feine färberische
Weise unterscheiden könnte, vorausgesetzt, daß sie gleich alt sind, mit
Kandiszucker ernährt, täglich eine halbe Stunde mit einem kleinen Puma
gespielt und bei einer Temperatur von 37,36° in den Abendstunden zweimal
spontan Stuhlgang gelassen haben. Natürlich darf man nicht außer acht
lassen, daß ähnliche Erscheinungen auch unter anderen Bedingungen
beobachtet worden sind, aber immerhin erscheint mir diese Beobachtung
einer genauen Veröffentlichung wert, ja fast möchte ich sagen, ein Schritt
näher zur Erkenntnis der großen Zusammenhänge, die das All bewegen. Und
damit guten Abend, meine Herren, guten Abend.
(Die Studierenden ab bis auf Kautski und Lutz.)
L u t z :
Wenn man nun, Herr Professor, dies Präparat genau angesehen hat läßt sich
dann irgend etwas anderes sagen als: so, so, dies ist also nicht rot,
sondern rosarot mit einem leicht braunvioletten Farbenton, der ins
Grünliche spielt, gefärbt?
P r o f e s s o r :
Aber meine Herren! Zunächst gibt über die Färbung der Rattenhirne die
große dreibändige Enzyklopädie Meyer und Müller. Die würde zunächst
durchzuarbeiten sein.
L u t z :
Und wenn das geschehen wäre, würden sich dann irgendwelche Schlüsse
ergeben? Irgendetwas Funktionelles?
P r o f e s s o r :
Aber, mein Lieber! Schlüsse! Wir sind doch nicht Thomas von Aquino, hi,
hi, hi! Haben Sie denn gar nichts gehört dem Morgenrot des
Konditionalismus, der über unserer Wissenschaft aufgegangen ist? Wir
stellen die Bedingungen unter denen etwas geschieht. Wir variieren die
Möglichkeiten ihrer Entstehung, die Theologie ist ein Fach für sich.
L u t z :
Und wenn sich eines Tages Ihr gesamtes Auditorium erhöbe und Ihnen ins
Gesicht brüllte, es wolle lieber die finstere Mystik hören, als das
sandige Geknarre Ihrer Intellektakrobatik und Ihnen in den Hintern träte,
daß Sie vom Katheder flögen, was würden Sie dann sagen?
(Dr. Rönne tritt ein.)
R ö n n e :
Herr Professor, ich gebe Ihnen hiermit die Arbeit über die Lücke im
Bauchfell des Neugeborenen zurück. Ich habe das geringste Interesse daran,
einer bestimmten, in gewisser Richtung geschulten Gruppe mir unbekannter
Leute die bei einer Sektion gefundene Situation einer Bauchhöhle so zu
schildern, daß sie sie sich nun vorstellen kann. Auch vermag ich es im
Gehirn nicht, dies Spiel, diese leichte und selbstgenugsame Naivität eines
Einzelfalles zu zerstören und aufzulösen.
P r o f e s s o r :
Ihre Gründe sind recht töricht, aber gut, geben Sie her. Genug andere
Herren interessieren sich für diese Arbeit. Wenn Sie aber etwas weniger
kurzsichtig wären, als Sie mir zu sein scheinen, würden Sie begreifen, daß
es sich gar nicht um diesen Einzelfall handelt, daß vielmehr die
Systematisierung des Wissens überhaupt, die Organisation der Erfahrung, in
einem Wort, die Wissenschaft bei jeder Einzeluntersuchung in Frage steht.
R ö n n e :
Vor 200 Jahren war sie zeitgemäß, als sie aus der Vollkommenheit von
Organen die Weisheit Gottes erwies und aus dem Maule der Heuschrecken
seinen großen Verstand und seine Güte. Ob man aber nicht nach weiteren 200
Jahren ebenso darüber lächeln wird, daß Sie, Herr Professor drei Jahre
Ihres Lebens darauf verwandten, festzustellen, ob sich eine bestimmte
Fettart mit Osmium oder Nilblau färbt?
P r o f e s s o r :
Ich habe nicht die geringste Absicht, mich mit Ihnen über Allgemeinheiten
zu unterhalten. Sie wollen diese Arbeit nicht machen. Gut, dann gebe ich
Ihnen eine andere.
R ö n n e :
Weder werde ich beschreiben, ob bei dem Senker in das Fruchtland von Frau
Schmidt die Dünndarmschlingen im 6. oder 8. Monat durch den bewußten Spalt
getreten sind, noch wie hoch bei einer Wasserleiche gegen Morgen das
Zwerchfell stand. Erfahrungen sammeln, systematisieren - subalternste
Gehirntätigkeiten! - Seit hundert Jahre verblöden sie diese Länder und
haben es vermocht, daß jeder Art von Pöbel die Schnauze vor Ehrfurcht
stillsteht vor dem größten Bettpisser, wenn er nur mit einem Brutschrank
umzugehen weiß; aber sie haben es nicht vermocht, auch nur das Atom eines
Gedankens aufzubringen, der außerhalb der Banalität stände! Einen aus dem
anderen kebsen; möglichst nah am Nabel bleiben und den Mutterkuchen nicht
verleugnen - das sind Ihre Gedanken; - Maulwurfspack und Affenstirnen -
eine Herde zum Speien!
L u t z :
Denn was schaffen Sie eigentlich? Hin und wieder buddeln Sie eine
sogenannte Tatsache ans Licht. Zunächst hat es ein Kollege vor zehn Jahren
bereits entdeckt; aber nicht veröffentlicht. Nach fünfzehn Jahren ist
alles beides Blech. Was wissen Sie eigentlich? Daß die Regenwürmer nicht
mit Messer und Gabel fressen und die Farrenkräuter keine Gesäßschwielen
haben. Das sind Ihre Errungenschaften. Wissen Sie sonst noch was?
P r o f e s s o r :
Zunächst ist es gänzlich unter meiner Würde, auf diesen Ton zu antworten.
L u t z :
Würde? Wer sind Sie? Antworten sollen Sie. Los!
P r o f e s s o r :
Ich will mich dem Rahmen einfügen. Gut. Also, meine Herren, Sie sprechen
wegwerfend von Theorien, meinetwegen. Aber in einem Fach mit so eminent
praktischen Tendenzen: Serum und Salvarsan sind doch keine Spekulation?
L u t z :
Wollen Sie vielleicht behaupten, Sie arbeiten deswegen, damit Frau Meier
zwei Monate länger auf den Markt gehen kann und damit der Chauffeur Krause
zwei Monate länger sein Auto fährt? Außerdem - kleinen Leuten den Tod
bekämpfen, wen's reizt - - - Und um es gleich zu sagen, Herr Professor,
kommen Sie nun nicht mit dem Kausaltrieb. Es gibt ganze Völker, die liegen
im Sand und pfeifen auf Bambusrohr.
P r o f e s s o r :
Und die Menschlichkeit? Einer Mutter das Kind erhalten, einer Familie den
Ernährer? die Dankbarkeit, die in den Augen aufblinkt --
R ö n n e :
Lassen Sie's aufblinken, Herr Professor! Kindersterben und jede Art
Verrecken gehört ins Dasein, wie der Winter ins Jahr. Banalisieren wir das
Leben nicht.
L u t z :
Außerdem interessieren uns diese praktischen Gesichtspunkte nur ganz
oberflächlich. Worauf wir aber eine Antwort erwarten, ist dies: woher
nehmen Sie den Mut, die Jugend in eine Wissenschaft einzufahren, von der
Sie wissen, ihre Erkenntnismöglichkeit schließt mit dem Ignorabimus? Weil
es zufällig Ihrer Klabusterbeere von Gehirn genügt, in der Zeit, wo Sie
sich nicht fortpflanzen, Statistik über Kotsteine zu betreiben? Mit was
für Gehirnen rechnen Sie?
P r o f e s s o r :
........
R ö n n e :
........ ich weiß! Ich weiß! Feldherrntum des Intellekts! Jahrtausend aus
Optik und Chemie! Ich weiß, ich weiß: weil die Farbenblinden in der
Minderzahl sind, haben Sie auch eine Erkenntnis. Aber ich sage Ihnen,
wagen Sie es, noch ein einziges Mal Ihre Stimme zu erheben zu den alten
Lügen, an denen ich mich krank gefressen habe: mit diesen meinen Händen
würge ich Sie ab. Ich habe den ganzen Kosmos mit meinem Schädel zerkaut!
Ich habe gedacht, bis mir der Speichel floß. Ich war logisch bis zum
Koterbrechen. Und als sich der Nebel verzogen hatte, was war dann alles?
Worte und das Gehirn. Worte und das Gehirn. Immer und immer nichts als
dies furchtbare, dies ewige Gehirn. An dies Kreuz geschlagen. In dieser
Blutschande. In dieser Notzucht gegen die Dinge -, o, wenn Sie mein Dasein
kennten, diese Qualen, dieses furchtbare am-Ende-sein, von den Tieren an
Gott verraten und Tier und Gott zerdacht und wieder ausgespieen, ein
Zufall in den Nebeln dieses Landes -- ich sage ihnen, Sie würden still und
ohne Aufhebens abtreten und froh sein, wenn Sie nicht zur Rechenschaft
gezogen werden Gehirnverletzung.
P r o f e s s o r :
Herr Kollege, es tut mir unendlich leid, wenn Sie sich nicht wohlfühlen.
Aber, wenn Sie degeneriert, neurasthenisch oder was weiß ich, an
mittelalterlichen Bedürfnissen zu zugrunde gehn - was hat das mit mir zu
tun? Was ereifern Sie sich gegen mich? Wenn Sie zu schwächlich sind für
den Weg zur neuen Erkenntnis, den wir gehen, bleiben Sie doch zurück.
Schließen Sie die Anatomien. Betreiben Sie Mystik. Berechnen Sie den Sitz
der Seele aus Formeln und Korollarien; aber lassen Sie uns ungeschoren.
Wir stehen über die Welt verteilt: ein Heer: Köpfe, die beherrschen,
Hirne, die erobern. Was aus dem Stein die Axt schnitt, was das Feuer
hütete, was Kant gebar, was die Maschinen baute - das ist in unserer Hut.
Unendlichkeiten öffnen sich.
R ö n n e :
Unendlichkeiten öffnen sich: eine mächtige Großhirnrinde übergestülpt
trottet etwas dahin; Finger stehen wie Zirkel Gebisse sind umgewachsen zu
Rechenmaschinen - o man wird ein Darm werden mit einem Kolben oben, der
Systeme absondert. . . . Perspektiven! Perspektiven! Unendlichkeit öffnen
sich! -
Aber wegen meiner hätten wir Quallen bleiben können. Ich lege auf die
ganze Entwicklungsgeschichte keinen Wert. Das Gehirn ist ein Irrweg. Ein
Bluff für den Mittelstand. man aufrecht geht oder senkrecht schwimmt, das
ist alles nur Gewohnheitssache. - Alle meine Zusammenhänge es mir
zerdacht. Der Kosmos rauscht vorüber. Ich sie am Ufer: grau, steil, tot.
Meine Zweige hängen noch in ein Wasser, das fließt; aber sie sehen nur
nach Innen, in das Abendwerden ihres Blutes, in das Erkaltende ihrer
Glieder. Ich bin abgesondert und ich. Ich rühre mich nicht mehr.
Wohin? Wohin? Wozu der lange Weg? Um was soll man sich versammeln? Da ich
einen Augenblick nicht dachte, fielen mir nicht die Glieder ab?
Es assoziiert sich etwas in einem. Es geht etwas in einem vor. Ich fühle
nur noch das Gehirn. Es liegt wie eine Flechte in meinem Schädel. Es
erregt mir eine von oben ausgehende Übelkeit. Es liegt überall auf dem
Sprung: gelb, gelb: Gehirn, Gehirn. Es hängt mir zwischen die Beine
herunter.... ich fühle deutlich, wie es mir an die Köchel schlägt -
runterkratzen ...
O so möchte ich wieder werden: Wiese, Sand, blumendurchwachsen, eine weite
Flur. In lauen und in kühlen Wellen trägt einem die Erde alles zu. Keine
Stirne mehr. Man wird gelebt.
K a u t s k i :
Aber sehen Sie um unsere Glieder das Morgenrot? Aus der Ewigkeit, aus dein
Aufgang der Welt? Ein Jahrhundert ist zu Ende. Eine Krankheit ist
gebrochen. Eine dunkle Fahrt, die Segel keuchten; nun singt die Heimat
über das Meer. Was Sie vertrieben hat, wer will es sagen? Fluch,
Sündenfall, irgendwas. Jahrtausende waren es ja auch nur Anläufe.
Jahrtausende blieb es ja auch latent. Aber darin, vor hundert Jahren kam
es plötzlich zum Ausbruch und schlug wie eine Seuche über die Welt, bis
nichts mehr übrig blieb als das große fressende herrschsüchtige Tier: der
erkennende Mensch; der reckte sich von Himmel zu Himmel und aus seiner
Stirne spielte er die Welt. Aber wir sind älter. Wir sind das Blut; aus
den warmen Meeren, den Müttern, die das Leben gaben. Sie sind ein kleiner
Gang vom Meer, Kommen Sie beim. Ich rufe Sie.
R ö n n e :
Was sagen Sie? Das Blut ... ? Das Meer ... ? Das Blut ist warm. Die Meere
waren warm, das habe ich auch hört. Dann wäre es zu heilen, wenn sie
zurück an die Meere gingen?
P r o f e s s o r :
Lassen Sie sich von Rönne nicht irre machen. Er ist durch Denken ohne
ernste, zielgerichtete Arbeit etwas zermürbt.
R ö n n e :
Es wird solche Opfer geben müssen auf unserem Weg.
R ö n n e :
Es hat das mittelländische Meer gegeben; vor unvordenklichen Zeiten; aber
es gibt es immer noch. Vielleicht war das das Menschlichste, das es
gegeben hat? Meinten Sie das?.....
P r o f e s s o r (fortfahrend):
Aber meine Herren, alle diese merkwürdigen Bedürfnisse und Gefühle und
auch das, von dem Sie sprachen: Mythos und Erkenntnis, wäre es nicht
möglich, daß es alte Schwären unseres Blutes sind, von alten Zeiten her,
die sich abstoßen werden im Laufe der Entwicklung, wie wir das dritte Auge
nicht mehr haben, das nach hinten sah, ob Feinde kämen. Die hundert Jahre,
die es Naturwissenschaften und auch ihnen Technik gibt, wie hat sich alles
Leben doch verändert. Wieviel Geist ist der Spekulation, dem
Transzendentale untreu geworden und richtet sich noch auf die Formung des
Materiellen, um neuen Bedürfnissen einer sich erneuernden Seele gerecht zu
werden! Könnte man nicht bereits von einem homo faber sprechen, statt von
einem homo sapiens wie bisher? Sollten sich nicht vielleicht im Laufe der
Zeit all spekulativ-transzendentalen Bedürfnisse läutern und klären und
still werden in der Arbeit um die Formung des Irdischen? Ließe sich nicht
von diesem Gesichtspunkte aus die naturwissenschaftliche Forschung und das
Lehren des Wissens rechtfertigen?
K a u t s k i :
Wenn Sie eine Gilde von Klempnern heranbilden wollen: ja. Aber es gab ein
Land: taubenumflattert; Marmorschauer von Meer zu Meer; Traum und Rausch -
R ö n n e :
... Gehirne: kleine, runde; matt und weiß. Sonne, rosenschößig, und die
Haine blau durchrauscht.
Blühend und weich die Stirn. Entspannt an Strände. In Oleander die Ufer
hoch, in weiche Buchten süß vergangen . . . - Das Blut, als bräche es auf.
Die Schläfen, als erhoffte sie.
Die Stirn, ein Rinnen wie von flüggen Wassern. O es rauscht wie eine Taube
an mein Herz: lacht lacht - Ithaka! - Ithaka! . . .
O, bleibe! Bleibe! Gib mich noch nicht zurück! O welch ein Schreiten, so
heimgefunden, im Blütenfall aller Welten, süß und schwer ...
Ich will dir eine Tat tun, bleibe, bleibe! O, was ist Kerker und was ist
Tod. Rausch, Rausch ist stärker als der Tod.
P r o f e s s o r :
Aber meine Herren, was haben Sie denn vor? Ich will Ihn ja gerne
entgegenkommen. Ich versichere Ihnen, ich werde in Zukunft in meinen
Kollegs immer darauf hinweisen, da wir die letzte Weisheit hier nicht
lehren können, daß daneben philosophische Kollegs zu hören seien. Ich
werde das Fragwürdige unseres Wissens durchaus zum Ausdruck bringen ...
(schreiend) Meine Herren, hören Sie! Wir sind doch schließlich
Naturwissenschaftler, wir denken nüchtern. Was wollen wir uns in
Situationen begeben, denen - sagen wir die heutige Gesellschaftsordnung
nicht gewachsen ist ... sind doch Ärzte, wir übertreiben doch die
Gesinnung nicht. Niemand wird erfahren, was hier geschah! Hilfe! Hilfe?
L u t z (ergreift ihn ebenfalls):
Mord! Mord! Schaufeln her! Aufs Feld den Modder. Von unserer Stirne sollen
Geißeln gehn in dies Gezücht! -
P r o f e s s o r (gurgelnd):
Ihr grünen jungen! Ihr trübes Morgenrot! Ihr werdet verbluten und der Mob
feiert über euerm Blut ein Frühstück mit Prost und Vivat! Erst tretet den
Norden ein! Hier s die Logik! überall der Abgrund. - Ignorabimus!
Ignorabimus!
L u t z :
(ihn mit der Stirn hin und her schlagend):
Ignorabimus! Das für Ignorabimus! Du hast nicht tief genug geforscht.
Forsche tiefer, wenn Du uns lehren willst! Wir sind die Jugend. Unser Blut
schreit nach Himmel und Erde und nicht nach Zellen und Gewürm. Ja, wir
treten den Norden ein. Schon schwillt der Süden die Hügel hoch. Seele,
klaftere die Flügel weit; ja, Seele! Seele! Wir wollen den Traum. Wir
wollen den Rausch. Wir rufen Dionysos und Ithaka! -
(Gottfried Benn: »Ithaka«. In: "Szenen und Schriften in der Fassung der
Erstdrucke". Hg. v. Bruno Hillebrand. Franfurt (Main) 1990, S. 21-28.
»Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke«, Bd. 4.)