Onkel Max schreibt:
IchBinDerWahreMessias
«Schliesslich war, ein Traum, der wahr geworden ist, das Buch entstanden, das ich bin. Das ich immer schreiben wollte, von dem ich immer dachte, wie könnte es gelingen, das einfach festzuhalten, wie ich denke, lebe, schreibe» – schreibt Rainald Goetz im Klappentext von «Abfall für Alle», seinem Internet-Tagebuch das jetzt auch als knallroter, fast 900-seitiger Ziegelstein vorliegt. Doch nicht, wie angekündigt als CD-Rom was zwar konsequenter gewesen wäre, aber sicher nicht so eindrücklich die Hand beschwert. Ein Jahr lang, von Februar 1998 bis Januar 1999, war Goetz online gegangen. Hatte mitgeschrieben und Tag für Tag in den Rechner getippt, was in ihm und um ihn herum los war. Ein Text wuchs heran, dessen Reiz im Prozessualen und Flüchtigen lag, der heute noch nicht wusste, was morgen kommt und die Leserschaft vor unvollendete Tatsachen stellte. Der die Schlüssellochperspektive zuliess und doch Distanz wahrte. Der surfende Leser konnte zwar zwischen den Tagen hin und her springen, mit dem Autor interagieren konnte er nicht. Das war auch nicht Sinn der Sache. Goetz hatte ein neues Medium erschlossen, das Literatur praktisch in Echtzeit ermöglichte.
Herausgekommen ist am Ende ein «Roman eines Jahres», der mit einem Roman im eigentlichen Sinne natürlich wenig gemein hat. Der Held in diesem Buch heisst Goetz, und die Handlung ist sein Leben, was sonst. Der Stoff muss echt sein, so echt wie die Rasierklinge, die durch die Stirn schneidet. Daran hat sich seit seiner blutigen Lesung 1983 in Klagenfurt nichts geändert. Wer, wie er, das Schreiben als «Kollision von Welt und Ich» begreift, der hat nur ein Thema: Zeugnis und Rechenschaft ablegen, vor sich und der Welt. Deshalb schreibt er mit, wo er geht und steht, obsessiv bis zur Manie: Gedachtes, Gesehenes, Gefernsehtes, Telefongespräche, das Wetter, Träume, alles. Sein berüchtigter Notizblock ist der Wirklichkeitsrekorder, der das Jetzt einfängt, ehe es für immer und unwiederbringlich ins Gewesene, den Tod abtaucht. «Die Zeit. Nichts als ein Durchgangsaugenblick. Die geschehen zu lassen, zuzuschauen, was da passiert, durch die, wenn sie passiert, wenn sie da ist, da, da, da. Der Zeit der Ort zu sein, ganz einfach.»
Dementsprechend zerrissen, fahrig muss ein Text sein, der sich gegen diesen Vergänglichkeitssog stemmt. «Abfall für Alle» hat keine Form, ausser die der Gliederung durch das Datum, die Uhrzeit. Der, der da spricht, ist mal kurz angebunden und lapidar («Sonntag. Ruhetag»), mal redet er unkontrolliert drauflos, seitenlang. Er spricht mit sich, mit der Maschine und manchmal auch direkt zu den LeserInnen. Er berichtet vom Alltag eines Schreiberlebens, von der HaraldSchmidt-Show von Büchern, die er gerade liest und immer wieder von den Wirren des Schreibens. Er kocht Suppe, kauft Blumen, staubsaugert, liest sich durch Zeitungsgebirge, hadert mit sich und seinen Projekten, und wenn gar nichts mehr geht, duscht er warm, so wie andere eine Zigarette rauchen. Wenns sein muss, dreimal am Tag.
«Alles geht mich an», schrieb Goetz 1986 in «Hirn», und das heisst, es gibt zu allem was zu sagen. Zu Schröder, Luhmann oder Schlingensief, zur ganzen öffentlichen Rede, dessen Teil sein Tagebuch bald war. Als Reflexionsbaustelle, als Ort der Kritik und der Theorie. Ja, oft war «Abfall für Alle» spannender als jedes Zeitungsfeuilleton. Das hatte die Webseite dem Buch voraus, dieses Wachsen, die Spannung, was Goetz heute zu dem und dem, was gestern war, zu melden hatte. Ob aus Berlin, München oder Tokio. Der Text ist das, was vom Tage übrig bleibt, was von ihm abfällt: das Protokoll der Praxis. Und er ist Abfall, weil er vom Werden und Verwerfen von Ideen erzählt, die sich wiederum in anderen Projekten kondensierten («Rave», «Celebration», «Jeff Koons» und «Praxis», seine Poetik-Vorlesung die er im Frühjahr 1998 in Frankfurt hielt). Abfall auch, weil hier jemand Text am laufenden Band raushaute, mit Tippfehlern und ohne Gewähr, dass nicht morgen schon wieder alles ganz anders ausschaut. Zum Umschauen blieb keine Zeit, und Feinschliff war nicht gefragt: «Man setzt sich ja auch in einen Mercedes rein und fährt los und fühlt sich gut. Und nur der Depp denkt: toll verarbeitet.»
Sei es beim «urteilsmässigen Rumholzen» im Debattenwald oder der minuziösen, manchmal medizinisch-präzisen Beschreibung des Erlebten – «Abfall für Alle» zeigt Rainald Goetz bei dem, was er am besten kann: mit leuchtenden Augen die eigene Geschichte erzählen, die immer auch Befund am Hier und Jetzt ist.
aus der Literaturbeilage vom 7. Oktober 1999
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