16.09.2010
Argentinien 1982: Die bis dahin größten Proteste gegen die Militärdiktatur wurden niedergeschlagen. (Bild: AP) Die Last der Vergangenheit
Die argentinische Militärdiktatur in den Werken vier junger Autoren
Von Eva Karnofsky
Argentinien ist Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, und deutschsprachige Verlage haben zu diesem Anlass eine Fülle argentinischer Romane und Erzählungen übersetzt. Es sind auffallend viele Titel junger Autoren darunter. Und es fällt auf, dass Argentiniens Schriftsteller gleich welcher Generation besonders häufig ein Thema aufgreifen: die Militärdiktatur von 1976 bis 1983.
Nach der Wirtschaftskrise von 2001 nahm Argentiniens seit dem Ende der Diktatur 1983 ohnehin schon lebendige Literaturszene noch einmal einen deutlichen Aufschwung. Nach der Abwertung der Währung 2002 wurde es billiger, Bücher zu drucken, und so entstanden zahlreiche kleine Verlage, die vor allem jungen Autoren eine Chance geben. Damián Tabarovsky war bis vor Kurzem für einen solchen kleinen Verlag tätig und arbeitet jetzt als Literaturkritiker für die Tageszeitung »Perfil«. Er beschreibt das Schaffen der jungen Autoren:
»Sie greifen die verschiedensten Themen auf, ich kann sie nicht alle aufzählen, aber ich würde sagen, es gibt einige Besonderheiten, mit deren Beschreibung man ihrer Literatur nahekommen kann. Sie sind zunächst einmal von der digitalen Kultur, den Blogs, der Massenkultur beeinflusst, ihre Sätze sind kurz und schnell. Und ihnen sind negative Vorurteile fremd, das gilt für viele der jungen Autoren, ganz gleich, welches Thema sie bearbeiten. Außerdem ist bei ihnen ein gewisser Einfluss zeitgenössischer argentinischer Autoren wie César Aira, Rodolfo Enrique Fogwill und Juan José Saer sowie der audiovisuellen Medien zu spüren. Und aus dieser Mischung entsteht etwas Neues.«
Ein Thema wird von etlichen der heute 30- bis Anfang 40-jährigen argentinischen Schriftsteller bearbeitet: die Militärdiktatur, die das Land von 1976 bis 1983 brutal unterdrückt hatte. Die Motive der jungen Autoren, sich mit der siebenjährigen Militärherrschaft zu beschäftigen, sind die gleichen, die bereits die Schriftsteller zum Schreiben antrieben, die die Diktatur im Erwachsenenalter erlebt haben: Sie sind persönlich betroffen wie Laura Alcoba oder Félix Bruzzone oder sie wollen sich wie Eugenia Almeida gegen das Vergessen wenden. Und Martín Kohan weist mit literarischen Mitteln nach, wie sich die Diktatur des Denkens und des täglichen Lebens der Menschen bemächtigte. Nur îst die Perspektive dieser jungen Autoren eine ganz andere, denn sie waren damals Kinder. Literaturkritiker Tabarovsky:
»Sie erzählen nicht mehr wie ihre Eltern über ihre Erfahrungen als politische Aktivisten oder als Exilanten, sie gehen von ihren eigenen biographischen Erfahrungen aus, die völlig anders aussehen. Mir scheint, dass diese Generation versucht zu verstehen, was damals passiert ist, und sie geht auch auf Distanz zur Generation ihrer Eltern, um deren Fehler nicht zu wiederholen.«
Letzteres gilt vor allem für Félix Bruzzone und Laura Alcoba, deren Eltern Ende der Sechzigerjahre gegründeten Guerillagruppen angehörten, die für einen sozialistischen Staat kämpften. Mit ihren Gewaltakten lieferten sie dem Militär ein Alibi, 1976 die verfassungsmäßige Präsidentin aus dem Amt zu jagen und ein Terrorregime zu errichten. Deshalb sind Bruzzones und Alcobas Texte ein Schrei gegen jegliche Gewalt - ob von rechts oder links. Laura Alcoba musste seit 1975, da war sie sieben, für über zwei Jahre im Untergrund leben. Ihre Eltern waren bei den Montoneros engagiert. Viele Montoneros zählten zu den 30.000 Verschwundenen des Staatsterrors, und einigen gelang, wie Laura Alcobas Mutter, die Flucht ins Exil. Laura Alcobas erster autobiographischer Roman »Das Kaninchenhaus« erzählt vom Leben im Untergrund nach der Verhaftung ihres Vaters und endet mit der Flucht nach Paris. Im Kaninchenhaus war, als Kaninchenzucht getarnt, eine Druckerei der Montoneros versteckt, in der Lauras Mutter lebte und arbeitete. Das Kind hielt sich derweil in der Küche auf, ging zur Schule, war dabei, wenn die Mutter mit ihren Genossen ihre revolutionären Druckerzeugnisse verteilte. Und es hörte, wie sich die Erwachsenen über Folter und Tod unterhielten.
»Ich bin schon groß. Zwar erst sieben, aber alle sagen, dass ich wie eine Erwachsene spreche und argumentiere. Es bringt sie zum Lachen, dass ich den Namen von Firmenich weiß, dem Chef der Montoneros, und sogar Marschparolen auswendig weiß. Mir hat man alles erklärt. Ich habe verstanden und werde gehorchen. Ich werde nichts sagen. Selbst wenn man mir weh tut. Selbst wenn man mir den Arm umdreht oder mich mit einem Bügeleisen verbrennt. Selbst wenn man mir kleine Nägel ins Knie schlägt. Ich habe verstanden, wie wichtig es ist, zu schweigen.«
Laura Alcoba schreibt aus der Sicht eines Kindes, ihre grammatischen Konstruktionen und ihre Wortwahl sind einfach, aber immer wieder benutzt sie Vokabeln wie »Marschparolen«, die eine Siebenjährige normalerweise nicht benutzt. Die Sprache eines kleinen Mädchens, das man zwingt, sich wie eine Erwachsene zu verhalten, ist Alcoba gut gelungen, und sie macht das nur 119 Seiten starke Buch so ergreifend. Auch wenn es, wie Alcoba sagt, nicht ihr Ziel war, erweckt sie doch beim Leser Unverständnis für die Mutter, ja Wut auf sie und ihre Guerilla, die einer Siebenjährigen die Kindheit stahlen. Alcoba schrieb den Roman, nachdem sie 2003 das Kaninchenhaus zum ersten Mal wieder besuchte hatte.
»Ich habe das Buch aus meiner subjektiven Sicht geschrieben, aus meiner kindlichen Erfahrung heraus, mit allen Verfälschungen, die das haben kann. Ich weiß, dass einige Details durch meine Erinnerung deformiert sind, aber diese Details sind nicht wichtig. Der Rohstoff des Romans sind die Bilder, die mir mit voller Wucht wieder in den Sinn kamen, als ich das Kaninchenhaus erneut aufsuchte. Deshalb schrieb ich im Präsens, weil ich plötzlich dieses Mädchen wiedergesehen hatte, das ich damals war.«
Als Laura Alcoba zu schreiben begann, stand sie zudem unter dem Eindruck, dass eine Freundin der Mutter sie beide bis dato für tot gehalten hatte, da das Kaninchenhaus kurz nach der Flucht der Alcobas nach Frankreich von der Armee bombardiert worden war:
»Das war es, was mich immer beschäftigt hat: Wir hätten tot sein müssen. Und das war für mich der Grund, das Buch zu schreiben, mir dies wieder ins Gedächtnis zu rufen, und vielleicht zu verstehen, warum wir nicht tot waren.«
Alcoba schrieb ihr Buch auf Französisch, das ihr im Exil zur zweiten Muttersprache geworden ist:
»Es hat mich befreit, auf Französisch zu schreiben. Ich glaube, auf Spanisch hätte ich das Gewicht des Ganzen, die Vergangenheit, die auf mir lastete, viel mehr gespürt. All die Bilder, die mir wieder ins Gedächtnis kamen, als durchlebte ich alles noch einmal, hätten mich erstickt.«
Auch die Eltern von Félix Bruzzone waren Guerilleros. Sie gehörten der linken Revolutionären Volksarmee an. Bruzzones Vater verschwand drei Monate vor seiner Geburt, seine Mutter drei Monate danach, und bis heute ist über die Umstände ihres Todes wenig bekannt. Bruzzones Debüt, ein Band mit Erzählungen, trägt den knappen Titel »76«. 1976 wurde er geboren und verlor seine Eltern, und es war das Jahr des Militärputsches. Seit seinem zwölften Lebensjahr sucht Bruzzone nach Spuren der Eltern. Den Protagonisten seiner acht Erzählungen ist eines gemein: Sie alle sind wie der Autor selbst Kinder Verschwundener, und in jede der fiktiven Geschichten webt er autobiographische Elemente ein. So in die Geschichte von Mota, der sich für sein Geschäft einen alten Unimog kauft, weil sein Vater als Guerillero ein solches Fahrzeug gefahren hat:
»In dieser Zeit brachte Mota den Wagen wieder mit seinem Vater in Verbindung. Alles, was er über dessen >Verschwinden< hatte herausfinden können, führte ihn nach Córdoba. Man hatte ihm von der Revolutionären Volksarmee erzählt, der Gruppe >Entschlossen für Córdoba<, dem Überfall auf das Kommando, dem Untergrund, der Straßenkreuzung, an der er entführt wurde.«
Mota macht sich mit dem Wagen auf den Weg nach Córdoba, um nach Spuren des Vaters zu suchen. Félix Bruzzone:
»An der Geschichte über den Unimog ist real, dass mein Vater tatsächlich mit achtzehn Jahren als Wehrpflichtiger in Córdoba war und gleichzeitig in der Revolutionären Volksarmee kämpfte. Seine Aufgabe war es, das Armeeregiment der Guerilla zu übergeben. Sie stahlen die Waffen und transportierten sie in einem Unimog. Aber ich selbst habe mir nie einen Unimog gekauft.«
Auch wenn Bruzzone von der Frau erzählt, die, noch zu Zeiten der Diktatur, niemandem sagen will, dass ihre Tochter verschwunden ist und behauptet, sie lebe in Uruguay, hat dies biographische Elemente: Bruzzone erfuhr erst nach der Diktatur, als es ungefährlich wurde, über dieses Thema zu sprechen, vom wahren Schicksal seiner Eltern.
Einige Personen tauchen in mehreren Geschichten auf, in unterschiedlichen Lebensumständen, und auf manche Ereignisse geht Bruzzone aus verschiedenen Perspektiven ein. Für Bruzzone ist dies eine Form, nach der Wahrheit zu suchen:
»Ich frage mich, was passiert, wenn ich das Gleiche auf andere Weise erzähle. Was passiert dann? Ich glaube, die Literatur kann die Wahrheit auf andere Art ans Licht bringen, über die Fiktion. Mir scheint, dass das möglich ist, auch dann, wenn man die gleiche Geschichte immer wieder erzählt.«
In der Erzählung 2073 schreibt er erneut über den Überfall auf das Armeeregiment in Córdoba:
»Und Miguel kam dann doch wieder auf Papa zu sprechen, auf den Sturm auf das Bataillon 141 vor hundert Jahren, die Verräter, alle die dabei umkamen, und die anderen, die eigentlich mit ihrem Leben hätten bezahlen müssen, und wir kamen überein, jetzt sei es an der Zeit, etwas zu unternehmen, und ich sagte: Na los.«
In 2073 geht es um Rache, nach hundert Jahren, wobei Bruzzone Science-Fiction- und Comic-Elemente einsetzt. Denn auch stilistisch experimentiert der Autor. Er bedient sich mal der Ich-Form, und mal eines allwissenden Erzählers, mal erzählt er realistisch, dann wieder hebt er ins Fantastische ab. Mal zeigt er sich detailverliebt, um in anderen Geschichten dem Leser nur das Nötigste mitzuteilen. Literaturkritiker Damían Tabarovsky:
»Laura Alcoba vertritt eine mehr konventionelle, traditionelle Art des Schreibens, wie man sie in Argentinien in den letzten zwanzig, dreißig Jahren gewöhnt war, Bruzzone ist, wenn man so will, eher ein Erneuerer.«
Während Alcoba vor allem emotional anrührt, regt Bruzzone dazu an, die Ereignisse von damals und ihre gesellschaftlichen Folgen rational zu überdenken, weil er sie aus größerer Distanz betrachtet.
Eugenia Almeida siedelt ihren Roman »Der Bus« in einem fiktiven Dorf ihrer Heimatprovinz Córdoba an, in dem der Überlandbus, die einzige Verbindung zur Außenwelt, seit Tagen nicht mehr hält. So bleibt den Besuchern, ein Geschäftsreisender, der von einer Frau begleitet wird, nichts anderes übrig, als im Dorf zu warten. Dort schießen die Spekulationen ins Kraut, weshalb der Bus nicht mehr hält, und man vermutet bald, dass es sich um eine Operation des Militärs handeln könnte. Schnell richtet sich der Verdacht gegen die beiden Besucher.
»Gómez, was wissen Sie von Rimoldi?«
»Dem neuen Handelsvertreter? Ich weiß nichts. Sollte der nicht heute kommen?«
»Ja, aber er kam nicht und hat auch nicht Bescheid gegeben.«
»Müssen Sie was erledigen?«
»Nein, deswegen nicht. Egal.«
Rubén wischt die Theke ab, und Schweigen breitet sich aus. Die Männer wissen nicht, ob sie sprechen sollen oder nicht.
»Haben Sie etwas über den Bus erfahren?«
»Nein, ich habe die beiden da oben, die wie verrückt fluchen. Sie drohen damit, das Hotel anzuzünden, wenn sie heute nicht wegkommen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, die meinen das nicht ernst. Er ist doch Geschäftsreisender ...«
Irgendwann macht sich das Paar zu Fuß zum nächsten Ort auf, und es kommt zur Katastrophe.
Eugenia Almeidas Roman, der vor allem von Dialogen lebt, variiert Jean Paul Sartres Drama »Geschlossene Gesellschaft« und dessen These, dass die Hölle die anderen sind. Doch »Der Bus« erinnert auch an »Das Autogramm«, Osvaldo Sorianos 1979 vollendeten Roman, der ebenfalls schildert, wie sich unter der Diktatur das dörfliche Leben verändert, Misstrauen und Hass die Oberhand gewinnen und sich gegen Außenseiter und Fremde richten. Der Bus wirkt blutleer im Vergleich zum Roman des brillanten Zeitzeugen Soriano. Damián Tabarovsky:
»Almeidas Projekt scheint mir am meisten der Literatur der Generation der 60er- und 70er-Jahre geschuldet. Und es sieht die Diktatur mit der geringsten Distanz.«
In einem Brief erläutert Eugenia Almeida, sie habe kein Buch über die Diktatur geplant gehabt, doch nachdem sie angefangen hatte zu schreiben, habe sie festgestellt, dass es sie in das Jahr 1977 trieb:
»Ich bin 38 Jahre alt und lebe in Argentinien. Das heißt, dass mich die Diktatur bis auf die Knochen durchdrungen hat, denn sie hat die Gesellschaft geprägt, in der ich lebe. Es ist unmöglich, sich nicht persönlich betroffen zu fühlen.«
Martín Kohan war neun Jahre alt, als das Militär putschte. Sein Roman »Sittenlehre« führt an das berühmte staatliche Elitegymnasium Colegio Nacional de Buenos Aires, das schon die Gründerväter besucht haben und zu den Mythen der argentinischen Nation zählt. Wir schreiben das Jahr 1982, der Falklandkrieg hat gerade begonnen. Ein allwissender Erzähler begleitet die junge Aufseherin María Teresa, deren Aufgabe es ist, für Disziplin zu sorgen. Während ihr Bruder an der Front kämpft und in der Stadt die erste Demonstration gegen die Diktatur vorbereitet wird, überprüft María Teresa davon unbeeindruckt die Kleiderordnung:
»Seine Strümpfe sind blau, das schon, so wie es sich gehört, aber sie sind nicht aus Nylon, sondern aus Frottee, es handelt sich um Tennisstrümpfe, die Marke ist an der Gestalt eines kleinen aufrecht stehenden Pinguins darauf zu erkennen. María Teresa belässt es bei einer Ermahnung, einen Verweis erteilt sie Calcagno nicht, sie macht allerdings einen Eintrag ins Klassenheft und weist ihn darauf hin, dass sie am nächsten Tag nachprüfen wird, ober er die vorschriftsmäßigen Strümpfe trägt.«
Martín Kohan, der selbst zur damaligen Zeit das Colegio Nacional besucht hat, legt Wert darauf, dass sein Roman nicht autobiographisch ist, und er sich auch nicht in der Tradition der Autoren sieht, die dokumentarische oder moralische Interessen verfolgen:
»Ich fand es literarisch interessanter, die Art und Weise herauszuarbeiten, wie die Repression, die Angst, die Kontrolle und die Disziplin nicht in ihrer extremen Form der Folter oder des Mordes angewandt wurden, sondern wie sie scheinbar völlig normal das tägliche Leben, den Alltag ganz gewöhnlicher Bürger beeinflussten.«
María Teresa ist förmlich davon besessen, ihre Pflicht zu erfüllen, und ihr Übereifer bringt sie dazu, sich auf der Suche nach heimlichen Rauchern verbotenerweise auf der Herrentoilette einzuschließen, um mögliche Übeltäter auf frischer Tat zu ertappen.
»Mehrere Tage lang geschieht bei ihren Toilettenwachen nichts Neues. Es ist interessant, zu sehen, welchen Einfluss die Gewöhnung auf sämtliche Aspekte des Lebens hat: Früher oder später macht sie sich wirklich alles zu eigen. Wie immer kommen die Schüler auf die Toilette, pinkeln oder erledigen ein größeres Geschäft, manchmal spucken sie auch ins Waschbecken, waschen sich das Gesicht, die Hände, kämmen sich - oder bringen vor dem Spiegel absichtlich ihre Frisur durcheinander - und gehen dann wieder hinaus. Was sie nicht machen, ist rauchen.«
Mittels schwarzem Humor stellt Kohan den Mythos der Eliteschule sowie übertriebene Disziplin und Gehorsam in Frage, und nicht nur während der Diktatur:
»Besonders ernste Formen des Systems der disziplinarischen Kontrolle, der Förmlichkeit des nationalistischen Diskurses, der sich gerade aufgrund seiner großen Förmlichkeit am Rande der Parodie bewegt, erlauben sehr wohl einen kritischen, zersetzenden Blick mittels der Komik. Darüber kann man sich sehr wohl lustig machen.«
Folter und Mord dagegen, so Kohan, entziehen sich dem Humor.
María Teresa wird schließlich vom Oberaufseher entdeckt. Der nützt ihren Regelverstoß für den vermeintlich guten Zweck aus und vergewaltigt sie. Doch nicht einmal das bringt die junge Frau dazu, das System zu hinterfragen.
»Sittenlehre« zeichnet sich durch besondere sprachliche Präzision aus. Peinlich genau werden die Beobachtungen der Aufseherin in Worte gekleidet, und Kohan findet sich konsequent in die Gedanken und die Sprache einer Frau aus dem Kleinbürgertum ein:
»Nur, wenn es mir gelang, diese Figur entsprechend zu formen, ihre Welt schlüssig aufzubauen und die für sie adäquate Sprache zu finden, konnte der Roman politisch werden, einen doppelten Sinn erhalten. Die Welt wird von jemandem erzählt, der sie nicht versteht. Und ich glaube, es ist genau dieses Nichtverstehen, das eine politische Wahrheit enthüllt. Der Leser versteht, aber die Figur begreift nicht. Die Idee, dass der Leser mehr versteht als die Protagonistin selbst, hat mich besonders gereizt.«
Und das macht auch den Roman »Sittenlehre« besonders reizvoll.
Die jungen Autoren versuchen zu verstehen, was während der Militärdiktatur in Argentinien geschehen ist, hatte Literaturkritiker Damián Tabarovsky erläutert. Dem Leser vermitteln sie, wie tief die Kerben sind, die eine Diktatur hinterlässt.
Literatur
Laura Alcoba: Das Kaninchenhaus. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Insel Verlag Berlin, 2010, 119 Seiten, EUR 14,90.
Eugenia Almeida: Der Bus. Aus dem Spanischen von Claudia Ballhause. Stockmann Verlag Bad Vöslau, 170 Seiten, EUR 19,80.
Félix Bruzzone: 76. Aus dem Spanischen von Markus Jakob. Berenberg Verlag Berlin, 2010, 144 Seiten, EUR.
Martín Kohan: Sittenlehre. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 247 Seiten, EUR 19,90.
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