Hermes schrieb am 29.3. 2001 um 17:18:11 Uhr zu
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3.2 Anspielungen auf eine Sentenz
Auch wenn im vorangegangenen Kapitel die These aufgestellt wurde, Sentenzen würden prinzipiell nur ‚am Stück’ als sprachliche Klischees geäußert und verstanden werden, so ist dieses Diktum zu relativieren. Es gibt im alltäglichen wie im literarischen Diskurs Situationen, die es erfordern bzw. in denen es ausreicht, eine Sentenz lediglich ‚anzuzitieren’. Dabei genügt es zumeist, lediglich markante ‚Signalwörter’ der Sentenz zu erwähnen, um vor dem ‚geistigen Auge’ des Adressaten oder des Publikums die ‚Voll-Sentenz’ hervorzurufen. Es bereitet dabei kaum jemandem Schwierigkeiten, die Leerstelle, also den unausgesprochene Part einer Sentenz, konnotativ zu ergänzen. Das Vorhandensein dieser Anspielungen widerspricht nun aber keinesfalls dem soeben aufgestellten Gattungsmerkmal von Sprichwort und Sentenz, dass beide Genera lediglich en bloc und als formal wie inhaltlich abgeschlossene Einheiten verwendet werden. Vielmehr muss gerade die Existenz der Anspielung als ein Beweis für und nicht gegen die fixe, abgeschlossene und homogene Struktur und Beschaffenheit der Sentenz gewertet werden. Auch wenn diese These auf den ersten Blick paradox klingen mag, so ist sie dennoch leicht zu verifizieren: Denn wenn eine Sentenz keine feste Formel aufweisen würde, so würde ein Adressat die durch eine Anspielung hervorgerufene offene Leerstelle auch nicht schließen können. Andersherum formuliert: Die Fähigkeit eines jeden Sprachbenutzers, Anspielungen auf Sentenzen als solche zu verstehen und sie zu ihrer Nennform zu ergänzen, ist der Beweis für die geschlossene Form von Sprichwort und Sentenz. Freilich ist der Status einer ‚Anspielung auf eine Sentenz’ mit dem einer Voll-Sentenz nicht gleichzusetzen. Folglich wird in der Terminologie dieser Arbeit zwischen ‚Voll-Sentenzen’ und ‚Anspielungen auf Sentenzen’ unterschieden und getrennt werden müssen.
Im Folgenden seien einige Funktionsmuster und –beispiele der Anspielungen auf eine Sentenz oder Sprichwort erläutert. Wenn man wie Wernfried Hofmeister Sentenzen ob ihrer Abgeschlossenheit als „Mikrotexte“ versteht, so wird man die Anspielungen auf eine Sentenz auch als intertextuelle Anspielungen begreifen. Die Motive, weshalb nun ein Autor seinem Erzähler oder einer literarischen Figur eine Anspielung auf eine Sentenz in den Mund legt, können mannigfacher Natur sein. Denkbar ist einerseits, dass die ‚Aura des Lehrhaften’ , die einen Spruch im Einzelfall umgeben mag, durch diese Technik weniger plakativ und somit unaufdringlicher wirkt. Man ‚erinnert’ vielmehr en passant an das Vorhandensein eines Sinnspruchs, der zwar im gegebenen Kontext passen würde, spricht ihn aber nicht (vollständig) aus. Man überlässt es also dem jeweiligen Adressaten, den ‚Sentenz-Torso’ zu ergänzen. Neal R. Norrick hat darauf hingewiesen, dass ein Sprecher durch das Zitieren eines Sinnspruchs nicht selten in die Rolle eines Mentors, eines Beraters schlüpft. Diese ‚Beobachtung’ nimmt er dann auch als Grundlage für die Postulierung der heuristischen Annahme, dass sich ältere Menschen ob ihrer (manchmal nur subjektiv empfundenen) größeren Lebenserfahrung potentiell häufiger eines Sinnspruchs bedienen würden als jüngere. Das Äußern einer Sentenz wird vor diesem Hintergrund also identisch mit dem Innehaben einer moralisch ethischen Autorität. Man fühlt sich dazu berufen, ob der eigenen Lebenserfahrung Modelle und Wertmaßstäbe, die über eine Sentenz gebildet transportiert werden, auf konkrete Situationen per Analogieschluss zu übertragen. Der ‚Nachteil’ oder Nebeneffekt bei der direkten Äußerung einer Sentenz ist der, dass die Kommunikationssituation leicht einen asymmetrischen Charakter erhalten kann, was nicht immer im Sinne eines vorsichtig taktierenden Sprechers sein wird. Oftmals ist es – um eine hier durchaus treffende Binsenweisheit anzuführen - weitaus klüger, über die ‚Hintertür’ sein Ziel erreichen als redensartlich ‚mit der Tür ins Haus zu fallen’. Führt man sich vor diesem Hintergrund die vis-a-vis Kommunikationssituation beim Vortrag höfischer Literatur vor Augen, so eröffnet sich eine weitere Bedeutungsdimension der Sentenz-Anspielung: Der Autor oder Vortragende von höfischer Dichtung hatte es in der Regel mit einem gesellschaftlich höherstehendem Publikum zu tun. Hartmann, auch wenn er aller Voraussicht nach einen weitaus größeren Bildungshorizont besaß als der Großteil seines adeligen Publikums, war per se lediglich ein Ministeriale, also ein Unfreier.(@) Und auch wenn es die moderne literaturwissenschaftliche Theorie (zu Recht) verbietet, Autor und Erzähler gleichzusetzen , so lässt sich eine gewisse Affinität, eine Kongruenz zwischen Erzähler und Autor Hartmann nicht leugnen. Wenn man nun davon ausgehen darf, dass der höfisch Lebende (vgl. Kapitel XY) ein überaus feines Gespür dafür besaß, zwischen Standesunterschieden (die ja per se erst über Handlungen ausgedrückt und manifestiert wurden) zu unterscheiden, so liegt es auf der Hand, dass ein Autor/Vortragender nicht das ‚Risiko’ eingehen wollte und konnte, sich ‚über Gebühr’ im literarischen Vortrag als normgebende Instanz aufzuspielen. Er musste daher bei der Vermittlung seiner künstlerischen Intention vorsichtiger taktieren, um den Adressaten (also das adelige Publikum) nicht zu ‚verprellen’ und ‚vor den Kopf zu stoßen’. Somit bietet sich gerade in der Erzählerrede das Vehikel/Mittel der Sentenzanspielung förmlich an, um behutsam Inhalte und Deutungsangebote zu vermitteln, ohne gleichzeitig die Rolle eines Magisters einzunehmen, was einer unstandesgemäßen Belehrung des Adels gleichgekommen wäre. Die ungemein psychologische Raffinesse dieser erzählerischen Taktik liegt darin, dass man eben nur scheinbar den didaktisch-edukativen Gestus der Erzählerrede kaschiert und aufgibt, um dann dennoch synchron die vom Vortagenden intendierte ‚Leerstellen-Ergänzung’ vor dem geistigen Auge des Publikums hervorzurufen. Wenn sich diese soeben entwickelten Argumentationsstränge als korrekt erweisen würden, so dürfte man zwei Thesen/Prognosen aufstellen: Erstens, der Anteil der Anspielungen auf eine Sentenz in der Erzählerrede ist höher als in der Figurenrede. Zweitens, ob der zunehmenden Lebenserfahrung wird Hartmann tendenziell im seinem Spätwerk mehr Sentenzen in seine Texte einfließen lassen als zu Beginn seiner literarischen Laufbahn. Diese Thesen, die beinahe schon als Axiome der Sentenzverwendung bezeichnet werden dürfen, müssen noch im Zuge dieser Arbeit anhand statistischer Auswertungen überprüft werden. Folgende Beobachtung sei hierzu bereits vorausgeschickt: Die Annahme, Hartmann habe seinem Erzähler (sei es nun aus psychologischem Gespür heraus oder dem Respekt vor dem gesellschaftlich höher gestelltem Publikum) überproportional viele Anspielungen in den Mund gelegt, erfährt Unterstützung, wenn man sich die bereits erwähnte ‚didaktische’ Sentenz von Kalogrenant in den Versen 249-250 erneut heranzieht. (man verliuset michel sagen, man enwellez merken unde dagen) Trotz struktureller Differenzen (es handelt sich ja hier um eine Voll-Sentenz und nicht um eine Anspielung und zudem wird sie auf der Figuren- und nicht der Erzählerebene gesprochen) kann man eine funktionale Übereinstimmung feststellen. Ähnlich wie bei der Sentenzanspielung, über die der Dichter versuchen mag, ‚Abstand’ zwischen sich und der Sentenz zu schaffen, so kann er im gerade zitierten Falle ebenfalls ‚nicht haftbar’ gemacht werden für die für die (in einem bestimmten Kontext potentiell) altklug klingende Sentenz. Hartmann überlässt es Kalogrenant, diese vielleicht unbequeme Wahrheit auszusprechen, und kann sich auf diese Art hinter dem Werk verstecken (man braucht fast gar nicht mehr erwähnen, dass diese Sentenz natürlich genau die Autorintention widerspiegelt, das Publikum möge sich doch bitte ruhig verhalten und aufmerksam zuhören). Hartmann, so könnte man in dubio pro reo argumentieren, sei ja quasi lediglich ein Vermittler oder Verwalter des Romanstoffes@, den er ‚an den buochen’ (Vers 22), und könne schließlich nichts dafür, was die Figuren in der Geschichte sagen. Und wenn nun der Zuschauer ob der geradezu augenfälligen Übereinstimmung zwischen der Roman- und der aktuellen Vortragssituation einen Analogieschluss zieht, so wird dieses Wiedererkennen der eigenen Position eines gewissen Humors nicht entbehren, was – so mag man mutmaßen - das Publikum wiederum gegenüber dem Dichter milde stimmt.
Die Sentenzanspielung mag aber noch nach ganz anderen Kontexten als funktionales Vehikel eingesetzt werden. Über eine Anspielung kann ein „Original“, also die Nennform der Sentenz, „als Folie für bestimmte Effekte“ benutzt werden. Im Zusammenhang mit Laudines widersprüchlicher Haltung gegenüber Iweins Heiratsangebot ergreift der Erzähler die Gelegenheit, um auf den weit verbreiteten Gedanken des weiblichen Wankelmuts einzugehen:
Ich weiz baz w$ vonz geschiht
Daz man s0 als@ sicke siht
In wankelm gemüete:
Es kumt von ir güete (Vers 1875-1878)
Vor dem Hintergrund von Vergils „Varium et mutabile semper / Femina [...]“ nimmt Hartmann eine Neuakzentuierung und Neubewertung der Vorstellung vom weiblichen Wankelmut vor. Er wird hier als Ausdruck der Güte interpretiert und erscheint somit in einem positiven Licht. Hartmann rekurriert an dieser Stelle ganz offen auf diesen ‚Gemeinplatz’ und stellt sich selbstbewusst gegen diese Tradition. Er weiß es besser! Diese Opposition gegen einen in mehreren Sprüchen überlieferten Gedanken ist umso erstaunlicher, da sich hier eine Einzelperson (‚ich’) mutig der Übermacht des traditionellen und kollektiven Gedankenguts entgegenstellt. Die (intertextuelle) Anspielung auf eine Sentenz (in diesem Fall kann ob der Geläufigkeit des Gedankens und der Belegsituation auch von einer Anspielung auf mehrere Sentenzen gesprochen werden@) ist in diesem Beispiel alles andere als eine vorsichtige, taktierende Erzählstrategie. Der Erzähler rückt sich vielmehr äußerst selbstbewusst ins Rampenlicht, er profiliert sich über den Dissens. Über die Gründe, weshalb Hartmann seinen Erzähler so exponiert auftreten lässt, kann nun trefflich spekuliert werden. Am naheliegendsten ist natürlich, dass Hartmann selbst ein Anhänger des in seiner Anspielung zum Ausdruck kommenden Gedankens war und er für diesen ‚eine Lanze brechen’ wollte. Um diese Annahme zu beweisen, müsste dann (was freilich in dieser Arbeit nicht geleistet werden kann) das Gesamtwerk Hartmanns einer Analyse unterzogen werden, ob man noch weitere Belege findet, die diese Interpretation des weiblichen Wankelmuts entsprechen. Würde man fündig werden, so müsste man diesen Versen ganz klar einen edukativen, didaktischen und ‚aufklärerischen’ Charakter zuweisen: Das Publikum sollte zum Umdenken aufgefordert werden. In einem ganz anderen Licht bewertet Paul Herbert Arndt diese Stelle, er ist aber ebenfalls der Ansicht, dass sie in einem außerliterarischen Kommunikationszusammenhang steht: Hartmann, so Arndt, habe sich hier bei der weiblichen Zuhörerschaft ‚einzuschmeicheln’ versucht. Als dritte denkbare Erklärung für das Hervortreten des Erzählers in dieser Passage kann man anführen, dass Hartmann schlichtweg einen pointierten ‚Knalleffekt’ setzen wollte, um einerseits den Vortrag spannender zu gestalten, andererseits über sein unorthodoxes Statement eine (außerliterarische) Diskussion anzuregen und - quasi als Nebeneffekt – drittens, seine Autorpersönlichkeit noch gut in Szene zu setzen. Natürlich darf auch nicht vergessen werden, dass nicht zuletzt Laudine, beziehungsweise ihr Verhalten, über diese ‚Güte-Sentenz’ vor den Augen (besser: Ohren) des Publikums von der (autoritativen) Erzählinstanz sanktioniert wird. All diese Interpretationsvorschläge schließen sich nicht gegenseitig aus, weshalb man annehmen darf, dass Hartmann alle drei Aspekte im Auge gehabt haben wird.
Festzuhalten bleibt, dass die Anspielung auf eine Sentenz zwar einen anderer Modus der Sentenzverwendung darstellt, sie aber dennoch zwingend dem Untersuchungskorpus dazugerechnet werden muss. Sie kann als ein freierer, anspruchsvollerer wenn nicht gar raffinierterer Umgang mit den Genera Sentenz und Sprichwort gedeutet werden, da sie darauf abzielt, dass der Adressat der Anspielung die Füllung der Leerstelle in Eigenregie vornimmt und so auf indirektem Wege die Bedeutungsmitschwingungen der Nennform konnotiert und realisiert werden. Damit dieser semantische Ergänzungsvorgang funktionieren kann, ist es jedoch unverzichtbar, dass die Voll-Sentenz (beziehungsweise der hinter ihr stehende Gedanke) dem Adressaten bekannt ist. Ist dem nicht so, dann ergeht es einer Anspielung wie jeder anderen intertextuellen Referenz auf ein dem Publikum nicht geläufiges Werk: Sie wird schlichtweg nicht verstanden. Somit könnte man ein weiteres Axiom der Sentenzverwendung aufstellen, nämlich, dass ein Autor primär auf solche Sentenzen anspielen wird, die auch eine gewisse Publikumsgeläufigkeit inne haben. In direktem Anschluss hieraus kann man noch die These hinzufügen, dass aller Voraussicht nach der Anteil der Anspielungen auf ein Sprichwort in Hartmanns Iwein prozentual höher ausfallen wird als der Anteil der Anspielungen auf eine Sentenz im engeren Sinne. Diese Ableitung erklärt sich dadurch, dass ja nur über die Volksläufigkeit ein Spruch zum Sprichwort werden kann , und auf der anderen Seite die Sentenz eher über die Schrift tradiert wird und sie dadurch einen potentiell kleineren Bekanntheitsgrad aufweist. Dieses Theorem macht die Anspielung auf eine Sentenz wiederum hinsichtlich des mehrdimensionalen Bedeutungsangebotes eines literarischen Werkes besonders interessant. Ein Dichter wie Hartmann, der bekanntermaßen mit den antiken Klassikern vertraut war@?, konnte so punktuell auf die Bedürfnisse einer literarisch gebildeten Publikumsschicht eingehen. Ohne dass es der ‚breiten Masse’ der des Lesens und Schreibens Unkundigen aufgefallen wäre, konnte er über die Anspielung auf eine Sentenz auf eine Art ‚Geheimwissen’ referieren; man kann sich ausmalen, dass im (Wieder-)Erkennen dieser nur ‚Eingeweihten’ zugänglichen Anspielung auf eine Sentenz ein nicht unerheblicher Reiz gelegen haben wird. Aber auch der Literaturwissenschaft bietet die Analyse der Sentenzanspielungen einen durchaus praktikablen Ansatz, um noch feiner die verästelten Bedeutungspotentiale der Werke beschreiben zu können. Denn allein schon die Identifikation der Sentenzanspielungen eines Werkes kann Hinweise auf den dem Werk/der jeweiligen Werkpassage unterliegen Subtext oder Subkontext liefern.
Natürlich mag es auch weitaus profanere Gründe gehabt haben, warum ein Dichter in bestimmten situativen Zusammenhängen eine Anspielung einer Vollsentenz vorzieht. Wie bereits mehrfach erwähnt, thematisiert eine Sentenz immer etwas Allgemeines und tut dies in einem apodiktischen, nicht-diskursiven Sprachgestus. Diese Gattungsmerkmale bringen freilich den ‚Nachteil’ mit sich, dass eine Person oder eine Gruppe immer nur indirekt angesprochen werden kann, und sie erst über einen Analogieschluss den Gedanken oder das Bild auf die eigene, subjektive Situation überträgt. Eine Sentenz ist tendenziell unpersönlich, was sich nicht zuletzt – grammatisch betrachtet - durch den Gebrauch der dritten Person manifestiert. Und aus syntaktischer Sicht erscheint die Sentenz zudem kontextuell isoliert zu sein, weil sie sich über ihre interne Geschlossenheit monolithisch von ihrem Umfeld abgrenzt. Es sind nun aber durchaus Konstellationen denkbar, in denen die durch eine Sentenzverwendung entstehende Distanz nicht erwünscht ist und man seinen Gegenüber direkter mit dem gewünschten sententiösen Gedanken konfrontieren möchte. Man betrachte in diesem Zusammenhang die Verse 2784ff. des Iwein; Gawein versucht, Iwein von der Notwendigkeit einer Turnierfahrt zu überzeugen und bedient sich folgender Sentenzanspielung (Die Anspielung ist durch Fettdruck hervorgehoben):
s@ bewaret daz d$ b0
daz iuch iht gehAne
iuwers w0bes schAne
Die hinter dieser Sentenzanspielung stehende Vorstellung, dass die Schönheit einer Frau eine potentielle und latente Gefahr für den Mann darstellt, lässt sich nun sowohl in vielen literarischen wie nicht-literarischen mittelalterlichen Quellen wiederfinden. Gawein verzichtet hier jedoch (bewusst) auf die Nennung einer Voll-Sentenz; hierfür lassen sich mindestens drei Gründe finden. Erstens, durch den freieren Umgang mit der Sentenz kann er Iwein direkt ansprechen (siehe das Personalpronomen ‚iuch’ und das Possessivpronomen ‚iuwers’) und die kurze Einleitungsformel macht ebenfalls unmissverständlich deutlich, dass nun niemand anderes als Iwein der Adressat dieser Sentenzanspielung ist. Zweitens fügt sich die Anspielung nun weitaus homogener in den Argumentationsfluss Gaweins ein und wirkt nicht ‚störend’. Drittens, der gedankliche Gehalt der Sentenzanspielung war (wie die Belegsituation vermuten lässt) überaus populär im höfischen Diskurs und deshalb, so darf man mutmaßen, genügte es, lediglich die Reim- und Signalwörter ‚schAne’ und ‚hAne’ zu erwähnen, um somit en passant eine Konnotationskette auszulösen.
4. Die Sentenz im literarischen Text
Wenn man sich die Ergebnisse der Betrachtung der Güte-Sentenz vor Augen hält, so wird man - wie dies auch von Paul Herbert Arndt betont wird - nicht von der Funktion einer Sentenz oder Sentenzanspielung sprechen, da für sie die Mehrfachfunktion charakteristisch ist. Und man muss mindestens zwischen zwei Gesichtpunkten unterscheiden: Erstens der Bezug der Sentenz zum Erzählten sowie zweitens ihr Bezug zum Publikum. Diese beiden Teilsaspekte sollen im folgenden Kapitel nochmals eine genauere Perspektivierung erfahren, bevor dann - wenn die notwendigen theoretischen und methodischen Prämissen geklärt sind - zum zweiten Teil dieser Arbeit vorangeschritten werden kann, in dem eine systematische Analyse der Sentenzen in Hartmanns Iwein vorgenommen werden wird.
Die grundlegende, entscheidende und weitreiche Frage, die sich ein Interpret bei der Analyse des gnomischen Materials eines literarischen Textes stellen muss, kann laut Wernfried Hofmeister folgendermaßen formuliert werden: Wie tritt eine Sentenz als Mikrotext mit dem sie umgebenden Makrotext in Kontakt? Die Komplexität dieser auf den ersten Blick scheinbar leicht überschaubaren Fragestellung wird offenbar, gliedert man sie im textinterne Relationsgefüge auf. Es muss zunächst beachtet und eruiert werden, „wer überhaupt ein Sprichwort äußert (und wer nicht) wann und unter welchen Bedingungen ein Sprichwort geäußert wird, und vor allem auch, welches Sprichwort dann verwendet wird“ . Von dieser Warte aus betrachtet tragen Sentenzen auch zur „Semantik der literarischen Figuren“ bei. Der von Beate Henning vorgetragene Vorwurf, Sentenzen würden zu einer Figurencharakterisierung nichts Substantielles beitragen können, da sie ja nur überindividuelle Erfahrungssätze über etwas Allgemeingültiges seien, greift nämlich zu kurz. Natürlich kann das ‚Wesen’ eine literarische Figur nicht unmittelbar über die Sentenzen, die sie ausspricht, bestimmt werden. Das Gleiche gilt für jene Sentenzen, die von dritter Seite über eine Figur geäußert oder an sie herangetragen werden. Es sei bereits an dieser Stelle darauf verwiesen, dass man – wie später noch zu zeigen sein wird - schon aufgrund einer ‚statistischen’ Auswertung der Sentenzverwendung Aussagen über einzelne Figuren treffen kann. So ist es sicherlich kein Zufall, dass Iwein im ersten Handlungszyklus lediglich eine, im zweiten Handlungszyklus jedoch ganze acht(!) Sentenz(-anspielung)en äußert. Dieses Ungleichgewicht ist derart signifikant, dass man allein ob dieser Asymmetrie auf eine (innere) Wandlung des Protagonisten schließen kann. Iwein, im ersten Handlungszyklus noch von einem unreflektiertem Aktionismus besessen , hat im zweiten Abschnitt seine Lehren aus der selbstverschuldeten Krise gezogen: „Nun gehen seinen Aktionen Phasen des Abwägens, des Nachdenkens über mögliche Auswirkungen seines Handelns voraus.“ Erst jetzt scheint er dazu befähigt, allgemeine Reflexionen anzustellen und sein Einzelschicksal als Teil einer übergeordneten (göttlichen) Ordnung zu begreifen. So bewältigt Iwein seine Furcht zu Beginn der Episode auf der Burg zum schlimmen Abenteuer mit einer Anspielung auf ein bekanntes Sprichwort :
Dir geschiht daz die geschehen sol,
und anders niht, daz weiz ich woll (Iw. 6567 f.)
Während sich Iwein im ersten Handlungszyklus noch „bewußtseinslos [...] spontanen Regungen “ überlässt (die Rache für Kalogrenant, die Liebe zu Laudine und seine Bitte um urloub), belegt die Zunahme der sententiösen Rede also die veränderte Geisteshaltung Iweins. Somit wird am Beispiel des Protagonisten offensichtlich, dass die Sentenzverwendung einen bedeutsamen Beitrag für die Figurenzeichnung leisten kann.
Es wäre jedoch ein Fehler, vor diesem Hintergrund die Mutmaßung anzustellen, man dürfe einem Sentenzsprecher per se eine sittlich-moralische Reife attestieren, da er sich schließlich als bewertende Instanz in Szene setzt und einen konkreten Einzelfall in einen größeren, ‚allgemeingültigen’ Zusammenhang einzuordnen weiß. Auch wenn man dieser Zuschreibung von ihrer Tendenz her zustimmen kann, so muss man im Einzelfall mit solch einer pauschalen Gleichung vorsichtig sein. Denn – und dies ist scheinbar der ‚oberste Grundsatz’ bei der Analyse von Sentenzen im literarischen Text – man muss die kontextuellen Einbettung des gnomischen Materials mit in ihre Bewertung einbeziehen. Bei den Figurensentenzen wird dabei zunächst die Redeabsicht und die Sprachhandlung eines Sprechers kritisch gemustert werden müssen. Möchte hier jemand seinem Gegenüber einen gut gemeinten Ratschlag geben oder will er manipulativ auf ihn einwirken? Will er ihn warnen oder will er ihm drohen? Schon durch die Beantwortung dieser Fragen kommt man dem Wesen einer literarischen Figur näher und es wird offensichtlich, dass auch die über eine Sentenz vermittelte Redeabsicht zur Semantik des Romanpersonals beiträgt. Wie im zweiten Teil dieser Arbeit noch genauer zu analysieren sein wird, wird die Sentenz in der Figurenrede als eine flexible und suggestiv wirksames Argumentierhilfe eingesetzt werden, und nicht jede Figur, die sich einer Sentenz bedient, tut dies ‚nach bestem Wissen und Gewissen’.
Verlässt man die Ebene der Figuren und wendet sich der des Erzählers zu, so wird eine weitere bedeutsame funktionale Rolle der Sentenz im literarischen Text nennen können: der Kommentar. Die Funktion wird von Harald Thun folgendermaßen beschrieben (man beachte hier, dass erneut die Sentenz als eine Art ‚Fremdkörper’ im Textfluss verstanden wird):
„Allgemein ließe sich die Funktion der Sprichwörter in ihrer konkreten Verwendung in Texten und Situationen als Kommentierung kennzeichnen. Die Sprichwörter fügen sich nicht wie gewöhnliche Textsegmente in die Beschreibung oder Darstellung ein, sie unterbrechen vielmehr den Deskriptionsstrom durch eine Meta-Aussage, eben durch einen Kommentar.“
Ein Erzähler, der das innerliterarische Geschehen einer Außenwelt kommuniziert, besitzt die Möglichkeit, eine einzelne Handlung, ganze Handlungspassagen, ja sogar das gesamte Werk mit einer griffigen Sentenz zu kommentieren, illustrieren und interpretieren. Hier kommt die modellierende Kraft der Sentenz voll zur Geltung, denn, um es mit den Worten von André Jolles zu sagen, der Einzelfall, die ‚chaotische’ Empirie, wird „blitzartig“ in eine Allgemeinheit, einen geordneten Kosmos, überführt. Ob ihres strukturierenden, modellierenden, kommentierenden und zusammenfassenden Potentials stehen Sentenzen im höfischen Roman nicht selten auch an exponierten Funktionsstellen des Romans, wie etwa dem Prolog. Diese potentielle, auf den narrativen Kontext ausgerichtete Funktion einer Sentenz kann eingesetzt werden, um den „gesamten Text oder bestimmte Episoden des Textes retrospektiv oder prospektiv (z.B. in Form von Motti) zu kommentieren und durch diese spezifische Form der Intertextualität die Rezeption zu beeinflussen“ . Auch im Iwein lässt sich beobachten, dass der Schlussvers des Textes mit den Signalwörter s#lde und )re unmittelbar auf die Exordialsentenz rekurriert (vgl. Kapitel XY) und somit das gesamte Werk wie durch eine Klammer zusammengehalten wird. Die Möglichkeit des prospektiven, also vorausschauenden Gebrauchs der Sentenz im literarischen Text ist deshalb erwähnenswert, weil diese Form der ‚prophetischen’ Sentenzverwendung im außerliterarischen Kontext praktisch nicht vorkommt. In diesem Zusammenhang sei erneut auf das Diktum Jolles’ verwiesen, ein Spruch decke immer erst dann den Brunnen zu, wenn das Kind bereits ertrunken sei. Sprüche wie ‚Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen’ oder ‚Schuster, bleib bei deinen Leisten’ haben primär resignativen Charakter und beziehen sich auf etwas Vergangenes. Demgegenüber ist es im literarischen Kontext sehr wohl denkbar, dass Sentenzen prospektiv verwendet werden. Steht eine Sentenz also am Beginn eines Textes, so steht das in ihr vermittelte Handlungs- oder Weltwissen zunächst abstrakt, isoliert und kontextfrei im (literarischen) Raum. Erst die anschließende Romanhandlung vermag die Gültigkeit dieser ‚Weisheitsrede’ anhand eines praktischen Beispiels zu be- oder widerlegen. Eine Sentenz, die einem Werk vorangestellt ist, besitzt daher ein nicht unerhebliches Potential zur Steuerung oder Kanalisierung des Rezeptionsvorganges. Die ‚Lehre’ einer Geschichte scheint bereits vorab in nuce in der Sentenz eingeschrieben zu sein und der Rezipient wird gleichsam mit einer Erwartungshaltung betreffend der ‚Moral von der Geschichte’ ausgestattet. Zweifelsfrei kommt der Exordialsentenz im höfischen Artusroman ob ihrer exponierten Stellung im literarischen Gefüge eine besondere Bedeutungsschwere zu. Man darf jedoch keinesfalls den interpretatorischen Trugschluss ziehen, sie mit dem Epimythion einer Fabel gleichzusetzen. Weder ist die histoire des Iwein lediglich die Veranschaulichung oder Elaboration der Exordialsentenz, noch ist die einleitende Sentenz das Kondensat oder die interpretatorische ‚Schwundstufe’ des Textes. Das Bedeutungsangebot des höfischen Romans ist viel zu vielschichtig und sein Geflecht von bedeutungstragenden Elementen und Struktureinheiten viel zu komplex, um eine Interpretation des gesamten Werkes aus seiner Exordialsentenz ableiten zu können. Zudem kann man hinzufügen, dass es der Literaturwissenschaft bis dato nicht gelungen ist, den Iwein ob seiner mehrdimensionalen Textgenese und der dadurch bedingten werkimmanenten ‚Widersprüchlichkeiten’ auf lediglich eine Interpretationslinie festzulegen. Man muss sich als Interpret vielmehr mit der Tatsache abfinden, dass der Text im höchsten Grade polysem ist und er – einem Kaleidoskop gleich – je nach Blickwinkel eine andere Gestalt anzunehmen scheint und somit gleichzeitig mit einem anderen Bedeutungsangebot aufwartet.
Ein weiterer Aspekt, auf den auch noch intensiv im zweiten Teil dieser Arbeit eingegangen werden wird, ist die Beobachtung, dass die Sentenzen im ‚Iwein’ thematisch verbundene Sentenzblöcke oder Sentenzreihen bilden können. Hierbei werden einzelne Sentenzen, die zuvor bereits geäußert wurden, in unterschiedlichen Passagen erneut aufgegriffen, paraphrasiert und/oder als Anspielung modifiziert. Manfred Eikelmann spricht in diesem Zusammenhang von einem „innerliterarische[n] Zitier- und Verweisgefüge“, welches Hartmann dazu verwendet, „um sein Publikum in den Diskussionsprozeß des ‚Iwein’ einzubeziehen“ . Neben diesem Aspekt der Interaktion zwischen Autor/Vortragendem und seinem Publikum, von dem im direkten Anschluss zu sprechen sein wird, wird im obigen Zitat noch ein weiterer, für den Status der Sentenz im literarischen Text zentraler Aspekt thematisiert: Eine Sentenz, die in einem größeren ‚Sentenzverbund’ steht, verliert ihren isolierten, monolithischen Charakter; es entsteht eine Kopplungseffekt und das zunächst partielle, auf lediglich eine Situation begrenzte Sinnangebote wird ausgeweitet. Eine Sentenz, die zuvor als (mehr oder weniger) autonome ‚Insel im Text’ erschien, kann man nun einer ‚Inselgruppe’ zuordnen. Nimmt man von diesem bildlichen Vergleich Abstand, so kann man diesen Prozess auch mit literaturwissenschaftlichen Termini beschreiben: Die thematisch kohärenten Sentenzen bilden homogene Bedeutungsebenen, also Isotopien, welche den Text durchziehen. Das Vorhandensein dieser Sentenz-Isotopien ist wiederum ein Indiz dafür, dass die Sentenzen im Iwein das Romangeschehen eben nicht bloß punktuell erhellen, kommentieren oder interpretieren, sondern sie als integrale Bestandteile des Textes zu dessen Bedeutungsgenerierung beitragen können.
Nachdem nun bereits einige grundlegende Aspekte der Aufgaben und Funktionsweisen der Sentenz innerhalb der literarischen Konfiguration dargelegt wurden, soll nun im Folgenden das ‚Interaktionspotential’ der Sentenz zwischen Werk und Publikum einer theoretischen Diskussion unterzogen werden.
Die vorherrschende Forschungsmeinung ist, dass die Sentenzen im höfischen Roman eine „tragfähige Verständigungsbasis für die Kommunikation zwischen Erzähler und Publikum“ bilden und sie „die Erzählung mit der außerliterarischen Diskurs- und Erfahrungswelt in Beziehung“ setzen. Sie sind die Gelenkstellen zwischen den Systemen ‚Literatur’ und ‚Welt’: „Nicht nur [...] die fiktive Welt, kann Gegenstand einer Erzählerbemerkung sein“, sondern auch die „reale Welt bzw. der Teil der realen Welt, der als ‚gemeinsame Erfahrungswelt von Erzähler und Publikum, als ihr ‚Kommunikationshorizont’, bezeichnet werden kann.“ Eine basale Erklärung dafür, weshalb das gnomische Material eines Textes „in besonderer Wechselwirkung“ mit dem Publikum steht, ist seine Zugehörigkeit „zum traditionellen Erbe einer Kulturgemeinschaft“ . Dies bedeutet, dass mit dem Auftreten eines Sprichworts oder einer Sentenz im literarischen Text eine „Rückkopplung mit dem kulturellen Besitz“ einer Sprechergemeinschaft stattfindet und somit „die Erzählung mit der außerliterarischen Diskurs- und Erfahrungswelt in Beziehung“ gesetzt wird. Anders formuliert: Die Inhalte, die hier vermittelt werden, sind nicht „primär individuell, sondern kollektiv gestaltetes und dadurch auch präsumtiv von der ‚Allgemeinheit’ sanktioniertes Sprach- und Wissensgut“ . Diese überaus treffenden, aber eher abstrakt gehaltenen Formulierungen weisen darauf hin, dass die Sentenzen eines Werkes als Konnektoren, als „Nahtstellen“ zwischen Text und außerliterarischer ‚Wirklichkeit’ fungieren können. Im Gegensatz zu primär epischen, erzählenden, ‚eine Geschichte vorantreibenden’ Elementen oder Passagen werden dem Rezipienten über die Sentenzen ad-auditores-Mini-Interpretationen mitgeliefert; es handelt sich hierbei um gedankliche Figuren, die einem kollektiven Wissensschatz entspringen: Sprichwort und Sentenz, so Eikelmann, halten ein „allgemein zugängliches ‚Jedermann-Wissen’“ bereit. Bewertungsmaßstäbe und Modelle, die originär der ‚empirischen’ Welt entstammen, werden in die literarische miteingearbeitet und inkorporiert, und weisen gleichsam aus ihr wieder hinaus in die Lebenswirklichkeit des Publikums. John Miles Foley geht noch einen Schritt weiter und vertritt die Ansicht, „epische Formeln“, zu denen auch Sprichwort und Sentenz zuzuordnen sind, seien gar Repräsentanten einer ganzen ‚Denktradition’; sie verkörperten
„fields of reference much larger than the single line, passage, or even text in which they occur. Traditional elements reach out of the immediate instance in which they appear to the fecund totality of the entire tradition, defined synchronically and diachronically, and they bear meanings as wide and deep as the tradition they encode“ .
Wollte man sich dieser Einschätzung anschließen, so würde man davon ausgehen, dass jene Sprichwörter und Sentenzen eines Textes, die auf eine lange diachrone Überlieferung zurückblicken können, lediglich die sichtbare Spitze eines ‚semantischen Eisberges’ bilden. Die Tradition, aus der sie entspringen, würde stets konnotativ mitschwingen und für das Publikum greifbar sein. So wünschenswert es auch wäre, dass dieses von Foley aufgestellte Theorem in der Literaturwissenschaft Gültigkeit beanspruchen könnte, so muss man es leider relativieren. Denn vielfach ist es ein aussichtloses Unterfangen, die gesamte Tradition und den totalen Bedeutungskontext einer Sentenz zu beschreiben oder adäquat nachzuzeichnen. Dies gilt sowohl für den zeitgenössischen mittelalterlichen Rezipienten als auch den Literaturwissenschaftler im 21. Jahrhundert. Die Frage, die sich weiterhin stellt, ist, ob ein gedachter ‚idealer Rezipient’ (in diesem Falle also jemand, der die traditionellen Hintergründe und Entwicklungslinien der Sentenzen kennt) durch dieses Wissen überhaupt einen interpretatorischen Vorteil erhält. Denn, wie bereits mehrfach angesprochen, haben Sprichwort und Sentenz ihren „Sitz im Leben“ und ‚bedeuten’ somit stets im Kontext. Wenn man nun aber die Tradition einer Sentenz dominant setzt und dabei den aktuellen Zusammenhang der Äußerung vernachlässigt, so kann dies problematisch sein, und das Wissen um die ‚Etymologie’ einer Sentenz mag so zu einer negativen Interferenz werden. Und: Eine Sentenz ‚funktioniert’ auch dann, wenn man sie ohne Kenntnis über ihren Ursprung und ihre Verbreitung hört.
Obgleich die These Foleys im obigen Abschnitt kritisch hinterfragt wurde, so hat sie - moderat verstanden - durchaus ihre Berechtigung. Der Traditionshintergrund einer Sentenz wird in bestimmten Situationen sehr wohl konnotiert und trägt somit zur Bedeutung der Sentenz bei. Als Beispiele wird man jene populären Sentenzen nennen können, die entweder ‚biblischen Ursprungs’ sind oder aber bei der Rechtsfindung und Rechtssprechung Verwendung finden. Hier kann man davon ausgehen, dass ein Hörer die verpflichtende Autorität der Bibel oder aber die bindende Urteilskraft eines Rechtsspruches intertextuell ‚mitdenkt’, und so der Gültigkeitsanspruch der jeweiligen Sentenz verstärkt wird..
Ein weiteres Instrument, um die über eine Sentenz vorangetriebene ‚Rückkoppelung mit dem kulturellen Besitz’ sinnfällig zu machen, ist die Einleitungsformel. Sie schlägt eine Brücke zwischen dem Makrotext ‚Roman’ und dem Mikrotext ‚Sentenz’ und weist das Publikum unmissverständlich darauf hin, dass nun ein von der Allgemeinheit sanktioniertes Wissen und kollektives Erfahrungsgut thematisiert wird, welches auch (oder gerade) außerliterarische Gültigkeit beansprucht. Dieses Phänomen einer direkten ‚Andockung’ der Normenwelt des Romans an den außerliterarischen Erfahrungshorizont des Publikums lässt sich auch im ‚Iwein’ feststellen; die markanten Einleitungsformeln sind in den folgenden Beispielen durch Fettdruck hervorgehoben:
als ouch die w0sen wellen,
ezn habe deheiniu grAzer kraft,
danne unsippiu gesellschaft (Iwein, 2702)
wan diu werlt ist des ungewon,
swer vrumen gesellen kiese
daz er dar an verliese. (Iwein 3032 ff.)
die liute habent sich joch dar an
daz zw)ne s0n eines her (Iwein, 4328 f.)
der alte spruch ist w$r:
swer guoten boten sendet,
s0nen vrumen er endet (Iwein, 6064 ff.)
Der Effekt, der durch die hier angeführten Einleitungsformeln hervorgerufen wird, ist eine Hervorhebung des Zitatcharakters der Sentenz. Ein Sprecher ‚versteckt’ sich quasi hinter einer eindeutig als kulturelles Gemeinschaftsgut deklarierten Weisheit und gibt unmissverständlich zu erkennen, dass hier nicht die Meinung eines Einzelnen, sondern die Ansicht des Kollektivs (der Leute, der Weisen, der ‚Welt’) vorgetragen wird. Die Einleitungsformel kann somit als ein Verstärker, als ein unmissverständlicher Fingerzeig genutzt werden, um das literarische Publikum direkt anzusprechen. Der Brückenschlag zwischen inner- und außerliterarischem literarischem Diskurs wird hier evident. Die Referenzgröße verbleibt das Kollektiv, und die Gemeinschaft, so die inhärente Logik, verbürgt für die ‚Wahrheit’ des Spruches und verleiht ihm seine Autorität. Auch wenn diese Formulierung den Eindruck erwecken mag, die Verbindungslinien zwischen einer Sentenz im literarischen Text und dem Publikum eines Werkes seien hiermit ausreichend umrissen, so muss einschränkend hinzugefügt werden, dass es sich hier nur um eine ‚Teilwahrheit’ handelt. Denn: Dass eine Sentenz „als autoritative Norm des gesamten Kollektivs empfunden wird, heißt nicht, daß es das von seinem Wesen her auch ist.“ Dieses Zitat von Peter Grzybek könnte auf den ersten Blick als ein Paradoxon aufgefasst werden; die scheinbare Widersprüchlichkeit dieser Überlegung kann jedoch durch folgende Argumentation Wernfried Hofmeisters aufgelöst werden: Hofmeister geht davon aus, dass die Wirkung einer Sentenz nicht davon abhängig ist, ob sie eine (mehr oder weniger breite) Publikumsgeläufigkeit aufweist. Vielmehr verleihe bereits die prägnante Formulierung eines ‚überzeitlich’ wirksamen Gedankens gepaart mit einer inhaltlicher und syntaktischer Geschlossenheit einem Vers oder Spruch den Status einer Sentenz. „Merkmalsidentität“, so Hofmeister, sei gleichzusetzen mit „Wirkidentität“. Das entscheidende Kriterium für die Klassifizierung eines Mikrotextes als Sentenz ist, dass er „so klingt und wirkt!“ Der ‚Verdienst’ dieses, wie Hofmeister eingesteht, „ungewöhnlichen“ Ansatzes liegt zweifellos darin, dass man mit Hilfe dieser heuristischen Annahme auch den ad-hoc-Sentenzen eines Autors eine ähnliche, wenn nicht gar identische Wirkweise auf das Publikum beimessen kann wie einer bereits textlich (Projekt!) fest verankerten Sentenz (im engeren Sinne) oder einem im Volksmund geläufigen Sprichwort. Ein Autor, der in einem Werk einen ‚Sentenz-Neologismus’ einflicht, „reproduziert nicht, indem er ein Zitat entlehnt, sondern er produziert, erfindet ein eigenes gemäß bewährten Mustern und führt somit einen Neueintrag in die Zitat-Vorräte all seiner Zuhörer durch“ . Die Wirkung auf den Rezipienten bleibe jedoch laut Hofmeister „im Kern“ die gleiche. Dennoch muss auch Hofmeister einräumen, dass die Akzeptanz einer Sentenz beim Publikum dann am höchsten ist, wenn ein Wieder-Erkennen, also eine Rückkopplung an das kollektive Gedächtnis einer Sprechergemeinschaft gewährleistet ist.
Die hier angeschnittene Kontroverse, ob der Publikumszuspruch, den eine Sentenz erfährt, nun primär abhängig ist von ihrem Bekanntheitsgrad oder aber bereits durch ihre allgemeingültige ‚Spruchform’ hervorgerufen wird, kann und soll hier in keine abschließende Bewertung münden. Es ist sowohl richtig, dass eine dem Rezipienten neue, aber unmittelbar ‚schlagende’ Sentenz beim Hörer oder Leser aufgrund seiner Kenntnis um die Gattungsmerkmale dieser Kleinstform ähnliche Rezeptionsmechanismen aktivieren wird wie eine bereits bekannte. Und, hierauf hat Hofmeister hingewiesen, eine ad hoc-Sentenz vermag ja aufgrund ihrer etwaigen Griffigkeit schnell in den kollektiven Zitat-Apparat Einzug halten. Greift dieser Mechanismus, so verlässt sie ihre ursprüngliche literarische Kontext-Einbettung und wird sukzessiv zu einem ‚weltlichen’ Gemeinschaftsgut. Andersherum ist ebenfalls unstrittig, dass eine Sentenz, die bereits einen festen Platz im ‚Formelrepertoire’ einer Sprechergemeinschaft hat und die sich (seit Generationen) bei der Bewältigung alltäglicher Konfliktsituationen bewährt hat, eine besondere Autorität und Gültigkeit beansprucht. Hier ist der Fall so gelagert, dass, wie es Aleida Assmann formuliert, die Sentenz nicht an „die Einsicht sondern unmittelbar an das Gedächtnis“ des literarischen Publikums appelliert. Diese Überlegungen scheinen auch die Aufstellung der These zu rechtfertigen, dass der höfische Rezipient (nach dem Grad seiner individuellen ‚Vor-Bildung’) eben doch den Traditionshorizont einer Sentenz wahrnimmt und konnotiert, und dieses Vor-Wissen auch (gewollt oder ungewollt) Einfluss nimmt auf die Bewertung einer Situation, in der die jeweilige Sentenz im literarischen Kontext geäußert wird.
Möchte man den Stand der momentanen, primär theoretisch ausgerichteten Diskussion über den Status und die Wirkweise der Sentenz im literarischen Text zusammenfassen, so wird auf der Folie der hier zusammengetragenen Forschungsmeinungen und Ergebnisse recht schnell das Dilemma offenbar, dass die Thematik viel zu komplex ist, um sie in einem theoretischen Rahmen befriedigend und abschließend abzuhandeln. Man hat schlichtweg mit einer zu hohen Dichte von Variablen und Parameter zu ‚kämpfen’, die es einem verbieten, letztgültige Dikta aufzustellen, die dem Forschungsgegenstand gerecht werden würden. Stattdessen muss man sich damit begnügen, Tendenzen aufzeigen. Viele Überlegungen und Phänomene, die isoliert betrachtet durchaus stimmig und unmittelbar plausibel wirken, kollidieren diametral mit jeweils anderen Betrachtungsweisen, die paradoxerweise gleichsam überzeugend und stichhaltig erscheinen. Es liegt aber wohl in der Natur des Forschungsgegenstandes, dass man mit Widersprüchen zurecht kommen muss. Die hier aufgeworfene Zwangslage lässt sich plastisch anhand zweier Sprichwörter illustrieren, denen einerseits - isoliert betrachtet - jedermann zustimmen wird, die aber anderseits das genaue Gegenteil behaupten: ‚Gegensätze ziehen sich an’ und ‚Gleich und gleich gesellt sich gern’. Welchem dieser antonymischen Propositionen, die ja beide zweifelsfrei auf eine überzeitliche ‚Wahrheit’ verweisen und somit autoritative ‚Gültigkeit’ beanspruchen, soll man nun Glauben schenken? Die Antwort darauf, wie man diesen ‚gordischen Knoten’ durchtrennen kann, ist jedoch schon mehrfach im Zuge dieser Arbeit genannt worden. Die ‚Weisheit’, die über ein Sprichwort oder eine Sentenz transportiert wird, bewährt sich und erhält Gültigkeit über ihr jeweiliges Gelingen im Kontext! Jegliche Fragestellung nach Wirkweise und Funktion einer Sentenz gebietet es, die Umstände einer Sentenzäußerung zu überprüfen, da die ‚Sentenz im Kontext’ immer nur Subjekt, aber niemals Objekt der Intention eines Sprechers sein kann. Eine Sentenz ist kein Lehrsatz, der die Welt nur ‚objektiv’ erklären möchte, sondern sie ist stets eine subjektive Interpretation, genauer gesagt ist sie Ausdruck einer subjektiven Intention ihres Sprechers.