wurden sehr unterschiedliche und aufschlußreiche Foto-Antworten gegeben. Ein Foto zeigte den Innenraum einer Wohnhütte. In Lima regnet es so gut wie nie, deshalb dienen oft Strohmatten als Wände und Dächer. Die Wohnhütte ist meist ein einziger Raum, gleichzeitig Küche, Wohnraum und Schlafstelle. Promiskultät ist an der Tagesordnung, kleine Kinder schauen ihren Eltern beim Geschlechtsverkehr zu, und es ist fast selbstverständlich, daß zehn- bis zwölfjährige Geschwister miteinander sexuell verkehren, einfach um es den Eltern nachzumachen. Ein Foto vom Innenraum einer solchen Hütte ist eine Antwort auf die Frage: »Wo lebst du?« Die Gruppe bespricht dann alle Einzelheiten des 1
Fotos: aufgenommene Objekte, Aufnahmew'nkel, Vorhandensein oder Fehlen von Personen usw.
Ein Mann fotografierte das Ufer des Rio Rimäc. Die Gruppendiskussion gab Aufschluß über seine Absicht: Zu bestimmten Jahreszeiten steigt der Rio Rimäc stark an und überflutet die übervölkerten Elendsviertel an seinen Ufern, was oft viele Menschenleben fordert. Häufig fallen Kinder beim Spielen in den Fluß. Bei hohem Wasserstand ist eine Rettung so gut wie ausgeschlossen. Mit diesem Foto als Antwort auf die Frage drückte der Mann seine ganze Angst aus: Wie soll er in Ruhe arbeiten, wenn sein Kind am Flußufer spielt und vielleicht ertrinkt?
Ein anderer Mann hatte die Müllhalden am Rio Rimäc aufgenommen, von denen sich in Hungerperioden die Pelikane ernähren. Die ebenfalls hungernden Menschen fangen und verzehren die Pelikane.
Eine Frau, die aus einem kleinen Dorf nach Lima gezogen war, fotografierte ihre Straße: Auf der einen Seite lebten die Alteingesessenen, auf der anderen die neu Hinzugekommenen. Auf der einen Seite die, die ihre Arbeitsplätze durch die Zugezogenen gefährdet sahen, auf der anderen Seite die Armen, die auf Arbeitssuche alles hinter sich gelassen hatten. Die Straße trennte Menschen, die gleichermaßen ausgebeutet wurden und sich doch wie Feinde gegenüberstanden. Das Foto bestätigte, daß sie sich in der gleichen Lage befanden: Elend auf beiden Seiten. Die wahren Gegner zeigte ein Foto aus der »feinen Gegend«. Die Diskussion über diese Fotos half der Frau und den übrigen, ein Stück Realität zu verstehen.
Ein Mann fotografierte ein Kind. Alle meinten, er hätte die Frage nicht verstanden, und wiederholten sie:
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»Wir möchten ein Foto, das uns zeigt, wo du wohnst, wie du lebst. Ein Foto von der Straße, vom Haus, von der Stadt, vom
Fluß ... «
»Das hier ist meine Antwort: Hier lebe ich ... «»Aber das ist ein Kind ... «
»Schau dir sein Gesicht genau an: es ist blutig. Das Kind lebt mitten unter Ratten, wie alle am Rio R'mäc. Nur die Hunde geben auf die Kinder acht. Sie greifen die Ratten an und lassen sie nicht heran. Aber dann hat die Stadtverwaltung die Hunde einfangen lassen, wegen der Räude. Letzte Woche, als ihr mich gefragt habt, wo ich wohne, sind an einem Nachmittag, gerade als das Kind geschlafen hat, die Ratten gekommen und haben seine Nase angefressen. Deswegen ist sein Gesicht so blutig. Schau das Foto genau an: Das ist meine Antwort. Ich lebe dort, wo so etwas
geschieht.«
Die Verwendung der Fotografie kann Symbole aufdecken, die für eine ganze Gemeinschaft oder soziale Gruppe gelten. Oft gelingt es Theatergruppen trotz besten Absichten nicht, Kontakt zu Leuten aus dem Volk herzustellen, weil sie Symbole verwenden, die diesem Publikum nichts bedeuten. Mag sein, daß eine Königskrone ein Symbol für Macht ist - aber nur für die, die dieses Symbol kennen und akzeptieren. Ein Symbol ist nur dann ein Symbol, wenn es von beiden Interaktionspartnern akzeptiert
wird.
In vielen Ländern gilt Uncle Sam als das Symbol der Ausbeutung, der Ausbeutung durch nordamerikanische Wirtschaftsgruppen. Wir stellten den Teilnehmern am Alphabetisierungskurs in Lima die Frage, was sie unter Ausbeutung verstanden. Ihre Foto-Antworten zeigten einen Ladenbesitzer, den Mann, der die Miete kassiert, das Finanzamt usw. Das Foto eines jungen zeigte einen Haken in der Wand - dieser Haken war für den jungen das Symbol für Ausbeutung. Fast niemand verstand, warum, aber alle Kinder waren seiner Meinung. Als wir gemeinsam über das Foto sprachen, verstanden wir, was er meinte. Um zum Unterhalt der Familie beizutragen, beginnen die Kinder in Lima mit fünf oder sechs Jahren zu arbeiten, z. B. als Schuhputzer. In den Elendsvierteln, wo sie zu Hause sind, gibt es natürlich keine Schuhe, die man putzen könnte. Also arbeiten sie im Stadtzentrum von Lima. Sie nehmen einen Kasten mit, in dem sie alles verstauen, was sie für ihren »Beruf« brauchen. Aber sie schleppen ihn natürlich
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