Sol-Geborene
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Er eilte davon. Während er durch die Korridore rannte, zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er Alina aus dieser unglückseligen Abhängigkeit von ihren Eltern befreien konnte, aber das hatte er schon so oft getan, daß ihm nichts mehr einfiel.
Es gab nur einen Ausweg: Alina mußte selbst diese geistige Nabelschnur durchtrennen, da ihre Eltern offensichtlich nicht dazu imstande waren. Er konnte ihr nicht vorwerfen, daß sie es nie versucht hatte - es hatte oft genug Ärger zwischen Eltern und Tochter gegeben. Der fürchterlichste Krach hatte damals stattgefunden, als Alina ihnen Mike vorstellte und den eben geschlossenen Ehevertrag präsentierte.
Weg mit den Erinnerungen! Da war die Wohneinheit der Hendersons. Er sah sich um, und glücklicherweise war niemand in der Nähe. Versuchsweise legte er die Hand auf den Meldekontakt, aber natürlich kam niemand, um ihn hereinzulassen. Verbissen begann er an der Tür herumzuhantieren. Zum Glück wußte er, was zu tun war. Als er die Tür gerade überlistet hatte, bog ein Nachbar der Hendersons um die Ecke.
»He!« rief er Mike zu und hob die Hand, aber Mike zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen, stieß die Tür auf und rannte in die Schlafkabine.
Die Hendersons waren stockkonservative Leute. Sie haßten den Gedanken, mit einem Raumschiff durch die Gegend zu fliegen, anstatt in einem luxuriösen Bungalow zu wohnen, wie er ihnen auf der Erde gehört hatte. Um die äußeren Umstände so weit wie möglich vergessen zu können, hatten sie sich »eingerichtet«. Irgendwie hatten sie sich die entsprechenden Möbel besorgt und vieles andere dazu. Diese Wohnung mit ihren stets auf Würde bedachten Bewohnern war für Mike von Anfang an ein Alptraum gewesen.
Er hatte nichts gegen alte Menschen, gegen antike Gegenstände und gewisse Ansichten einzuwenden. Aber wenn die Hendersons darauf bestanden, in Betten zu schlafen und die eingebauten Kojen in Blumenfenster zu verwandeln, dann ging das seiner Meinung nach zu weit.
»Was tust du da eigentlich?« rief der Nachbar von der Tür her.
»Die Hendersons sind nicht da. Du kannst doch nicht einfach eindringen«
»Doch, ich kann!« knurrte Mike und riß die Tür zum Schlafzimmer auf. Er sah das Bild, das in einem altmodischen Rahmen steckte. Als er den Rahmen nicht auf Anhieb aufbekam, schlug er ihn gegen die Bettkante. Das Ding zerbrach, und das Bild fiel heraus.
Der Nachbar hatte nun endgültig mitbekommen, daß etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er schrie und zeterte. Mike stieß ihn zur Seite, weil er sonst nicht an ihm vorbeigekommen wäre.
Der Mann versuchte, ihn am Bein festzuhalten, aber es gelang ihm nicht.
Draußen auf dem Korridor ging es jetzt lebhafter zu. Viele Bewohner der benachbarten Wohneinheiten kehrten von der Arbeit zurück, andere waren durch den Lärm aufgeschreckt worden. Als Mike durch die Tür geschossen kam, sah er sich fünf, sechs Terranern gegenüber, die drohend die Fäuste hoben.
Es waren alles ältere Männer, und den meisten von ihnen sah man an, daß sie nicht eben zu den fleißigsten Besuchern in den Fitneßzentren zählten. Der Gedanke, ihnen weh tun zu müssen, widerstrebte dem SOL-Geborenen. Darum setzte er über sie hinweg, in einem scheinbar ganz mühelosen Sprung, stieß ein paar andere zur Seite und war auf und davon, ehe der Rest der aufgeregten Schar überhaupt erkannte, was sich abgespielt hatte.
Er gab sich keinen Illusionen hin. Die Leute kannten ihn, wußten, wie er hieß und wo er wohnte. Vor allem konnten sie ihn beschreiben. Sie würden Alarm geben, und binnen weniger Minuten würde man ihn in der ganzen SZ-2 suchen.
'Ich muß noch schneller sein', dachte er. 'Wenn ich erst aus der SOL heraus bin, dann können sie lange nach mir suchen. Ich muß die Kinder finden, ehe man mich wieder einfängt!'
Das Dumme war nur, daß er sich beeilen mußte. Dadurch fiel er nur noch mehr auf. Es war ganz erstaunlich, wie viele Menschen um diese Zeit in der SZ-2 unterwegs waren. Mike kam es so vor, als habe er die komplette Besatzung dieser SOL-Zelle passiert, bis er endlich einen Antigravschacht erreichte.
Ungeduldig stieß er sich ab, um seine Geschwindigkeit zu erhöhen. Der Schacht führte nicht bis zur Hauptschleuse hinab, und er hetzte durch Gänge, die glücklicherweise menschenleer waren, bis er den zentralen Schacht fand und endlich dem ersehnten Ziel entgegensank.
In der Schleuse herrschte reger Betrieb. Mike wunderte sich flüchtig darüber, wie viele Menschen in die SZ-2 kamen, aber dann fiel ihm ein, was Alina ihm erzählt hatte - daß einige nach draußen gegangen waren, um für Rhodan zu werben. Diese Leute kehrten nun offenbar in Scharen zurück.
Dem SOL-Geborenen wurde der Kragen zu eng, als ihm aufging, was das bedeuten mochte: Stand etwa der Start der SOL schon unmittelbar bevor? Wenn er jetzt noch nach draußen ging - riskierte er es dann, selbst zurückzubleiben?
Unwichtig, entschied er. Es geht um die Kinder.
Er wandte sich an einen Terraner in lindgrüner Uniform, den er für ein Mitglied der Schleusenwache hielt.
»Bitte«, sagte er. »Ich brauche eine Auskunft. Sind diese Leute hier durchgekommen?«
Dabei hielt er dem Mann das Foto unter die Nase. Der Uniformierte sah nicht einmal hin.
»Mann«, knurrte er, "was glaubst du wohl, was hier los ist?
Denkst du, ich könnte mir jedes Gesicht merken?"
Damit wollte er sich abwenden, aber Mike hielt ihn an der Schulter fest. In seiner begreiflichen Erregung packte er härter zu, als es nötig gewesen wäre, und der andere schrie unwillkürlich auf. Dadurch machte er andere auf sich aufmerksam.
»Laß los!« brüllte der Uniformierte. »Verdammt, was will denn dieser Irre von mir?«
Mike gab es noch nicht auf.
»Sieh dir das Bild an!« bat er beschwörend. »Es handelt sich um diese vier hier - zwei alte Leute und zwei Kinder. So etwas muß doch auffallen!«
Der Uniformierte nahm das Bild, und Mike ließ den Mann endlich los. Der andere rieb sich mit schmerzverzogener Miene die Schulter.
»Nein«, sagte er, als er das Bild lange genug angesehen hatte.
»Ich kann damit nichts anfangen. Du hast recht, so eine Gruppe wäre mir sicher aufgefallen, aber sie sind nicht durchgekommen - nicht, solange ich hier Dienst getan habe.«
»Seit wann ist das?«
»Seit zwei Stunden.«
Zwei Stunden Vorsprung! Oder waren es noch mehr?
Andererseits konnten die Hendersons natürlich auch mit einem Transmitter zur SZ-2 oder in die Mittelzelle übergewechselt haben und von dort nach draußen gegangen sein.
»He«, sagte der Uniformierte plötzlich. »Dich kenne ich doch irgendwoher.«
,Ja', dachte Mike. ,Von dem Bild, das du erhalten hast, weil man nach mir sucht.'
Im selben Augenblick berührte ihn jemand an der Schulter. Er unterdrückte den Reflex, der ihn dazu bringen wollte, sich zu wehren.
Zu seiner Überraschung war es jedoch kein weiterer Uniformierter, der ihn zu verhaften gedachte, sondern eine ältere Frau.
»Darf ich mal das Foto sehen?« fragte sie.
Er hielt es ihr schweigend hin.
»Ja«, nickte sie. »Das sind sie. Ich habe sie gesehen.«
»Wo?« fragte Mike atemlos.
»Hier in der Schleuse. Das war vor ungefähr sechs Stunden, als ich nach draußen ging.«
»Wohin sind sie gegangen?« stieß Mike hervor.
»Nach SOL-Town, vermute ich«, sagte die Frau und zuckte die Schultern. "Ich bin ihnen schließlich nicht hinterhergeschlichen.
Aber auf jeden Fall haben sie die SOL verlassen."
»Danke«, sagte Mike, und seine Gedanken überschlugen sich.
Er hatte recht gehabt!
Sollte er Alina benachrichtigen? Sicher saß sie schon wie auf Kohlen. Aber er durfte keine Zeit mehr verlieren. Es würde schwer genug werden, die Kinder da draußen zu finden, in dieser riesigen Stadt.
Zum ersten Mal kam ihm zu Bewußtsein, was er sich vorgenommen hatte. Wie sollte er vier Menschen finden, in einer Stadt, in der Millionen lebten? Der Mut wollte ihn verlassen, und er kämpfte gegen das Gefühl der Hilflosigkeit an, bis sich plötzlich abermals eine Hand auf seine Schulter legte.
»Warte mal«, sagte der Uniformierte von vorhin, und es klang recht unfreundlich. »Du wirst deinen Ausflug verschieben müssen, bis wir eine bestimmte Frage geklärt haben. Und ehe du auf dumme Gedanken kommst, solltest du dir darüber klar werden, daß ich inzwischen weiß, wo ich dich unterzubringen habe. Mein Freund da drüben hat dich im Visier. Wenn du einen Trick versuchst, paralysiert er dich.«
Mike hatte stets gewußt, wann er sich geschlagen geben mußte. Gegen einen Paralysator nützen auch die besten Dagorgriffe nichts.
»Schon gut«, murmelte er. »Wie geht es weiter?«
»Das wirst du gleich sehen«, brummte der Uniformierte. Dann wandte er sich an die Neugierigen, die mittlerweile einen dichten Ring um die beiden bildeten. »Geht weiter, Leute, hier gibt es nichts zu sehen. Ihr versperrt nur den anderen den Weg.«
»Da hinüber«, sagte er zu Mike, als der Ring sich auflöste.
»Und immer hübsch ruhig bleiben. Du hast gar keinen Grund, nervös zu werden.«
Mike war es trotzdem. Er versuchte, seine Chancen zu berechnen. Gab es eine Stelle, an der er gegen den Mann mit dem Paralysator abgedeckt war und an der der Uniformierte ihn vorbeilotsen mußte?
Er war so in seine Gedanken vertieft, daß er die ältere Frau gar nicht bemerkte, die plötzlich neben ihm herging. Erst als sie ihn ansprach, wurde er auf sie aufmerksam.
»Keine Angst«, sagte sie. »Ich kann bezeugen, daß du dem Burschen da nicht weh tun wolltest. Er hätte sich das Bild ansehen sollen!«
Mike mußte plötzlich lächeln. Die Frau lächelte zurück.
»Was hast du denn angestellt?« fragte sie und warf einen bezeichnenden Blick auf seinen Unterarm.
»Das war nur ein Sportunfall«, sagte er verlegen. »Aber ich bin in eine Wohneinheit eingebrochen, um das bewußte Bild zu holen.«
»Ein Einbrecher und ein Dieb«, sagte sie, aber sie lächelte immer noch. »Das sieht man dir gar nicht an!«
»Das Bild zeigte meine Kinder«, erklärte Mike. »Und die Eltern meiner Frau. Sie wollen hier auf Gäa bleiben - ich meine, die alten Leute wollen das, und sie wollen auch, daß wir hierbleiben. Ich habe den Verdacht, daß sie die Kinder aus der SOL gelockt haben.«
Ihr Lächeln erlosch. Sie drehte sich zu dem Uniformierten um.
»Hast du das gehört?« fragte sie. »Ja«, sagte er unbewegt.
»Und was hältst du davon?«
»Woher soll ich das jetzt schon wissen? Mein Kollege holt jemanden her, der sich mit der ganzen Sache befassen kann. Ich habe weiß Gott keine Zeit dazu, Polizist zu spielen!«
»Dann halte dich am besten ganz heraus!« empfahl die Frau ziemlich scharf. »Ich gehöre nämlich zu denen, die für so etwas zuständig sind!«
Dabei holte sie eine kleine Karte hervor, ein Abzeichen, wie Mike es in seinem Leben nur sehr selten gesehen hatte. Er hatte zwar gewußt, daß es einen Sicherheitsdienst an Bord gab, aber diese Leute blieben stets unauffällig. Als SOL-Geborener war Mike dazu erzogen worden, die Sicherheit des Schiffes unter allen Umständen zu bewahren, und schon darum hatte er niemals einen Zusammenstoß mit den Sicherheitskräften gehabt.
»Warum hast du das nicht gleich gesagt!« murrte der Uniformierte.
»Weil wir uns nicht um jede Kleinigkeit kümmern, die an Bord passiert«, erwiderte die Frau ruhig. »Wenn der Mann hier aber die Wahrheit sagt, dann handelt es sich um einen Fall von Kidnapping - und das geht uns etwas an!«
»Nimm ihn«, knurrte der Mann von der Schleusenwache. »Ich bin froh, wenn ich ihn los bin.«
»Du hast es gehört«, sagte die Frau. »Komm.«
Er sah, daß sie ihn ins Innere der SOL zurückbringen wollte, und unwillkürlich zögerte er.
»Du hast da draußen keine Chance«, sagte sie gelassen. »Die Stadt ist riesig - du würdest womöglich Jahre brauchen, um deine Kinder zu finden!«
»Du machst mir etwas vor!« beschuldigte er sie. »Die SOL kann jeden Moment starten...«
»Nein«, sagte sie entschieden. "Das kann sie eben nicht. Noch befinden sich ein paar von uns in SOL-Town, und die Abstimmung ist noch längst nicht abgeschlossen. Selbst wenn es soweit ist, bleiben uns noch ein paar Stunden, denn wir müssen ja auch noch die Lotsen an Bord nehmen, ohne die wir nicht durch den Staubmantel kommen. Paß auf, wir haben nur eine Chance: Wir müssen die Polizei von SOL-Town einschalten.
Von unserer Zentrale aus kann ich das mühelos tun. Also - kommst du mit, oder willst du lieber da draußen herumrennen und riskieren, daß die SOL ohne dich und die Kinder startet?"
Er senkte den Kopf. »Ich komme mit!« murmelte er.
»Das ist sehr vernünftig von dir«, bemerkte sie aufatmend. »So, und nun erzähle mal, wie es zu dieser Situation gekommen ist!«
Gehorsam berichtete er über die Spannungen, die zwischen ihm und den Hendersons stets geherrscht hatten, von den Ansichten, die die alten Leute vertraten, und von dem Gespräch, das zwischen ihm und seiner Frau stattgefunden hatte.
Schließlich landeten sie vor einem kleinen Büro. »Wolke« stand auf der Tür.
»Ist das dein Name?« fragte er verwundert.
Die Frau nickte.
»Meine Eltern haben mich so genannt«, erklärte sie, und in ihren Augen blitzte es spöttisch auf. »Wahrscheinlich in einem Anfall von akuter Melancholie.«
»Dann bist du auch eine SOL-Geborene?«
Erst im Nachhinein bemerkte Mike, wie taktlos diese Frage war. Aber Wolke lächelte freundlich.
»In gewissem Sinn bin ich eine Terranerin«, erklärte sie. »Ich wurde in einem Gefängnis geboren, weißt du? Die Aphiliker hatten meine Eltern erwischt und eingesperrt, und sie sehnten sich nach der Freiheit. Meine Mutter konnte durch das Fenster den Himmel sehen. Sie sagte mir später, daß sie sich oft gewünscht hat, frei zu sein wie eine Wolke, die über das Land zieht, und sie wünschte sich, daß ich diese Freiheit haben könnte.«
Mike schwieg betroffen.
Wolke schien seine Befangenheit gar nicht zu bemerken. Sie ging voran und deutete auf einen Interkom-Anschluß.
»Es wird höchste Zeit, daß du deine Frau benachrichtigst«, sagte sie. "Abgesehen davon, daß wir sie möglicherweise brauchen werden. Aber sie soll vorläufig noch nicht hierher kommen. Es kann ja sein, daß der alte Herr Gewissensbisse spürt.
Für diesen Fall sollte jemand in der Wohneinheit sein." Mike sah das ein. Irgendwie war er erleichtert, daß sich nun jemand in die Sache einschaltete, der Bescheid wußte. Warum war er nicht eher auf die Idee gekommen, sich an Leute wie Wolke zu wenden?
,Weil ich gar nicht an den Gedanken gewöhnt bin, daß es solche Menschen gibt', dachte er.
Betroffen erkannte er, daß er den Sicherheitsdienst, auch wenn er noch so unauffällig arbeitete und sich in die internen Angelegenheiten der SOL-Geborenen niemals einmischte, stets instinktiv abgelehnt und ignoriert hatte. ,Warum?' fragte er sich, und er erkannte fast im gleichen Augenblick die Antwort: Es war eine terranische Einrichtung. Allein deswegen hatte er sie aus seinem Bewußtsein so erfolgreich verdrängt, daß er selbst in der Stunde der höchsten Not nicht auf den Gedanken verfiel, ausgerechnet hier Beistand zu suchen.
Alina meldete sich ungeheuer schnell. Er berichtete ihr in Stichworten, was er bisher herausgefunden hatte, und ihr Gesicht wurde aschfahl.
»Er hat es also tatsächlich getan!« murmelte sie fassungslos.
Mike beobachtete sie, und sie tat ihm furchtbar leid. Er wünschte, er wäre jetzt bei ihr gewesen, um sie in die Arme nehmen und trösten zu können. Und gleichzeitig verspürte er ein Gefühl, das ihn erschreckte: Triumph.
Er wußte, daß er in diesem Augenblick endlich über Alinas Eltern gesiegt hatte. Was auch immer geschehen mochte - die geistige Nabelschnur war gerissen. Alina war frei - sie würde sich nie wieder einwickeln lassen.
Er schämte sich dieser Gedanken und Gefühle, aber das half ihm nicht, sie loszuwerden.
Im Hintergrund hörte er Wolke reden. Sie hatte ihm irgendwann das Foto aus der Hand genommen. Jetzt stopfte sie es in irgendeinen Apparat, und er atmete auf, als es unbeschädigt wieder zum Vorschein kam.
Wolke hob schließlich den Kopf und sah ihn an.
»Jetzt können wir eigentlich nur noch warten«, sagte sie leise.
»Irgend jemand hat die Anweisung gegeben, daß die Leute von der SOL auf Gäa wie Gäste behandelt werden. Sie brauchen nichts zu bezahlen - die Regierung des NEI übernimmt alle Rechnungen. Das bedeutet natürlich, daß man die Wege der SOL-Bewohner genau rekonstruieren kann. Jeder von uns, der etwas ißt, trinkt, einen Gleiter mietet und so weiter, wird vom gäanischen Kreditsystem sofort erfaßt.«
Sie sah zu dem Bildschirm hinüber, auf dem Alina zu sehen war.
»Dein Mann hat mir viel über deine Eltern erzählt«, sagte sie.
»Wenn er die beiden richtig einschätzt, dann haben sie sich so schnell wie möglich ein eigenes Haus beschafft - stimmt das?«
»Ich glaube schon«, sagte Alina unsicher. "Das war immer ihr Traum. Sie haßten es, in eine Wohneinheit gesteckt zu werden.
Aber sie haben die Kinder bei sich. Es ist durchaus denkbar, daß sie ihretwegen alle eigenen Wünsche vorerst zurückstecken."
»Ich habe mir das auch schon überlegt«, sagte Wolke nachdenklich. »Nun, die Fahndung läuft, und es kann nicht allzu schwer sein, die Hendersons und die Kinder aufzutreiben. Es sind nur noch wenige von uns in der Stadt. Es kommt jetzt nur noch darauf an, wie schnell die verschiedenen Rechnungen an die Kreditzentrale weitergeleitet werden.«
Wolke warf einen Blick auf ihren Bildschirm.
»Im Augenblick laufen auf dem Konto SOL nur Rechnungen herein, die unverdächtig sind«, murmelte sie. »Es handelt sich um Kleinigkeiten. Getränke, Speisen, Fahrtkosten. Gibt es irgend etwas, das die Kinder besonders mögen?«
»Ja«, sagte Mike überrascht, denn er hatte an diese Art der Fahndung überhaupt nicht gedacht. »Celina ist im Augenblick wild entschlossen, Botanikerin zu werden. Und Mark«, er zögerte, aber dann gab er das Geheimnis doch preis», Mark gehört zu denen, die die Sterne lieben.«
»Tut er das per Bildschirm, oder geht er hinaus?« vergewisserte Wolke sich.
»Er geht hinaus.«
»Das ist doch immerhin etwas«, meinte Wolke und hämmerte auf einer Schalttafel herum. »Komm her und beobachte den Schirm. Du brauchst keine Angst zu haben, daß dir etwas durch die Lappen geht. Das funktioniert alles automatisch.«
Mike gehorchte, und Wolke setzte sich inzwischen abermals mit der Polizei in SOL-Town in Verbindung.
Auf dem Bildschirm flimmerten Zahlen und Buchstaben vorbei, so schnell, daß Mike sie nicht lesen konnte. Ihm wurde ganz schwindelig dabei.
»Mir scheint, es sind doch noch sehr viele SOL-Bewohner draußen«, murmelte er.
Wolke trat neben ihn.
»Nein«, sagte sie kopfschüttelnd. »Aber wir nutzen die Gelegenheit, um unsere Vorräte aufzufüllen. Dieses Geflacker wird bald nachlassen.«
Sie behielt recht. Schon wenig später blieben manche Bezeichnungen lange genug stehen, daß Mike sie lesen konnte, und dann kamen überhaupt nur noch einzelne Informationen herein.
Mike saß mittlerweile wie auf Kohlen. Die Abstimmung lief immer noch, aber es konnte jetzt nicht mehr lange dauern.
»Komm schon, Henderson«, sagte er beschwörend und starrte dabei auf den Schirm. »Kauf den Kindern ein paar Geschenke!«
Er zuckte verblüfft zurück, als - wie auf ein Stichwort - eine neue Schriftzeile aufleuchtete, diesmal aber in Rot.
»Wolke!« schrie er. »Schnell!«
Sie war schon neben ihm und tastete auf dem Schaltbrett herum. Zusätzliche Daten erschienen, und sie gab sie in aller Eile über ein Mikrophon an die gäanischen Polizisten weiter.
»Ein Haus wurde gekauft, außerhalb von SOL-Town. Großes Grundstück, sehr teures Objekt. Verkäufer ist die Agentur Ziesel, Konto. . .«
»Die Agentur ist bekannt«, sagte eine kühle Stimme. »Wir forschen nach.«
»Was passiert jetzt?« fragte Mike ängstlich.
»Wir müssen warten«, erklärte Wolke. Sie sah zu jenem Bildschirm hinüber, auf dem noch immer Alina zu sehen war. Die Kinder waren bisher nicht in der Wohneinheit aufgetaucht.
Wolke rechnete auch nicht damit, daß das jetzt noch geschehen würde.
»Leider werden diese Privatkäufe anonym abgewickelt«, erklärte sie. »Der Name des Käufers wird nicht gemeldet, weil keiner von uns eine gäanische Kreditkarte hat. Es besteht also die Möglichkeit, daß die Hendersons nichts mit diesem Haus zu tun haben.«
»Aber wer sollte sonst so verrückt sein, dort draußen ein Haus zu kaufen?«
Wolke lachte.
»Es gibt noch mehr Terraner an Bord«, bemerkte sie. "Einige haben sich entschlossen, hierzubleiben. Es sind nicht viele, höchstens ein paar Dutzend. Mag sein, daß einer von ihnen beschlossen hat, sich schnell noch auf Kosten der SOL ein Haus zu besorgen.
Abgesehen davon ist die Kriminalität auf Gäa zwar sehr gering, aber ein paar Schmarotzer gibt es auch dort. Natürlich wird die Agentur bei einem so teuren Objekt nachfragen, ob es sich tatsächlich um einen SOL-Bewohner handelt, aber man kann nie wissen..."
Mike verzog das Gesicht. Die Wunde, die er in der Aufregung fast vergessen hatte, begann zu schmerzen. Ihm wurde bewußt, daß es bereits wieder Morgen wurde. Die ganze Nacht hindurch hatte er keine Minute Schlaf gefunden. Er fühlte sich elend und ausgelaugt. Schuldbewußt sah er Alinas Abbild an.
»Geh schlafen!« bat er. »Du kippst ja schon fast um.«
»Nein!« erwiderte sie.
»Wir wissen jetzt, um welches Haus es sich handelt«, sagte die kühle Stimme von vorhin. »Es ist bereits jemand unterwegs.«
Und wenig später: »Fehlanzeige. Das habe ich gleich gedacht. Diese Agentur Ziesel ist uns schon seit langem ein Dorn im Auge. Das Haus gehört dem Inhaber der Agentur. Er hat es sozusagen an sich selbst verkauft. Der Schwindel wäre sicher auch so früher oder später aufgeflogen.«
Das Warten ging weiter. Und dann, völlig unerwartet, meldete sich der Polizist wieder.
»Wir haben eine Spur.«
»Worum handelt es sich?« fragte Wolke hastig.
"In einem Hotel hat es eine Auseinandersetzung gegeben.
Zwei Erwachsene und zwei Kinder, auf die die Beschreibung paßt, hatten Zimmer gemietet. Es scheint, als hätten die Kinder das Hotel verlassen wollen und als wären sie von den Erwachsenen daran gehindert worden. Dabei ging es so laut zu, daß das Hotelpersonal uns benachrichtigte."
»Das sind sie!« sagte Mike überzeugt.
Wolke zuckte die Schultern.
»Warten wir es ab«, empfahl sie.
Mikes Gedanken überschlugen sich. Er sah die Szene förmlich vor sich, aber in seinem übermüdeten Gehirn geriet sie zur Slapstick-Komödie. Er sah Henderson als hinkenden Greis, der stockschwingend hinter der fliehenden Celina herrannte, und Mark, der seine Großmutter mit allem bombardierte, was ihm zwischen die Finger geriet.
Er rieb sich die Stirn und scheuchte diese Bilder weg.
»Ist es weit bis zu diesem Hotel?« fragte er.
»Von der SOL aus schon«, sagte der Polizist. »Aber für uns ist es nur ein Katzensprung. Bleiben Sie ganz ruhig, Sie bekommen Ihre Kinder zurück.«
»Hast du dem irgend etwas über mich erzählt?« fragte Mike zu Wolke hinüber.
Sie lächelte nur.
Der Polizist lächelte ebenfalls: »Sie hat mir berichtet, daß Sie ein Dagor-Experte sind. Ich habe sie gefragt, ob es einen Sinn hat, eine Abwerbung zu versuchen, denn wir können Leute wie Sie immer brauchen. Aber sie sagte mir, daß Sie die SOL nicht verlassen werden. Warum eigentlich nicht?«
»Ich glaube nicht, daß Sie das verstehen würden«, sagte Mike nüchtern. »Abgesehen davon bin ich kein Raufbold, der sich an alten Leuten vergreift.«
»So war es auch gar nicht gemeint. Immerhin - wenn es um das Schicksal Ihrer eigenen Kinder geht...«
»Auch dann nicht!«
»Das Hotel ist für Sie wirklich schwer zu erreichen. Das war keine Finte, mit der ich Sie vom Schlachtfeld fernhalten wollte!«
Mike schwieg, und es trat eine Pause ein.
»Meine beiden Kollegen sind jetzt im Hotel«, sagte der Polizist schließlich. »Sie haben Glück, Sinac - es sind tatsächlich Ihre Schwiegereltern und Ihre Kinder.«
Mike fühlte sich wie ein Ballon, aus dem ganz langsam die Luft herausgelassen wird. Er war noch nie in seinem Leben ohnmächtig geworden, aber er wußte, daß er diesmal kurz davorstand. Alina sackte in sich zusammen, barg das Gesicht in den Händen und weinte vor Erleichterung. Der SOL-Geborene riß sich mühsam zusammen.
»Bringt man sie her?« fragte er mit einer Stimme, die ihm fremd vorkam.
»Ja, natürlich«, erwiderte der Polizist. »Die Situation ist ziemlich eindeutig. Die Kinder verlangen lautstark, daß man sie auf dem schnellsten Wege in die SOL schafft. Die Hendersons verlangen ebenso lautstark, daß man sie und die Kinder in Ruhe läßt. Sie behaupten, die Eltern der beiden zu sein, und pochen auf ihre Rechte.«
»Mark ist achtzehn!« stieß Mike hervor.
»Ich weiß«, murmelte der Polizist amüsiert. »Aber glauben Sie mir, er wehrt sich so erbittert gegen die Pläne seiner Großeltern, daß wir selbst einen Dreijährigen nicht ohne jede Absicherung bei diesen Leuten lassen würden.«
Er schwieg für einen Augenblick.
»Jetzt hat Henderson gemerkt, daß er mit seiner Version nicht durchkommen wird«, meldete er dann. »Mein Kollege hat ihm mitgeteilt, daß man ihn wegen Entführung und Nötigung vor Gericht stellen wird.«
Mike sah wie unter einem inneren Zwang zu Alina hin. Ihre Blicke kreuzten sich, und er senkte betroffen den Kopf.
»Sagen Sie Ihrem Kollegen, daß er solche Späße lassen soll!« bat er rauh.
»Wieso ist das ein Spaß?« wunderte sich der Gäaner. »Es trifft doch genau die Tatsachen. Nach allem, was ich bisher gehört habe, wurden die Kinder nach allen Regeln der Kunst von Bord gelockt und dann gewaltsam in diesem Hotel festgehalten. Man wollte Sie und Ihre Frau unmittelbar vor dem Start der SOL davon in Kenntnis setzen, wo sich Ihre Kinder befinden. Sie hätten es nicht fertiggebracht, die Kinder im Stich zu lassen, und die SOL wäre ohne Sie gestartet. So etwas nenne ich Entführung und Nötigung, und jeder anständige Mensch wird mir beipflichten.«
»Sie haben ja recht«, murmelte Mike. »Aber der alte Mann hat es nicht so gemeint. Er bildet sich ein, genau zu wissen, was gut für uns ist. Er hat nach bestem Wissen gehandelt.«
»Das müssen ausgerechnet Sie sagen!« erwiderte der Polizist spöttisch. »Sie sollten mal hören, was Ihr Schwiegervater über Sie zu sagen hat. Er läßt kein gutes Haar an Ihnen.«
»Er mag mich nicht«, sagte Mike ruhig. »Aber das weiß ich schon seit vielen Jahren.«
»Na schön, das ist ein Problem, mit dem Sie selbst fertig werden müssen. Auf jeden Fall haben sich Ihre Schwiegereltern nach unserem Gesetz schuldig gemacht.«
Mike schwieg. Es hatte keinen Sinn, diesem Mann klarmachen zu wollen, wie es an Bord der SOL aussah - wie sollte man einem Außenstehenden erklären, wie es zu dem Konflikt zwischen den Terranern und den SOL-Geborenen gekommen war und wie tief dieser Konflikt mittlerweile reichte? Es war ja schon fast unmöglich, mit den Terranern selbst darüber zu reden.
Wolke trat zu ihm heran und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie sanft. »Wir werden das schon regeln. Die Hendersons werden die freie Wahl haben.«
Erschrocken sah er zu Alina hinüber, denn er witterte Gefahr. Aber Alina schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Ich bleibe«, sagte sie leise. »Sie können mich jetzt nicht mehr nach draußen bringen. Was sie auch sagen werden - ich werde diese Stunden niemals vergessen.«
Mike dachte an Henderson, und ihn überkam jenes seltsame Mitleid, das er immer dann verspürte, wenn er in einem Kampf gesiegt hatte.
Henderson hatte alle Trümpfe in der Hand gehalten, er hätte siegen müssen, und zweifellos hatte er das auch gewußt. Mike dagegen hatte gewissermaßen mit gefesselten Händen kämpfen müssen.
Seitdem die SOL die Milchstraße erreicht hatte, mußte er mit einem solchen Zwischenfall rechnen, und er hatte es auch getan.
Aber es gab so gut wie nichts, das er unternehmen konnte. Er konnte nur warten. Er hatte damit gerechnet, daß Henderson Alinas Abhängigkeit von ihren Eltern ausnutzte, und darauf hatte er sich in gewisser Weise eingerichtet. Er hatte jedoch niemals damit gerechnet, daß der alte Mann die Kinder in den Kampf einbeziehen würde.
Henderson hatte gekämpft, auf seine Weise, und er hatte sich tapfer geschlagen. Nun hatte er verloren. Die Kinder waren schon jetzt in Sicherheit. Weder die gäanischen noch die SOL-Behörden würden Mark und Celina jetzt noch in die Obhut ihrer Großeltern geben. Alina war sich endlich ihrer Position in diesem Tauziehen bewußt geworden und würde nicht länger den Befehlen des Alten gehorchen.
Aber was geschah mit diesen alten Leuten, die Sehnsucht nach dem Leben auf einem Planeten verspürten?
Mike konnte sich mühelos in seinen Gegner hineinversetzen, und plötzlich begriff er, warum Henderson von Anfang an so erbittert gegen ihn gekämpft hatte: Der alte Mann mußte geahnt haben, daß er durch Mike seinen Einfluß auf Alina verlieren würde. Alina hatte keine Geschwister. Die Liebe ihrer Eltern hatte sich stets auf die einzige Tochter konzentriert. Es war eine Liebe, die nicht nur positive Aspekte hatte, gewiß - aber es war die einzige Liebe, zu der diese beiden Menschen fähig waren.
Was würden sie tun, wenn sie diese Liebe verloren? Zum ersten Mal in seinem Leben verfluchte Mike die Tatsache, daß die SOL so lange Zeit umhergereist war.
,Wir waren zu isoliert, zu einsam', dachte er. ,Die Welten, die wir besucht haben, waren nicht für Menschen gemacht. Wir hatten gar keine Wahl, als uns an dieses Schiff zu klammern und es zu unserer Heimat zu machen. Die Terraner dagegen haben ein Bild von der Erde in ihrem Gedächtnis bewahrt, und sie sehnen sich nach dem Leben auf einem Planeten, der der Erde wenigstens in vielen Punkten gleicht. Wir werden uns niemals verstehen können - die Terraner und die SOL-Geborenen. Ein Planet bedeutet zyklisches Leben, die ewige Wiederkehr von Wärme und Kälte, Regen und Dürrezeiten, von Krieg und Frieden. An Bord der SOL gibt es das alles nicht, und wir werden nie verstehen, warum die Terraner ein solches Leben vorziehen könnten. Natürlich gibt es auch in der SOL Gefahren, aber die kommen stets von draußen, und die Quelle der Gefahr ist normalerweise ein kosmisches Objekt, das sich nicht frei bewegen kann. Die SOL könnte diesen Gefahren durchaus ausweichen. Wenn das jetzt nicht geschieht, dann liegt es an der Schiffsführung, und die setzt sich aus Terranern zusammen.
Vielleicht werden die Terraner eines Tages die SOL verlassen.
Dann werden wir einen Kurs steuern, auf dem uns praktisch keine Gefahren mehr begegnen.'
Er erschrak über seine eigenen Gedanken.
,Nein!' dachte er hastig. ,Dieser Fall wird niemals eintreten, und wir werden nicht in die Verlegenheit kommen, einen solchen Weg einzuschlagen!'
Aber vor seinem inneren Auge stand unverrückbar das Bild einer SOL, die auf ewig zwischen den Sternen dahinschwamm, allen Gefahren ausweichend, auf Distanz zu den Nöten und Leiden eines natürlichen Lebens bedacht. Eine solche Lebensweise mußte unweigerlich in die Degeneration führen.
Oder nicht?
Er fühlte sich von Zweifeln zerrissen, und er wünschte sich, er hätte jetzt ein paar Stunden lang schlafen können. Dann wäre sicher wieder Klarheit in seine Gedanken gekommen.
Der Wunsch war illusorisch, und sein Gehirn, gereizt und angestachelt durch die schrecklichen Bilder, lieferte ihm ein wahres Kaleidoskop des Grauens.
Er sah die Menschen an Bord der SOL sich nach dem Rückzug der Terraner hemmungslos vermehren, sah seine Welt enger werden und ärmer, bitterarm. Er sah Diktatoren, die sich zu Herrschern über das Schiff aufschwangen. Er sah den Verfall den der Technik und den der Moral. Er sah Menschen, die andere Menschen jagten, weil diese armen Kreaturen Mißbildungen aufwiesen. Und er sah Menschen, die im Weltraum zu existieren vermochten und dennoch alles andere als beneidenswert waren.
Mike versuchte, diesen Strom von Bildern zu stoppen, aber es gelang ihm nicht: Es war, als wäre eine Schleuse in seinem Gehirn geöffnet worden.
,Hör auf!' dachte er verzweifelt und preßte die Hände vor die Stirn.
Aber es hörte nicht auf. Es zeigte ihm statt dessen seinen eigenen Lebensweg. Endlose Reihen von Schülern, die er in der Kunst unterwies, sich gegen diverse Gefahren zu verteidigen Gefahren, die es zu dieser Zeit in der SOL gar nicht gab. Er sah sich selbst, wie er sich abrackerte, seinen Körper schund und seinen Geist schulte, um jene Vollkommenheit zu erlangen, nach der Menschen seiner Art stets strebten.
Was nutzte es ihm, wenn er dieses Ziel erreichte? Er konnte seine Kenntnisse so gut wie nie wirklich gebrauchen.
Plötzlich erkannte er, daß dieses Leben für ihn bisher nur eine Art Spiel gewesen war, und er war des Spielens überdrüssig. Er war ein Mann, und er war größeren Aufgaben gewachsen - das wußte er schon seit langem. Er hatte es nur stets als selbstverständlich genommen, daß es keine andere Möglichkeit für ihn gab, als sich mit diesen Spielereien zu begnügen.
Über einen von Wolkes Kommunikatoren kam die leise, fast wispernde Auskunft, daß die Abstimmung abgeschlossen sei. Rhodan hatte sein Spiel verloren. Mike dachte, daß es schlimm sein mußte, in einer Angelegenheit, für die man sich so leidenschaftlich engagierte, wie Rhodan es getan hatte, eine Niederlage hinzunehmen. Gleichzeitig erkannte er, daß er selbst in seinem Leben nur um zwei Dinge gekämpft hatte: Um seine Familie und deren Frieden und um die Vollkommenheit auf einem Gebiet, das an Bord der SOL als reiner Sport angesehen wurde.
Ganz gleich, wie die Sache mit Henderson ausging: Mike würde der sein, der unterlag, auch wenn es im ersten Moment scheinen mochte, als hätte er auf der ganzen Linie gesiegt. Er dachte an seinen Lehrmeister, der ihm immer und immer wieder gepredigt hatte, nicht die Konfrontation zu suchen, sondern sich seinem Gegner anzupassen. Eines Tages hatte der alte Mann ihn bei einer Landung nach draußen geschickt, mit dem Befehl, sich ein paar Pflanzen anzusehen. Mike hatte sich gehorsam zu Boden gesetzt und beobachtet. Er hatte den Wind gespürt, der die langen Stengel bis zum Boden herabbeugte - aber sie hatten sich wieder aufgerichtet. Er war durch hohes Gras gegangen, und als er zurückblickte, waren die ersten Halme bereits dabei, sich wieder in ihre alte Lage zu begeben. Er hatte erkannt, daß die Nachgiebigkeit dieser Pflanzen zugleich ihre Stärke war. Dann war er in ein Gebiet geraten, in dem andere Pflanzen wuchsen. Sie waren hart, starr, stachelig und wuchsen steil und stolz in die Höhe. Der leichte Wind konnte sie nicht bewegen. Die kleineren, auf die er trat, zerbrachen knisternd und knackend. Den größeren mußte er ausweichen, wenn er sich nicht an ihren Zweigen verletzen wollte. Aber der Wind wurde zum Sturm, und als er danach diese Pflanzen wieder besuchte, da waren die höchsten und stolzesten unter ihnen einfach abgebrochen - das nachgiebige Gras dagegen richtete sich bereits wieder auf, und er fand kaum einen Halm, der auch nur angeknickt war.
Er hatte die Lektion gelernt und begriffen. Wenn hart und hart aufeinandertrafen, dann endete der Kampf mit der Zerstörung eines dieser beiden Gegner. Das Gras war sanft, es beugte sich, anstatt zu zerbrechen. Gleichzeitig war es stark - es richtete sich wieder auf, kaum daß das Gewicht von ihm genommen war.
,Ich will sein wie das Gras', wiederholte er in Gedanken das, was er seinem Lehrer damals gesagt hatte. ,Nachgiebig und weich, wenn der Widerstand zu stark wird, und stark, wenn die Last wieder von mir genommen wird. Ich will lernen, die Stärke meiner Gegner zu nutzen, sie umzuleiten und sie auf sie selbst zu richten.'
Er hatte sich an diesen Vorsatz gehalten. Nur diesmal hatte er das alles völlig vergessen.
Er hatte Alinas Wünschen seine eigenen Wünsche entgegengestellt, und er hatte die Hendersons eines Verbrechens bezichtigt. Objektiv gesehen, hatten die Hendersons dieses Verbrechen auch wirklich begangen - aber das bedeutete wenig. Henderson war in diesem Fall eines jener starren, starken Gewächse, gegen die ein Sturm namens Mike geprallt war. Henderson würde zerbrechen. Und Alina würde auch zerbrechen. In dieser extremen Situation blieb ihr gar keine Wahl, als sich für Mike zu entscheiden. Später, wenn sich alles etwas beruhigt hatte, würde sie anders darüber denken, und sie würde leiden. Ob die Hendersons nun an Bord blieben oder nicht: Alina würde niemals von dem Gedanken loskommen, sie im Stich gelassen zu haben. Sie würde niemals wieder die Alina sein, die er kannte und liebte.
Darunter würden auch die Kinder leiden. Die Gemeinschaft ihrer kleinen Familie würde zerbrechen. Und das alles würde geschehen, weil Mike für ein paar Stunden all das vergessen hatte, was seit langem ein festes Gesetz für ihn war. Aus dem egoistischen, emotionellen Motiv heraus, Henderson eine Niederlage zuzufügen, würde er das opfern, was er liebte - und er würde nichts dabei gewinnen.
Die Schleusenwache meldete die Ankunft der Hendersons und der beiden Kinder. Mike wußte, daß die Zeit jetzt drängte, und ihn überkam Angst.
Wie sollte er unter diesem Zeitdruck die richtige Entscheidung treffen? Seine Überlegungen kamen ihm völlig logisch und richtig vor - aber was, wenn die Müdigkeit ihn auf eine falsche Spur gelenkt hatte? Mußte er den Schritt, den er tun wollte, nicht schon bald bereuen?