Warum und wie der Sozialstaat ins Gerede kam
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Das war das Thema eines Vortrags, den ich im vergangenen Jahr auf einer Tagung der Stiftung Deutsche Postgewerkschaft hielt. Der Text ist aktuell und jetzt in einem von Frank Bsirske, Andrea Kocsis und Franz Treml herausgegebenen Buch erschienen. Ich habe darin beschrieben, wie systematisch und langfristig angelegt am Niedergang der Sozialstaatlichkeit gearbeitet worden ist und was dagegen zu tun wäre. Die Mehrheit unseres Volkes war lange Zeit, mindestens bis zum Jahr 2000, von der Notwendigkeit und Richtigkeit solidarischer Sicherungen überzeugt. Dieses Vertrauen wurde dann immer mehr beschädigt. Ohne Sinn und Verstand. Und nur zur Wahrung privater Interessen. Die Agenda 2010 ist Teil dieses Zerstörungswerks. Albrecht Müller.
Das Buch ist unter dem Titel „Gegen den schleichenden Abbau des Sozialstaats. Konsequenzen – Alternativen – Perspektiven“ beim VSA Verlag Hamburg 2012 erschienen. Genauere Angaben dazu am Ende dieses Beitrags.
Es enthält Beiträge unter anderen von Hans Jochen Vogel, Nikolaus Schneider, Norbert Reuter, Heribert Prantl, René Obermann und Frank Bsirske. Motor der Tagung war der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Postgewerkschaft, Franz Treml, dem auch der Dank für das vorliegende Buch gebührt.
Es folgt der der DPG Stiftung überlassene Text für die Seiten 35-47 des vorliegenden Buches:
Albrecht Müller
Meinungsmache – warum und wie der Sozialstaat ins Gerede kam
Zum Thema, das Sie sich gewählt haben, kann man nur gratulieren. „Gegen den schleichenden Abbau des Sozialstaates“. Würde ich zu Sarkasmus neigen, könnte ich allerdings anmerken: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Denn der schleichende Abbau läuft schon einige Zeit und es ist schon vieles verloren. Aber andere haben überhaupt noch nicht mitbekommen, was mit der versprochenen Sozialstaatlichkeit geschieht. Es ist höchste Zeit, sich darum zu kümmern.
Wir müssen uns fragen, wieso wir eigentlich nicht früher mobilisiert haben. Warum haben die, die eigentlich die geborenen Vertreter der Sozialstaatlichkeit sind, die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie, nicht früher und deutlicher reagiert, als der Anschlag auf dieses wichtige Versprechen unseres Grundgesetzes erkennbar war? Nicht erst 2011, sondern schon in den 1980ern.
Damit will ich nicht unberechtigten Pessimismus pflegen, davor hat Hans-Jochen Vogel mit Recht gewarnt. Ich bin z. B. viel positiver eingestellt als Präses Schneider, wenn er sagt, die Menschen sind so, wie sie sind. Ich habe erlebt, dass wie die Menschen sind, auch davon abhängt, wie man in den Wald hineinruft. Im Laufe meiner politischen Arbeit konnte ich gleich bei mehreren Bundeskanzlern beobachten, dass das Echo der Menschen und ihr Verhalten sehr verschieden sein können. Das hat jetzt viel mit meinem Thema zu tun. Ich will nämlich erklären, warum die vielen sozialen Bekenntnisse, die zitiert wurden – vom Papst und anderen und aus dem Grundgesetz –, warum die eigentlich über weite Strecken so wirkungslos waren. Den Bekenntnissen zum trotz wurde das Gegenteil getan; es wurde ein breiter Niedriglohnsektor installiert, wir haben hierzulande viele prekäre Arbeitsverhältnisse, wir haben das Problem, dass ein Großteil der jungen Menschen keinen Job hat und keine gesicherten Arbeitsverhältnisse.
Gut, wir leben in einem – vergleichsweise – vernünftig organisierten Land, aber wir müssen die Gefahren sehen, wenn es so weitergeht, wie es bis jetzt angelegt ist. Es gibt diese klaren sozialen Bekenntnisse von kirchlicher und sonstiger Seite, und dennoch wird offen davon gesprochen, dass auf die Agenda 2010 noch eine Agenda 2020 folgen müsse. Das ist doch die Realität. Der weitere Abbau der Sozialstaatlichkeit wird vorbereitet. Niemand schützt die Griechen davor, dass man genau da ansetzt, obwohl es ökonomischer Unsinn ist, die Sparprogramme zulasten der Mehrheit des Volkes zu machen. Alle wissen es und dennoch geschieht es. In Griechenland, wie bei uns. Beim Sozialabbau wird Deutschland als Vorbild dargestellt.
Das hat viel mit meinem Thema zu tun, nämlich, dass alle diese vernünftigen Regeln und vernünftigen Grundsätze und vernünftigen Bestimmungen des Grundgesetzes überrollt werden von Propagandaschlachten, die manchmal eben leider stärker sind als das, was an Sozialethik verkündet wird. Diese Kluft beschäftigt mich seit Jahren und jetzt haben Sie mir freundlicherweise das Thema gestellt, warum und wie der Sozialstaat ins Gerede kam.
Die Frage, warum das so gekommen ist, ist relativ einfach zu beantworten. Am Abbau solidarischer Lösungen wird kräftig verdient. Da gibt es z.B. den Carsten Maschmeyer, den muss man sich irgendwie merken, weil es eine zentrale Erklärungsfigur ist, Maschmeyer hat 2005 gesagt, die Finanzdienstleistungsbranche stehe nach der Verlagerung von der staatlichen zur privaten Altersvorsorge vor dem größten Boom, den sie je erlebt hat. Es sei so, als wenn wir – die Finanzbranche – auf einer Ölquelle sitzen, sie ist angebohrt, sie ist riesig groß und sie wird sprudeln. Für die Klärung der Frage nach dem warum ist es wichtig und interessant zu beachten, dass Maschmeyer zwei Freunde hat, die wir kennen und die wir schätzen bzw. geschätzt haben, die mit an dieser Ölquelle sitzen – und andere auch. Die Freunde sind ein ehemaliger Bundespräsident und ein ehemaliger Bundeskanzler. Und von der Zerstörung des Vertrauens in die solidarische Rente und von der Kommerzialisierung der Altersvorsorge profitieren Banken, Versicherungen und Finanzdienstleister wie Maschmeyer. Sie haben die sozialstaatliche Regelung der Altersvorsorge und der Vorsorge für Krankheit und für den Pflegebedarf aus Geschäftsinteresse niedergemacht. Das muss man klar sehen.
Sachliche Gründe für den Abschied vom Sozialstaat gab und gibt es nicht. Es gab Behauptungen und es gab Beschwerden en masse , aber Fakten, wo sind denn die? Die solidarische Vorsorge für das Alter z. B. ist nicht nur humaner, sozialer und weniger riskant, sie ist auch effizienter, das heißt preiswerter zu organisieren. Der Betrieb der privaten Altersvorsorge kostet etwa das zehnfache dessen, was die gesetzliche Rente zu betreiben kostet. Weil Provisionen weggehen, Profite weggehen. Das ist auch völlig logisch, die Leute müssen ja beschäftigt werden, die Finanzdienstleister müssen ja bezahlt werden. Dieses Geld ist schon mal weg und steht für die Altersvorsorge nicht mehr zur Verfügung.
Die Sozialstaatlichkeit erweist sich nicht nur bei der Hilfe für in Not geratene Menschen und in der Organisation der solidarischen Vorsorge für die Risiken des Lebens als vernünftig. Die staatliche Organisation ist auch oft vernünftiger, wenn es um die Produktion von Dienstleistungen geht. Sie, die Postgewerkschafter und andere Beschäftigte aus Bereichen der Daseinsvorsorge, können viel davon berichten, was passiert, wenn man privatisiert, wenn man weggeht von sozialstaatlichen Regelungen. Das haben Sie doch in der Praxis erlebt bei Post und Telekom. Die Berliner erleben es beim Umgang mit ihrer Wasserversorgung, andere erleben es nach der Privatisierung ihrer Stadtwerke. Glücklicherweise gibt es in diesen Bereichen inzwischen eine Gegenbewegung weg von der Privatisierung und hin zur effizienten öffentlich organisierten Versorgung. Nicht nur deshalb, weil es sozialer und menschlicher ist, sondern auch weil viele merken, dass der Weggang von sozialstaatlichen Regelungen teurer und weniger effizient wird.
Darauf müssen wir pochen und auch endlich das Thema „Effizienz“ besetzen. Sozialstaatlichkeit ist eine effiziente Angelegenheit. Damit will ich nicht wegwischen, dass es Probleme mit Missbräuchen sozialer Leistungen gibt. Gerade wenn man wie ich dafür wirbt, den Sozialstaat für eine effiziente Form des Zusammenlebens zu betrachten , darf man die Augen nicht vor der Gefahr von Missbräuchen verschließen. Aber diese zu sehen heißt eben nicht, das Prinzip wegzuwerfen und es in der Praxis nicht mehr gelten zu lassen..
Ich beobachte Meinungsbildungsvorgänge seit langem Das hängt mit meinen Arbeitsfeldern und Funktionen zusammen. Ich fand es zudem interessant, zu beobachten, wie versucht wird, mich zu manipulieren, und wie das gleiche Millionen anderer Menschen geschieht. Heute ist es mein ehrenamtlicher Job als Herausgeber und Schreiber der „Nachdenkseiten“, Meinungsbildungsprozesse und damit auch Manipulationen zu beobachten und zu beschreiben. Seit vielen Jahren sehe und analysiere ich, wie die Gegner des Sozialstaates daran arbeiten, ihn zu diskreditieren. Ohne Rücksicht auf das Grundgesetz. Sie arbeiten seit mindestens 40 Jahren daran. Es fing an nach dem Beginn der Kanzlerschaft Willy Brandts im Jahre 1969. Kurz danach hat man viel Geld mobilisiert, den so genannten Kronberger Kreis und sonstige offene oder anonyme Gruppen und Vereinigungen initiiert. Viel Propaganda lief über die Springer Presse. Die Agitation gegen die Person Willy Brandts und seiner Koalition und gegen die ersten Reformen, die damals noch soziale. Reformen waren. war massiv.
Ich erinnere daran, dass die Große Koalition die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für die Arbeiter eingeführt hatte. Das war sozusagen die Erkennungsmarke für die ab 1969 dann sozialdemokratisch geführte sozialliberale Koalition. Sofort nach der Wahl ging es los bis zur nächsten Bundestagswahl 1972 und darüber hinaus. Ich mache auf ein paar Begriffe aufmerksam, die damals erfunden und in der Agitation verwendet wurden: „Tendenzwende“, das war ein Begriff, der im Herbst 1973 in die öffentliche Debatte eingeführt wurde. Er sollte signalisieren, die Leute seien schon gleich nach dem Beginn des Ausbaus sozialstaatlicher Regelungen damit eigentlich schon nicht mehr einverstanden. Der Wind drehe sich, das sollte die „Tendenzwende“ signalisieren, Biedenkopf war einer der Macher dieser damaligen Propaganda. – Es wurde dann üblich, von „sozialer Hängematte“ und von „Sozialklimbim“ zu sprechen. Hochinteressant war auch, wie die hohen Abzüge vom Lohn ins Gespräch kamen – auch 1973 unmittelbar nach der von der SPD gewonnenen Wahl vom November 1972. Das Jammern um die hohen Abzüge war der Startschuss der Kampagne zur Entstaatlichung. So früh hat das begonnen; die Bild-Zeitung betreibt diese Agitation von damals bis heute penetrant.
Und dann begann auch schon in den 70er Jahren die Kampagne gegen aktive Beschäftigungspolitik, wohl wissend, dass ein gutes und zahlreiches Angebot an Arbeitsplätzen die Arbeitnehmer in die Lage versetzt, auch einmal Nein sagen zu können. Und dass deshalb die Beschäftigungspolitik, die Sorge um viele Arbeitsplätze, also die Sorge um Alternativen, ein entscheidendes Mittel ist, um die Marktmacht der Arbeitnehmer und damit ihr Anteil am Volkseinkommen zu erhöhen. Anfang der 70er Jahre erreichten die Arbeitnehmer einen Anteil am Volkseinkommen von fast 72 %, 2008 lag diese so genannte Lohnquote bei ungefähr 62 % .
Da sehen Sie, welche spürbare Veränderung da eingetreten ist. Das wissen Sie alle aus der praktischen Erfahrung, weil Sie als Gewerkschafter Menschen mit Niedriglöhnen betreuen oder betreut haben; die Ausweitung des so genannten Niedriglohnsektors folgt auch aus der Verweigerung und letztlich aus der systematischen Diskreditierung der Beschäftigungspolitik. Es war in den letzten 30 Jahren Mode geworden die Konjunkturpolitik generell zu verfemen. Man tat so, als gäbe es keine Konjunkturbewegungen mehr und nur noch Strukturprobleme, zu deren Bewältigung man so genannte Strukturreformen empfahl.
Dass so etwas wie konjunkturelle Schwächen und die damit verbundene Arbeitslosigkeit bewusst geplant sein könnten, das klingt nach Verschwörungstheorie. Dass bewusst eine Reservearmee von Arbeitslosen geschaffen wird, klingt abenteuerlich. Aber es ist so. Es gibt einen britischen Notenbänker, Sir Alan Budd, ein politischer Freund von Frau Thatcher, der von der Idee, dass die Erhöhung der Arbeitslosigkeit mehr als wünschenswert und gewollt war, um die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen, berichtete. Die Wiederherstellung der industriellen Reservearmee erlaube es den Kapitalisten, fortan hohe Profite zu realisieren. Das sind seine Worte.
Dass er dies offen sagt, ist ein wohl tuender Beitrag zur Aufklärung. Das Zitat ergänzt, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, eine bemerkenswerte Einlassung des ehemaligen Bundeskanzlers in Davos. Gerhard Schröder rühmte sich dort des Aufbaus eines Niedriglohnsektors in Deutschland.
Ich bin ja nicht so naiv zu meinen, es könne in Deutschland eine politisch wirksame Bewegung gegen den Abbau der Sozialstaatlichkeit geben, ohne dass die SPD dabei mitwirkt. Deshalb kritisiere ich die SPD zwar, aber ich bin der Meinung, dass wir sie brauchen. Ohne die SPD wird es eine politisch wirksame Gegenbewegung gegen den schleichenden Sozialabbau nicht geben können. Allerdings müssen wir uns dann darum kümmern, dass so etwas wie die Agenda 2010 nicht mehr passiert.
Die Agitation gegen die Sozialstaatlichkeit richtete sich in der Vergangenheit auch gegen Vorschläge, die soziale Sicherung auf eine breitere Basis zu stellen. Sie wurden mit clever ausgedachten Begriffen konterkariert. Die Wertschöpfungsabgabe beispielsweise – die wohl vor allem unser Freund Herbert Ehrenberg propagierte – ist ein sehr vernünftiges Konzept gewesen, um die Zahlung der Beiträge für die sozialen Sicherungssysteme auf eine breitere Basis zu stellen. Die Idee wurde aber vernichtet – mit dem Etikett „Maschinensteuer“. Eine „Maschinensteuer“ aufgedrückt zu bekommen, das ist natürlich etwas, was selbst ein IG Metaller nicht toll findet,
Es gab dann noch eine andere wirksame Kampagne, die im Umfeld der Wende zu Kohl ablief. Sie erinnern sich vielleicht: ,Jeder ist seines Glückes Schmied“, sozusagen die Kernbotschaft der Neoliberalen und der Anti-Sozialstaatslobby, und dann kombiniert damit die vom ADAC angestoßene Kampagne „Freie Fahrt für freie Bürger“. Letzteres erwähne ich nur, weil diese Parole auf die Gesamtatmosphäre ausstrahlte. „Freie Fahrt für freie Bürger“ war die Formel, mit der man gegen die zaghaften Versuche des damaligen Verkehrsministers Volker Hauff anging, 1981/82 über die Einführung von Geschwindigkeitsbegrenzungen nachzudenken.
Dann folgte in den achtziger Jahren eine große Kampagne zum „Standort Deutschland“ mit Ausstrahlung auf das Vorfeld der so genannten Reformpolitik von Rot-Grün. Die unterschwellig verbreitete These der Standortdebatte war, dass Deutschland nicht mehr das erfolgreiche Exportland sei. Ich erinnere an die beiden Autoren Steingart und Sinn mit ihren Büchern „Der Abstieg eines Superstars“ und „Ist Deutschland noch zu retten?“ – das war die Atmosphäre zu Beginn des neuen Jahrhunderts und stark geprägt von der zuvor gelaufenen Standortdebatte. Diese Publikationen und Parolen zielten zentral auf die Absenkung der Löhne und der Lohnnebenkosten, deren Höhe schuld an der Arbeitslosigkeit sein sollte. Die Agitation gegen angeblich zu hohe Löhne hatte weit reichende Konsequenzen. Sie ist mitverantwortlich für die mangelhafte Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, für den Niedergang der Binnennachfrage und für unsere heutigen Probleme im Euroraum. Mit dieser Debatte und den daraus folgenden Konsequenzen für die Lohnpolitik wurde der Grundstein gelegt für das Auseinanderlaufen der Lohnstückkosten in Europa. Uns wurde eingeredet, es wäre toll, wenn hierzulande niedrige Löhne gezahlt würden und wenn die Lohnkosten gesenkt werden, das war allgemein akzeptierte Glaubenslehre. Eine lohn- und arbeitnehmerfeindliche Atmosphäre, die wesentlich über Meinungsmache geschaffen wurde.
Der Begriff „Lohnnebenkosten“ trägt das falsche Verständnis schon in sich: Das sind ja keine Nebenkosten, sondern Entgelte für die solidarische Risikovorsorge – und dennoch wurde uns unentwegt erzählt, die Lohnnebenkosten seien zu hoch und die Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit. Diese Behauptung hatte eine zentrale Funktion und da bin ich wieder an einer fundamentalen Kritik meiner eigenen politischen Richtung: die Vorstellung, die Lohnnebenkosten seien schuld an der Arbeitslosigkeit, hat eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung der Agenda 2010 gespielt. Im Dezember 2002 erschien das so genannte Kanzleramtspapier mit einer zentralen Botschaft, die ich wörtlich zitieren muss, damit Inhalt und Niveau dieser entscheidenden Argumentation sichtbar wird: „Wie schädlich steigende Lohnnebenkosten sind, zeigt die Entwicklung seit der Wiedervereinigung. 1990 betrugen die Beitragssätze zur Sozialversicherung noch 35,5%, bis 1998 waren sie auf den historischen Höchstwert von 42% gestiegen, im gleichen Zeitraum ist die Arbeitslosigkeit von 2,6 Mio auf 4,28 Mio Arbeitslose im Jahresdurchschnitt gestiegen. Die Zahl der Erwerbstätigen ging von 38,5 Mio. auf 37,2 Mio. zurück.“ Deswegen ziele die „Kernstrategie“ der Bundesregierung auf die Absenkung der Lohnnebenkosten, und deshalb die Modernisierung der Sozialsysteme. – Dieser Strategie lag also die zitierte primitive Korrelation zugrunde. Man geht her und schaut, wie die Sozialversicherungsbeiträge gestiegen sind, und dann schaut man, wie die Arbeitslosigkeit gestiegen ist, und dann kennt man Ursache und Wirkung. Von dieser einfältigen Analyse wurde das Fundament für die Agenda 2010 abgeleitet.
Das ist ein Beleg dafür, dass die SPD das Opfer der Propaganda gegen die Lohnnebenkosten geworden war. Zu diesem Spiel gehörte dann auch der erfolgreiche Versuch, den ohnehin geringen Einfluss der Gewerkschaften auf die Politik von Rot-Grün weiter einzudämmen, man könnte auch sagen, sie zu entmannen. Vielen Gewerkschaftern ist ein beachtenswerter Vorgang vom Spätherbst 2002 offensichtlich nicht aufgefallen: Am 18.11.2002 erschien ein Spiegel-Titel mit Gerhard Schröder mit schwenkender roter Fahne auf dem Titelbild. Im Blatt selbst stand dann zu lesen, wir lebten in einem „Gewerkschaftsstaat“, und die Gewerkschaften hätten Schröder in der Hand. Diese dreiste Behauptung wurde mit einigen Punkten belegt. Diese waren zur Hälfte zwar falsch, aber es reichte, um eine Kampagne zur gefährlichen Entwickling hin zum „Gewerkschaftsstaat“ los zu treten. Diese Sorge war beispielsweise auch Gegenstand eines Essays von Bernhard Schlink im „Spiegel“, eines Schriftsteller und Juristen, den ich wegen seiner Bücher überaus schätze, und außerdem, weil er aus meiner Heimatstadt Heidelberg kommt. Das war Ende 2002. Die Gewerkschaftsstaat-Kampagne war in jeder Hinsicht fantastisch: wieder einmal ein Musterbeispiel dafür, dass die Mächtigen mit Meinungsmache alles machen können. Die schon ziemlich einflusslosen Gewerkschaften kann man zu einem gefährlichen Machtfaktor hochstilisieren – mit dem einzigen Ziel, ihnen das bisschen Macht auch noch streitig zu machen.
Die Kernstrategie gegen die Sozialstaatlichkeit gründet auf der Behauptung, dass es große, gänzlich neue Herausforderungen gebe, die Welt sozusagen völlig neu sei. Diese „neuen Entwicklungen zwingen uns zur Verringerung sozialstaatlicher Leistungen und zur Ergänzung und Ablösung solidarischer Lösungen der Vorsorge durch kommerzielle Lösungen.“ So die Behauptung. Übrigens eine, die unisono über die Parteigrenzen hinweg verkündet wurde. Schröder und Merkel waren vereint im Blick auf – wörtlich – „radikal veränderte ökonomische Bedingungen in Deutschland, in Europa und in der Welt.“ Das war 2003/2004. Was war da radikal ökonomisch verändert? Köhler sprach von neuen Gründerjahren, Angela Merkel meinte: „Ein Leben in unserer Zeit ist ein Leben in den zweiten Gründerjahren der Republik und die zweiten Gründerjahre sind nicht die ersten.“ Und Göring-Eckardt vom Bündnis 90 verkündete: „Es geht darum, den Sozialstaat auf die radikal veränderten Bedingungen einzustellen.“
Das war die Begleitmusik zu den immer geforderten Reformen und zur Agenda 2010 und die Schalmeien dabei waren die Forderungen nach mehr Flexibilität und mehr Mobilität der Arbeitnehmer. Die Flexibilität wurde durchgesetzt: Leiharbeit, ungesicherte Arbeitsverhältnisse, Minijobs, Aufstocker. Mobilität auch. Arbeitnehmer fahren von der Uckermark nach Oberbayern am Montag und am Freitag wieder zurück. Das gab’s schon immer, könnte man sagen, früher fuhren sie aus dem Bayerischen Wald oder aus der Westpfalz in die Zentren, aber dass man dies heute und noch schlimmer verlangt, ist kein Beispiel von Sozialstaatlichkeit, kein Zeichen von guter Familienpolitik.
Das Meisterstück bei dieser Debatte um die angeblich völlig neuen Herausforderungen ist der Hinweis auf den demographischen Wandel. Die demographische Entwicklung musste herhalten, um die Sozialversicherungssysteme, um die Krankenversicherung und die Altersvorsorge teilzuprivatisieren. Das lief in allen Medien, „hervorragend“ im Spiegel: „Der letzte Deutsche“ oder „Raum ohne Volk“ lauteten da zwei der vielen Titel und Artikel. Oder in der BILD-Zeitung: „Unsere Rente schrumpft, schrumpft, schrumpft …“ Die Botschaft war dann noch kombiniert mit einer richtigen medialen Korruption. Die Allianz AG hat nämlich mit der BILD-Zeitung zusammengearbeitet; sie haben gemeinsam geworben und dazu die junge Generation gegen die Alten aufgehetzt.
Entlastende Faktoren wie etwa die Möglichkeit, eine aktive Beschäftigungspolitik zu betreiben und die Erwerbsquote zu erhöhen, um damit mehr Menschen in Arbeit zu bringen, oder die naheliegende Möglichkeit, die Arbeitsproduktivität zu fördern und den Anteil sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse anzuheben, wurden ausgeblendet. Allein die Erhöhung der Arbeitsproduktivität hätte nach Berechnung des früheren Frankfurter Sozialpolitikers Richard Hauser gereicht, um alle Probleme der demographischen Veränderung aufzufangen. Wenig mehr als eine einprozentige Steigerung der Arbeitsproduktivität jährlich wäre nötig, um sicher zu stellen, dass alle Gruppen – die Rentner, die Arbeitenden und die Jungen – trotz demographischem Wandel auch künftig keinesfalls weniger zur Verfügung hätten. Wenn man noch die möglichen anderen Verschiebungen wie die Erhöhung der Erwerbsquote dazunimmt, dann ist völlig klar, dass die Abkehr von der gesetzlichen Rente, so wie sie betrieben worden ist, nicht nötig war. Und sie ist schlecht und schlimm für die Entwicklung unserer Sozialsysteme. Wir wurden, statt die nahe liegenden Lösungen zu suchen und aufzugreifen, mit Propaganda zugeschüttet. Bis heute geht das so. Es geht immer weiter. Die interessierte Versicherungs-, Banken- und Finanzdienstleisterlobby ist finanziell und publizistisch stark. Sie haben sehr viel Geld und lassen mächtige, dicke PR-Agenturen für sich arbeiten. Wie Carsten Maschmeyer sagt: sie sitzen auf einer Ölquelle. Gegen ihre Übermacht muss man sich intelligent und konseqent wehren, wenn man überhaupt eine Chance haben will.
Leider haben Gewerkschaften bei der Privatisierung der Altersvorsorge teilweise mitgemacht. Ein Beispiel: Hier in diesem Haus hat eine Konferenz stattgefunden, wo Bert Rürup die angeblichen Vorteile des Kapitaldeckungsverfahrens verkünden konnte, was man nur mit sehr schrägen Behauptungen tun kann. Mir tat Winfried Schmähl leid, der ebenfalls als Referent geladen war und Rürups Thesen aushalten musste. Rürup und andere so genannte wissenschaftliche Verfechter des Kapitaldeckungsverfahrens behaupten, dieses Verfahren erlaube es, die eingesammelten Prämien im Ausland anzulegen und dort mit höherer Rendite arbeiten zu lassen. Das ist eine abenteuerliche Behauptung. Verlagern wir Kapital nach draußen und lassen es in Bangladesh arbeiten oder in Spanien oder in Griechenland. Da arbeitet es dann produktiver und unsere Renten sind gesichert. Grotesk! Ich erwähne diesen Vorgang nicht, um ver.di zu kritisieren, darum geht es mir nicht. Ich möchte die Gewerkschaften stattdessen ermuntern, in Zukunft aufzupassen, Wir sollten jenen Leuten, die sich von Privatinteressen haben vereinnahmen lassen, nicht auch noch ein Forum bieten. Wenn man den Kampf um die Sozialstaatlichkeit bestehen will, dann muss man sich dessen bewusst sein, dass das nicht geht. Bei aller Liberalität.
Jetzt noch zu einem Thema, das die konstruktive Seite betrifft: Man hätte den Kampf um die Sozialstaatlichkeit unseres Landes trotz der cleveren Strategien der Sozialstaatsgegner gewinnen können. Eine große Mehrheit war nämlich über lange Zeit – und das ist ein sehr gutes Signal – resistent gegen diese Anti-Sozialstaatspropaganda. Als die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gegründet worden ist, da haben die Initiatoren dieser Propagandaorganisation vorher eine Allensbach-Umfrage machen lassen. Sie waren dann völlig erschüttert von den positiven Bekenntnissen der Leute zum Ladenschluss und zu sozialstaatlichen Regelungen und zur sozialen Sicherheit. Das war 1999. Auch bei anderen Umfragen in den 70ern und 80ern Jahren hatte man feststellen können, dass die Menschen ein sicheres Gefühl dafür haben, dass sie Solidarität selbst brauchen und schon deshalb lieber in einer solidarisch organisierten Gesellschaft leben.
In jener Zeit habe ich ein paar gebündelte Aussagen mit geprägt, die sehr wirksam waren. Sie haben das Empfinden und die Bedürfnisse einer großen Mehrheit wieder gespiegelt. Die Begriffe „soziales Netz“ und „soziale Sicherheit“ spielte eine große Rolle. Willy Brandt führte fünf Wochen vor einer entscheidenden Wahl im Oktober 1972 den Begriff Mitleiden in der englischen Fassung „Compassion“ in die politische Debatte ein und sprach damit bewusst nicht das Eigeninteresse der Menschen sondern ihre Fähigkeit zur Öffnung für andere an. Den politischen Machtanspruchs des Großen Geldes haben wir damit abgewehrt, dass wir den Vorgang beim Namen nannten. Und dann das „Modell Deutschland“.
Das Modell Deutschland war nicht nationalistisch aufgeladen; eine wichtige Komponente war ein starkes soziales Netz, das den sozialen Frieden sichert. Damals sind damit Wahlen gewonnen worden. Und dann dieser Spruch: „Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten“. Das war die Überschrift und Hauptbotschaft eines Flugblattes der SPD. Die damit angesprochenen Leute sind mitgegangen. Oder: „Die soziale Sicherheit ist das Vermögen der kleinen Leute“. Das war eine Helmut Schmidt-Formel.
Ich erwähne diese Botschaften, die Formulierungen und Elemente einer Aufklärungskampagne nicht aus Lust am Blick nach hinten sondern im Blick nach vorn. Alleine wenn man die beiden letzten Aussagen: „Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten“ und „Soziale Sicherheit ist das Vermögen der kleinen Leute“, wenn man diese Botschaften kombinieren würde mit dem, was Jochen Vogel ausgeführt hat, dass hinter uns das Grundgesetz steht, dass wir die Freunde der Verfassung sind und dass die Herrschenden radikal am Sozialstaat nagen, im Grunde Verfassungsfeinde sind, wenn man das kombinieren würde, dann würde man gewinnen. Es gäbe also ausreichend positive Perspektiven. Allerdings würde man die verbalen Aussagen, die Parolen durch praktische Politik stützen und ergänzen müssen. Ich sehe gute Chancen; allerdings setzt das voraus, dass man sich dieser Stärken besinnt und dass man zu einer gemeinsamen offensiven Strategie kommt.
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