Jürgen Rose
Eine Allianz in der Allianz?
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VON EUROPA NACH KERNEUROPAFrankreich,
Belgien und Deutschland bedienen die Vision von der
eigenen »Sicherheits- und Verteidigungsunion«
Lauthals beklagen derzeit viele Analysten den Zustand, in dem
sich im Gefolge des von den USA und Großbritannien
entfesselten Präventivkrieges gegen den Irak die Atlantische
Allianz einerseits und die Außenpolitik der EU andererseits
präsentieren. Ein berechtigtes Lamento?
Was die NATO betrifft, so scheint sie in ihrer Funktion als
kollektives Verteidigungsbündnis immer überflüssiger. Eine
ernste militärische Bedrohung für die Allianz existiert nicht mehr
und zeichnet sich auch nicht ab. Außerdem hat eine expansive
Erweiterung die militärische Effektivität in Mitleidenschaft
gezogen. Für den autistisch agierenden Militärgiganten USA ist
Letzteres ohnehin von untergeordneter Bedeutung. Viel
brauchbarer ist die NATO dagegen als nachrichtendienstliches
Reservoir, das sich billig von den Alliierten abschöpfen lässt,
oder als Trümmerkorps, das zum Aufräumen auf die
Schlachtfelder geht, nachdem die »tough guys« ihren Job erledigt
haben. Schließlich dient die Allianz der amerikanischen
Imperialmacht als Gremium zur Legitimierung für die von ihr
angezettelten globalen Kriege. Der Charme eines derart
disponierten Bündnisses sollte aus europäischer Sicht begrenzt
sein.
Andererseits haben die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Europäische Sicherheits-
und Verteidigungspolitik (ESVP) der EU seit Beginn der
Irak-Krise schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Man denke
nur an die im Vorfeld des Krieges lancierte Ergebenheitsadresse
von acht europäischen Regierungschefs an das Oval Office. Eine
krude Mixtur aus Staaten, die nach dem Ende des
Ost-West-Konfliktes gerade erst ihre volle Souveränität
zurückgewonnen haben, zum NATO-Mitglied avanciert sind und in
der Warteschleife der EU kreisen. Dazu kamen Länder wie
Großbritannien und Spanien mit einer weit in die Historie
zurückreichenden Tradition als imperiale Seemächte, die nun im
Kielwasser der maritimen Supermacht USA segeln wollten.
Deren Widerpart rekrutierte sich aus klassischen europäischen
Kontinentalmächten wie Frankreich, Deutschland und Russland,
die in ihrer Geschichte leidvoll erfahren mussten, welch
unermessliche Verwüstungen mit einem Krieg einher gehen.
Nicht zuletzt diese Erfahrung dürfte das beharrliche Festhalten an
völkerrechtlichen Minimalstandards mit inspiriert haben.
Keine bedingungslose Kapitulation
Bei aller Enttäuschung, die von der vorläufigen Niederlage des
Völkerrechts gegenüber der brutalen Gewalt der Supermacht
ausgeht, birgt die Entwicklung der vergangenen Monate durchaus
auch Chancen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass nunmehr
»die Stunde Europas schlägt«. Politisch haben sich die USA in
der Weltgemeinschaft erkennbar isoliert. Eine überwältigende
Mehrheit sowohl der Staaten als auch der Zivilgesellschaften
votiert kategorisch gegen den Waffengang. Die militärische
Gewaltanwendung im Irak erfüllt vollständig die Kriterien der 1974
von der UN-Generalversammlung in der Entschließung 3314
verabschiedeten Aggressionsdefinition. Unter ernstzunehmenden
Völkerrechtlern existiert daher keinerlei Dissens, dass dieser
Angriffskrieg ein klares Völkerrechtsverbrechen darstellte.
Darüber hinaus aber - vielleicht das gewichtigste Resultat dieses
Feldzuges - offenbarte sich vor der Weltöffentlichkeit ein
grandioses Scheitern der neuen US-Militärstrategie. Die Fiktion
vom »Spaziergang nach Bagdad«, bei dem die »Befreier« -
umjubelt von muslimischen Volksmassen - die weitgehend
kampf- und bedingungslose Kapitulation einer der Mächte auf der
»Achse des Bösen« entgegennehmen, erwies sich als Ausgeburt
größenwahnsinniger neokonservativer »Chickenhawks«.
Nicht dass auch nur der Hauch eines Zweifels am
schlussendlichen Sieg der Aggressoren besteht - nein, die Art
und Weise, wie er zustande kommt, ist bemerkenswert: Eine
supermoderne High-Tech-Streitmacht wird dadurch überrascht,
dass der Gegner nicht vor Angst und Ehrfurcht augenblicklich die
Waffen streckt, sondern sich zäh, gerissen, aber auch
rücksichtslos und angesichts der eigenen Unterlegenheit
geradezu tollkühn zum Kampf stellt. Was prompt folgt, ist ein
Massaker unter den irakischen Soldaten, die zu Tausenden im
Hagel von Streubomben und Artillerieraketen sterben und -
schlimmer noch - ein Gemetzel unter unbeteiligten Zivilisten, das
als Kriegsverbrechen einzustufen ist. Die Welt - vorrangig die
arabisch-islamische - wird Zeuge der Entmystifizierung einer
Supermacht, deren Soldaten sich als sterblich und deren Panzer,
Hubschrauber und Kampfflugzeuge sich als bezwingbar
erweisen. Dass nach diesem Kriegsverlauf die Hypermacht ihre
unilaterale Amok-Politik gründlich wird revidieren müssen, liegt
auf der Hand - hierin liegt die Chance der Europäer.
Nicht zum US-Militärbudget aufschließen
Mit dem rücksichtslosen Agieren der USA in den Vereinten
Nationen und den Intrigen gegen eine Mehrheit der europäischen
NATO-Partner ist ein erheblicher Leidensdruck in
Kontinentaleuropa erzeugt worden. Der Druck, jetzt eine Außen-,
Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu reanimieren, die das
Attribut »gemeinsam« verdient, könnte kaum größer sein. Ein
Indiz dafür ist die von Belgien am Rande des EU-Gipfels Ende
März in Brüssel gestartete Initiative für eine stärkere Kooperation
mit Frankreich und Deutschland in Verteidigungsfragen, die unter
anderem auf eine spürbare Integration der Streitkräfte zielt. Was
sich hier andeutungsweise abzeichnet, ist der Nukleus einer
künftigen »Europäischen Armee«. Kein Zufall, dass gerade die
Gegner des Präventivkrieges im Irak wie der damit verbundenen
NATO-Planung zur Abschirmung der Türkei eine »Allianz in der
Allianz« etablieren wollen. Ob das ein erster operativer Schritt hin
zu einer »gaullistischen Wende« Europas sein wird, die der
Emanzipation von den USA dient, wird sich noch zeigen müssen.
In seiner Regierungserklärung vom 3. April jedenfalls hat Kanzler
Schröder das deutsch-französisch-belgische Projekt nochmals
bekräftigt und sein Ziel konkretisiert: eine »Europäische
Sicherheits- und Verteidigungsunion«. Bevor nun automatisch
Steigerungsraten im Rüstungshaushalt hochrechnet werden, sei
daran erinnert, was Schröder ebenfalls klargestellt hat: Dass man
»nicht mit aller Macht zum Militärhaushalt der USA aufschließen«
wolle und »Europa nicht daran denken sollte, sich für eine Rolle
als Weltpolizist zu rüsten«. Dennoch dürfte aller Voraussicht nach
der Druck zur Militarisierung der EU steigen - auch, weil der
Zwang zum Kompromiss auf supranationaler Ebene, der
nationale Souveränität unvermeidbar relativiert, den wohl
organisierten Lobbyisten aus dem Militär und der
Rüstungsindustrie ein breites Einfallstor bietet. Auch hat
Schröder sich diesbezüglich eine Hintertür offengehalten, wenn er
davon spricht, dass »Europa seine militärischen Fähigkeiten so
weiterentwickeln muss, dass sie unserem Engagement und
unserer Verantwortung für Konfliktprävention und
Friedenssicherung entsprechen«. Solcherlei argumentative
Pirouetten passen zur ambivalenten Politik von Rot-Grün in
Sachen Präventivkrieg gegen den Irak, bei dem man sich trotz
der bekannten Wahlversprechen in der Grauzone von
Völkerrechtsverbrechen und Verfassungsbruch wiederfindet.
Wenn der deutschen Öffentlichkeit an einer »Friedensmacht
Europa« gelegen ist, die sich auf den langen Marsch zu einem
ökologischen, sozialen und demokratischen Universalismus
begibt, ist sie daher gut beraten, die Vision von einer
»Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion« stets
kritisch, fast möchte man sagen: misstrauisch zu begleiten.
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in
diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.
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