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Levinas

Nicht von mir, der Text...

LEVINAS, Emmanuel,

der führende Interpret der »Ethik als Erster Philosophie«, d.h. des von ihm geforderten systematischen Ranges in der Philosophie für die Forderung der unendlichen Verantwortung des Menschen für den anderen Menschen, die er in Talmudexegesen und philosophischen Werken formuliert. Letztere weiten die Ansätze zur Intersubjektivität beim späten Husserl zu einer Bewußtseinstheorie aus, die die Phänomenologie ethisch überholt. Neben der philosophischen Wirkung war und ist sein Einfluß auf christliche Theologen, insbesondere für die im jüdisch-christlichen Dialog stehenden, bedeutend. –

* 30. Dezember 1905 des russischen Kalenders (am 12. Januar 1906 des westeuropäischen Kalenders) als Sohn eines Buchhändlers, wuchs L. in Kaunas (russ.: Kovno) auf, † 25. Dezember 1995. -


1. Leben:

Die litauischen Juden lebten am Rande der Gesellschaft, von der sie doppelt ausgegrenzt waren: durch die litauischen Christen und durch die sie unterdrückenden Russen. Das kulturelle Leben in Kaunas war, im Vergleich mit dem der Metropole Vilnius (poln.: Wilna), kleinstädtisch. Die Sozialisation des Jungen erfolgte daher durch die jüdische Gemeindefrühzeitige Vertrautheit mit den quadratischen Buchstaben«, d. h. mit der hebräischen Bibel) und durch die russische Literatur (Tolstoi, Dostojewski, Puschkin, Lermontow, Turgenjew u.a. - in den 80er Jahren kam W. Grossmans Roman »Leben und Schicksal« hinzu). Die Zeit der Revolution von 1917 verbrachte die Familie in der Ukraine, wegen des Krieges zwangsumgesiedelt. Dort gelang es L. als einem von sehr wenigen Juden, die Aufnahmeprüfung für das russische Gymnasium zu bestehen. Zurückgekehrt nach Kaunas, beendete er das Gymnasium und strebte danach, sein Studium in Westeuropa zu beginnen. Sein Deutschlehrer hatte ihn mit den humanistischen Werten der deutschen Literatur vertraut gemacht. Wegen des in Deutschland bereits virulenten Antisemitismus gelang ihm die Immatrikulation dort nicht, und er begann sein Studium in Straßburg.
Professoren mit Verbindungen über den Rhein hinweg wiesen ihn auf Husserl hin, und L. vertiefte sich in die »Logischen Untersuchungen« und die »Ideen«. 1928/29 verbrachte er zwei Gastsemester in Freiburg und erlebte Husserls letzte und Heideggers erste Vorlesung. Mit seiner preisgekrönten Dissertation »Théorie de l'intuition dans la phénoménologie de Husserl« (Theorie der Anschauung in Husserls Phänomenologie) und verschiedenen Zeitschriftenaufsätzen wurde L. zum Wegbereiter Husserls und Heideggers in Frankreich. Die für seine Philosophie so entscheidende erste Bekanntschaft mit Husserl und Heidegger verdankte Sartre seiner damaligen Lektüre L.' (vgl. Annie Cohen-Solal, Sartre, Paris 1985, S. 181). L. übersetzte Husserls »Cartesianische Meditationen«, gemeinsam mit seiner Kommilitonin Gabrielle Pfeiffer, ins Französische. Er nahm am Treffen Heideggers mit Cassirer in Davos teil. Später bereute er, damals Heidegger vorgezogen und Cassirer verulkt zu haben. –
1930 wurde L. auf seinen Wunsch hin Franzose (»naturalisiert«), d.h. Bürger des Lands der Aufklärung, der Menschenrechte, des Abbé Grégoire (entschiedener Gegner der Sklaverei und der Rechtlosigkeit der Juden und Farbigen, 1750-1831) und »des Volkes, das für einen Alfred Dreyfus Partei zu nehmen wußte«, und heiratete 1932 in Kaunas die Pianistin Raissa Levi, aufgewachsen im gleichen Haus wie er. Sie lebten seitdem (abgesehen von der Kriegszeit) immer in Paris (viele Jahre davon im Haus der Alliance Israélite Universelle), sprachen untereinander russisch und beachteten die Regeln der jüdischen Speisegebote (Kaschrut). Die Tochter Simone wurde 1935, der Sohn Michael 1949 geboren. –
Als Franzose wurde L. 1940 mobilisiert und geriet bald in deutsche Kriegsgefangenschaft. Er verbrachte fünf Jahre im Stammlager (Stalag) Nr. 1492 (das Jahr der Vertreibung der Juden aus Spanien!) in der Lüneburger Heide. In einer autobiographischen Notiz (im Band »Difficile Liberté«) bemerkt L., allein ein Hund habe sie in dieser Zeit als Menschen angesehen. Frau L. und ihre Tochter wurden, u.a. auch durch die Hilfe des lebenslangen Freundes aus Straßburger Zeit, des Literaten Maurice Blanchot, versteckt und überlebten die Besatzungszeit in einem christlichen Kloster bei Orléans. »Vielleicht verging mein Leben nur in der Vorahnung des nationalsozialistischen Grauens und in der unüberwindbaren Erinnerung daran« (Ethik und Unendliches); »Hat man im Gedächtnis diesen Tumor, so können ihm zwanzig Jahre nichts anhaben. Der Tod wird zweifellos das unverdiente Privileg, sechs Millionen Tote überlebt zu haben, aufheben.« (»Unterschrift«, in: »Eigennamen«, S. 102). Die Eltern von E. L. und seine sämtlichen Verwandten in Litauen kamen im Massenmord an den Juden durch Deutsche um. Allen Opfern der Schoah und allen Verfolgten widmete L. sein zweites Hauptwerk Autrement qu'être ou au-delà de l'essence (dt.: »Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht«). Er legte einen Schwur ab, deutschen Boden nie wieder zu betreten und hielt ihn trotz späteren großen Bedauerns ein. - L. lehrte über dreißig Jahre lang an der Alliance Israélite Universelle (AIU), deren Institut in Paris-Auteuil er leitete. Die Ausbildung von jüdischen Lehrerinnen und Lehrern für die Schulen der AIU im Mittelmeerraum und seine allsabbatlichen Bibel- und Talmudstunden nach dem Morgengottesdienst zog er lange Zeit selbst einer akademischen Karriere vor. Darin sah er eine der wichtigsten Aufgaben des Judentums, das er auch als Institution der humanen Bildung - zur Verteidigung des Menschen in welchem Land auch immer - verstand. Seine akademische Karriere begann erst im Alter von 57 Jahren auf Drängen von Jean Wahl (dem Initiator und Veranstalter des Collège philosophique, eines außeruniversitären philosophischen Zirkels). Es folgten Berufungen nach Poitiers, Paris-Nanterre und Paris-Sorbonne (bis 1976). Die Jahre nach dem Kriege waren neben der pädagogischen Arbeit an der AIU und der Teilnahme am Collège philosophique (wo L. seine vier Vorträge »Le Temps et l'autre« vortrug) mit intensivem Talmudstudium ausgefüllt. Ähnlich wie Elie Wiesel (vgl. diesen: »Der irrende Jude«, in: »Der Gesang der Toten«, Freiburg/Basel/Wien 1987) war L. Schüler jenes legendären Talmudmeisters (und Naturwissenschaftlers), der sich Schuschani nannte, dessen Herkunft niemand (außer Wiesel) kennt und der ebenso überraschend auftauchte wie er verschwand. L. gab ihm einige Monate Obdach. Ihm verdankt er seine hermeneutische Methode (die er »paradigmatisch« nennt), die von den Talmudisten angeführten Bibelzitate durch Heranziehen ihres Kontextes zu deuten. Von 1960 bis 1991 beteiligte sich L. an den Zusammenkünften der französischsprachigen jüdischen Intellektuellen jeweils mit einer Talmud-Exegese zum Thema des Kolloquiums. –
Hier liefert er Interpretationen des Talmud, in denen es um seine Auffassung des Judentums geht, für modern denkende Menschen (s.u. 2 e). - Nachdem L. mit seiner Fortführung des von Husserl und Heidegger Begonnenen jahrzehntelang im Schatten des erfolgreicheren Sartre gestanden hatte und als ein Philosophisches und Religiöses vermischender Phänomenologe von der Fachwelt skeptisch betrachtet worden war, gewann er (ohne dies zu suchen) im Laufe der siebziger und achtziger Jahre an Einfluß. Von der 1968er Revolution enttäuschte junge Intellektuelle wandten sich dem Judentum zu, zahlreiche nordafrikanische Juden wanderten nach Frankreich ein, und so entstand der Renouveau juif, für den L.' Schriften die geeignete Grundlage lieferten (vgl. in der Literaturliste Finkielkraut). - L. verstand Philosophie und erst recht das Judentum nicht als über der Politik stehend (so schrieb er über die »Philosophie des Hitlerismus'« eine Analyse eines politischen Phänomens, die die Gründe für sein Auftreten in einem verfehlten Freiheitsbegriff sucht), doch lehnte er (vielleicht die Beispiele Heidegger und Sartre vor Augen) eine direkte politische Einflußnahme für sich ab. Seine Bescheidenheit, die in Widerspruch zur Leidenschaftlichkeit und Dynamik seines Temperamentes stand, machte ihn zurückhaltend, wenn er in der Öffentlichkeit auftrat. Die letzten Jahre verbrachte er mit Vorträgen u.a. für den jüdisch-christlichen Dialog, zur Rolle der Intellektuellen etc. Er starb am 25. Dezember 1995, 18 Tage vor seinem 90. Geburtstag.



2. Einflüsse:

a) Neben dem ersten Bibelunterricht, der, wie in jedem orthodoxen Haus, früh einsetzte, stand L. lebenslang unter dem Einfluß des litauischen Judentums (genannt Lité), das gegenüber der galizisch-chassidischen Strömung (vgl. Buber) die rationalistisch betonte Partei der mitnagdim (»Gegner«) darstellte. Das Talmudstudium und Argumentieren stehen im Mittelpunkt, gefühlsbetonte Formen der Religion (Tanz, Mystik, Heiligenverehrung) werden abgelehnt. Trotz dieser zweifellos beibehaltenen Grundhaltung (Irrationalismus=Götzendienst) versuchte L. durchaus bewußt, den von Pascal formulierten Widerspruch zwischen dem »Gott Abrahams« - dem vertrauensvollen Glauben - und dem »Gott der Philosophen« - der Unterordnung des Glaubens unter die Vernunft des autonomen Individuums - durch sein Konzept einer rationalen Metaphysik bzw. einer Passivität, die rational ist, aber die Autonomie des Einzelnen einschränkt, aufzuheben. Der Versuchung des Esoterischen hat L. immer (auch bei seinen Talmudstudien) widerstanden. -

b) Die russische Literatur vermittelt L. über den Umweg des Christentums Dostojewskis oder Tolstois das Verständnis der unbegrenzten Verantwortung für den anderen Menschen: »Jeder ist verantwortlich für alle anderen, jeder ist schuldig und ich mehr als alle anderen.« (»Die Brüder Karamasow«). Zu betonen ist hierbei der Grundsatz der Bezogenheit aller Ethik auf das jeweilige (Heidegger: »jemeinige«) Selbst. In diese Rubrik mag auch eines seiner Lieblingszitate aus den letzten Jahren passen: »...mein Platz an der Sonne ... Beginn und Urbild der widerrechtlichen Besitzergreifung (usurpation) der ganzen Erde«: Blaise Pascal, Pensées, Fragment Nr. 295 (Brunschvicg-Zählung), üs. v. E. Wasmuth, Heidelberg 1978, S. 150 (Pléiade-Ausg., Paris 1954, S.1151). -

c) Bergson: Gehört L. zufolge zu den fünf größten Philosophen (vgl. »Ethik und Unendliches«). Seine Revolution des Zeitbegriffes bereitet die Existenzphilosophie vor. Auch Bergsons »Zwei Quellen der Moral und der Religion« sind für L. entscheidend. In den letzten Jahren arbeitet L. vor allem an der »Entformalisierung des Zeitbegriffes« (»Zwischen uns«, S. 276 ff.). -

d) Die dialogische Philosophie: Zweifellos ist die strikte Trennung des intentionalen Bewußtseins vom nicht-intentionalen und der abrupte Abstoß von Heidegger, der auch das Für-den-Anderen als »Mitsein« oder »Fürsorge« der Sorge des Daseins unterordnete, dem Einfluß Martin Bubers zu schulden. Andererseits kritisierte L. auf das heftigste die Symmetrie des Buber'schen Ich-Du-Verhältnisses, der er die asymmetrische Jemeinigkeit des ethischen Verhältnisses entgegenstellte. Mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit B. (vgl. »Außer sich«; Philosophen des 20. Jahrhunderts, Literaturliste). - Der entscheidende Einfluß von Franz Rosenzweig war neben der Parallelisierung des Weges von Judentum und Christentum die Entformalisierung des Zeitbegriffes (Vergangenheit: Schöpfung, Gegenwart: Offenbarung, Zukunft: Erlösung). Von R.s »Stern der Erlösung« sagt L. im Vorwort zu »Totalité et infini«, dieses Buch sei in seinem Werk »zu präsent, um zitiert zu werden- Ein persönlicher Freund (Teilnehmer an Jean Wahls Collège philosophique) war Gabriel Marcel, von dessen allzu ontologischer Vorstellung Gottes L. sich jedoch durch seine völlige Ablehnung jeder Ontologie abhob. -

e) Talmud: Nach der Rückkehr aus dem deutschen Lager lernte L. im Paris des Nachkriegs den großen Talmudgelehrten Schuschani (s.o. 1) kennen und vertiefte sich neben der pädagogischen Arbeit in der AIU jahrelang in das Studium des Talmud. Es kam in seiner Methode darauf an, die Aussagen der Talmud-Diskutanten in Bezug zu den von ihnen zitierten Bibelstellen, zur Gesamtheit der hebräischen Bibel mit ihrer ethischen Grundlehre und zu anderen Talmudstellen, ja sogar zu anderen Wissenschaften zu stellen. Dabei erscheint als gemeinsamer Nenner der Talmud-Lehren die ethische Eindringlichkeit, mit der die Verantwortung des Menschen für den anderen Menschen, den Nächsten - bis hin zur Übernahme der Schuld des anderen, bis hin zur Übernahme seine Todes - verkündet wird, und, ebenso wichtig, die Universalität der jüdischen Lehre, die nicht eine Lehre für ein Volk sein will, sondern in der (jedenfalls für Schuschani, in der Interpretation durch L.) Israel als Metapher für die ganze Menschheit steht. Die »Passion Israels« hin zu und in Auschwitz ist in den meisten dieser Exegesen implizit oder explizit präsent. Die Talmud-Exegesen durch L. - Früchte seiner Beteiligung an den Zusammenkünften der französischsprachigen jüdischen Intellektuellen - sind ein nicht zu vernachlässigender Teil seines Werkes, der, obgleich konfessionell gebunden, nicht als »Nebenprodukt« betrachtet werden darf. –

f) Phänomenologie: Obwohl L. sich immer als Fortsetzer der phänomenologischen Schule betrachtete und in seinen Hauptwerken phänomenologische Analysen vorlegte, ist diese Einschätzung nicht unumstritten, denn in letzter Konsequenz bedeutet die Einführung eines nicht-intentionalen Bewußtseins, das in seiner absoluten Passivität quer zum begreifenden »Bewußtsein von...« (Husserl) und »vor« jedem Begreifen eines Objektes liegt, vielleicht eine Sprengung des Husserl'schen Verständnisses von Bewußtsein. Zwar gibt es bei Husserl Ansätze zu einem Nachdenken über Intersubjektivität und Reziprozität des Bewußtseins eines anderen Subjektes, aber nie stellt sich Husserl die Frage, ob darin eine neue Spielart oder »Schicht« des Bewußtseins bestünde.



3. Lehre:

Der Grundgedanke der Philosophie E. L.' besteht in der Kritik an der »Egologie« der philosophischen Tradition einschließlich Husserls und Heideggers. Das »intentionale Bewußtsein« (Husserl) einerseits, das »Sein des Daseins« (Heidegger) andererseits können sich nicht genügen, denn sie bleiben statisch bzw. anonym, und nur durch das ethische Verhältnis zum anderen Menschen erhält das Humanum Eintritt in die Konzeption des Daseins. L. geht so weit zu behaupten, erst durch die Anderen komme Zeit in Wahrnehmung und Bewußtsein. Dieses Argument zielt auf die Transzendentalität des Husserl'schen Bewußtseinsbegriffs, der alle vom Bewußtsein ins Auge gefassten Tatbestände oder Gefühle durch diese Bewußtmachung in die Gegenwart überführt (»appräsentiert«). Schon der Begriff »Vergegenwärtigung« (oder »Repräsentation«, worin »Präsens« steckt) zeigt die Verwandlung des Erlebten in Bewußtes an. Der Andere bleibt immer »jenseits«, »ab-solut« (wörtlich: ab-getrennt) transzendent. Den Anderen zu besitzen, wie man einen Gegenstand be-greift, ist unmöglich (der fanatische Wille des Gewaltmenschen, es dennoch zu versuchen, Wahnsinn). Jede Handlung, in der nur der eine handelt und der andere erleidet, ist Gewalt (»Difficile Liberté«). Die Liebe dagegen erlebt ihre Apotheose eben nicht in der Symbiose, sondern in der Getrenntheit. »Religion« ist ein Verhältnis zwischen zweien, das nicht zu einer Totalität geschlossen werden kann (so wie wir Gott nicht umfassen können) (»Totalité et Infini«). - Das Begehren oder die Sehnsucht (le désir) werden immer größer und tiefer, je mehr sie erfüllt werden. Hier entwirft L. eine umgekehrte Ökonomie (bei ihm vom Wortsinn her als Gemeinschaft gedacht). Das Unendliche zu denken bedeutet für den Menschen, wie Descartes sagt, »mehr zu denken als er denkt- Die Idee des Unendlichen in uns ist aber nicht das Göttliche, sondern der einzige Modus, ein Verhältnis zum Göttlichen zu haben. Das Göttliche erfahren wir nur durch das ethische Verhältnis zum Anderen. Während jeder Gegenstand der »Welt« (im Sinne der Phänomenologie) von uns be-griffen werden kann, ist der Andere das einzige Phänomen (bzw. Objekt), das uns immer und ewig entgleitet. Eben deshalb können wir Gott nicht in erblickten oder vorgestellten Bildern begegnen, sondern nur als Spur. Von Gott reden heißt eine »Jenheit« (illéité, von lat.: ille, jener) benennen. - Der Andere (auch die Übersetzung »das Andere« wäre möglich) betrifft uns durch den ethischen Sinn, den seine Anwesenheit für uns hat: er befiehlt, er »bedeutet« uns. Das (jemandem etwas) »Bedeuten« (im doppelten Sinne) geschieht nicht durch das Gesagte (das dit), sondern durch das Antlitz (visage). Es ist die Hilflosigkeit des Anderen, sein Bedürfen, das mir befiehlt. Neben dem dit der lexikalischen Sprache gibt es das dire (Sagen) des ethischen Ausdrucks. Es ist deshalb so unabweisbar, weil das ethische Verhältnis am allerursprünglichsten ist, ursprünglicher noch als das Sein. Am Anfang steht die Passivität, das Des-inter-esse (Nicht-im-Sein) und die Non-In-Differenz (Nicht-Gleichgültigkeit; doppelte Verneinung, also = Differenz). Deshalb nennt L. sein letztes Hauptwerk »Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht- Es ist der Höhepunkt eines Werkes, das sich vielleicht in drei Phasen einteilen läßt. Der junge L. verfocht zunächst die Gedanken Husserls und Heideggers und wurde zu einem der maßgeblichen Wegbereiter der beiden Denker in Frankreich. Mit der Enttäuschung über Heideggers Parteigängerschaft für die Nationalsozialisten begann L. den Freiheitsbegriff der abendländischen idealistischen Tradition in Frage zu stellen (»Quelques réflexions sur la philosophie de l'hitlérisme«) und rückte von der Anonymität des Heidegger'schen Seinsbegriffs abDe l'évasion«, mit phänomenologischen Analysen z.B. des Ekels, die auf Sartre vorausweisen). Die Jahre des Kriegs und der Gefangenschaft bedeuten eine tiefe Zäsur. In seinem ersten Nachkriegswerk löst sich L. von der Priorität des »Seins« über das »Seiende« bei Heidegger. Für das Buch »De l'existence à l'existant« wurde mit der Banderole geworben: »Worin nicht von Angst die Rede ist«. Diese zweite Phase endet mit dem ersten Hauptwerk, der spät vorgelegten Habilitationsschrift »Totalité et infini«. Die phänomenologischen Analysen behandeln Aspekte der »Lebenswelt«, Alltagsgefühle, Erotik und Vaterschaft bzw. Fruchtbarkeit. Die Sprache dieses Werkes erschien L. später allzu »ontologisch«. In seiner dritten Phase arbeitete er an der Sprache selbst und versuchte die ethische Dringlichkeit in der Sprachstruktur durch Wiederholung, Aufspaltung von Substantiven, eingeschobene und abgebrochene Sätze bis hin zur Zertrümmerung der Syntax auszudrücken. Das Thema dieser Analysen läßt sich durch den Begriff »Substitution«, Einspringen-für, vielleicht Hingabe, umschreiben. Sie münden in dem zweiten Hauptwerk »Autrement qu'être ou au-delà de l'essence«, dessen - hebräische - Widmung lautet: »Zum Gedenken an die nächsten Menschen unter den sechs Millionen von den Nationalsozialisten Hingemordeten, neben Millionen und Abermillionen Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, die Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen wurden, desselben Antisemitismus



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