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Yadgar schrieb am 9.10. 2005 um 04:18:13 Uhr über

Afghanistan

Afghanistan kann als der Prototyp eines Durchgangslandes gelten; seit frühgeschichtlicher Zeit kreuzen sich hier wie in kaum einem anderen Land der Erde die Wege der Völkerwanderungen, Eroberer, Händler und Missionare der unterschiedlichsten Religionen.

Die frühesten historisch faßbaren Eroberer Afghanistans dürften die Indoarier gewesen sein, die vom Kaukasus und dem heutigen Iran aus kommend von ca. 1500 v. Chr. an die ursprüngliche dravidische Bevölkerung bis auf einen kleinen Rest verdrängten. Ab ca. 550 v. Chr. wird das Gebiet des heutigen Afghanistan ins persische Achämenidenreich eingegliedert, das bis zu seiner Eroberung durch Alexander den Großen die Kontrolle über die Gebiete westlich des Indus behält.

Nach dem Tod Alexanders fällt das heutige Afghanistan zunächst an das Seleukidenreich, das jedoch im Laufe des 3. Jh. v. Chr. durch die zunehmenden Einfälle der iranischen Parther wie auch die Eroberungen der indischen Mauriya-Dynastie im Osten zerfällt. Ab etwa 250 v. Chr. konsolidiert sich Baktrien als unabhängiges hellenistisches Reich mit griechischer Führungsschicht.

Um 130 v. Chr. bricht die Herrschaft der Griechen in Baktrien unter dem Ansturm der Saken, eines nordiranischer (skythischen) Nomadenvolkes zusammen, die westlichen Landesteile werden vom Partherreich annektiert. Den Saken (bei denen es sich möglicherweise um die Vorfahren der heutigen Paschtunen handelt) folgen im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Tocharer (chinesisch Yüe-tschi) und begründen im östlichen Afghanistan die Dynastie der Kuschan, die bald unter indischem Einfluss den Buddhismus annimmt und die letzten Reste griechischer Herrschaft im Kabultal beendet. Unter ihrem bedeutendsten Herrscher, Kanischka (um 100 n. Chr.), dehnen die Kuschan ihre Macht bis weit nach Indien und Zentralasien aus.

Im dritten nachchristlichen Jahrhundert wurde das Kuschan-Reich zunehmend von den erstarkenden mittelpersischen Sassaniden im Westen aufgerieben, wobei die Sassaniden zunächst bis nach Kabul vordringen, ab 350 aber von den hunnischen Stämmen der Khioniten und Hephthaliten zurückgedrängt werden, die während der folgenden Jahrhunderte eine lockere Herrschaft über die Osthälfte Afghanistans innehatten, während der Westen etwa bis zu einer Linie Murghab-Kandahar sassanidisch blieb. Im sechsten Jahrhundert fielen erstmals türkische Stämme ins nordöstliche Afghanistan ein und verschmolzen mit der hephthalitischen Führungsschicht. Aus dieser Mischbevölkerung unter Einschluss der alteingesessenen iranischen Baktrer und den Tocharern entstanden in den folgenden Jahrhunderten die persischsprachigen Tadschiken.

In der Mitte des siebten Jahrhunderts erscheint eine neue Macht in der Region: die islamischen Araber. Anders als im persischen Kernland und bald darauf auch in Turan kann in Afghanistan selbst die islamische Herrschaft nur langsam vorangetrieben werden; zwar gelingt den Arabern 664 vorübergehend die Eroberung Kabuls, in der Folgezeit ziehen sie sich jedoch wieder nach Westen zurück, so dass Ostafghanistan bis um das Jahr 1000 unter indischem, also hinduistischem Einfluss bleibt, während sich der islamische Machtbereich unter den Dynastien der Omayyaden und Abbasiden, ab 873 der Samaniden auf Herat (Khorassan), das Hilmend-Becken (Seistan) und Baktrien beschränkt.

Eine durchgreifende Islamisierung ganz Afghanistans setzt erst unter der türkisch-zentralasiatischen Dynastie der Ghaznaviden ein; unter Mahmud von Ghazni (998-1030) wurde Afghanistan erstmals das Zentrum eines islamisches Großreiches, das sich von Transoxanien bis ins Gangesbecken und nach Gudscherat erstreckte. Im 12. Jahrhundert wurden die Ghaznaviden von den Ghoriden mit der Hauptstadt Firozkuh am oberen Heri Rud abgelöst, bis dann ab 1221 ganz Afghanistan dem mongolischen Weltreich eingegliedert wurde.

Nach dem Tod des mongolischen Großkhans Timur Lenk setzt der Zerfall des Reiches ein, in Afghanistan etablieren sich dessen Nachfahren ab 1405 als regionale Dynastie der Timuriden mit Herat als Zentrum. Von Ostafghanistan aus unternehmen paschtunische Stämme immer wieder Feldzüge nach Nordindien, wo sie sich zeitweise als »turko-afghanische« Dynastien halten können (Lodi, Rohilla, Khildji).

Anfang des 16. Jahrhunderts verfiel der Macht der Timuriden; im Norden setzten sich die Usbeken fest, während der Westen an die persischen Safawiden fiel. Kabul konnte von einem aus Zentralasien vertriebenen mongolischen Fürsten namens Babur zum Ausgangspunkt weitreichender Eroberungen in Indien und damit zur ersten Hauptstadt des späteren Mogulreiches gemacht werden. In Baburs Memoiren findet sich übrigens erstmals der Name »Afghanistan«; er bezeichnet dort das bogenförmige von Paschtunen bewohnte Gebiet entlang der Handelsstraße Herat-Kandahar-Kabul.

Dieses Land der Paschtunen war fortan Zankapfel zwischen Safawiden und Moguln; im Laufe des 18. Jahrhunderts gelang es den Paschtunen in mehreren Anläufen Unabhängigkeit von beiden Mächten zu erringen, was schließlich im Jahr 1747 zur Gründung eines eigenen Reiches unter König Ahmad Schah Abdali (fortan Durrani genannt) führte - der Geburtsstunde des heutigen Staates Afghanistan, zunächst mit Kandahar, ab 1783 mit Kabul als Hauptstadt.

Ahmad Schah Durrani konnte sowohl Safawiden als auch Moguln beträchtliche Gebiete entreißen, auf dem Gipfel seiner Macht reichte »Groß-Afghanistan« von Isfahan im Westen bis Delhi im Osten, vom Amu-Darja im Norden bis zum Indischen Ozean im Süden. Seinen Nachfolgern Timur und Zaman mißlang jedoch die Konsolidierung, schnell setzte der Zerfall ein. Die usbekischen Gebiete im Norden schlossen sich dem Khanat Buchara an, der Pandschab und die Indusebene fielen erst an die Sikhs, bald schon an die Engländer, die das im Niedergang befindliche indische Mogulreich als Kolonie annektierten.

Eine regelrechte Kolonisierung Afghanistans durch die Engländer scheiterte zwar militärisch (Afghanenkriege 1839-42 und 1878-80), das Land blieb aber die meiste Zeit des 19. Jahrhunderts faktisch in zahlreiche Regionalherrschaften zersplittert, auseinanderdividiert im »Great Game« zwischen England und Russland um Einflusssphären in Zentralasien.

Unter den Emiren Abdurrahman (1880-1901) und Habibullah (1901-1919) erstarkte die Zentralregierung wieder, die usbekischen Gebiete im Norden und das zentrale Hazarajat wurden befriedet, die bislang noch nicht islamisierten Kafiren im Osten zwangsweise zum Islam bekehrt und ihr Land als »Nuristan« dem afghanischen Staat eingegliedert. Andererseits verlor Afghanistan endgültig seine östlichen Gebiete, auf einer internationalen Konferenz wurde 1893 die »Durand-Linie« als afghanische Grenze festgelegt; diese Grenze zerschneidet seither das Siedlungsgebiet der Paschtunen und wird von Afghanistan bis heute nicht anerkannt.

Nach einem letzten anglo-afghanischen Krieg (1919) erlangte Afghanistan 1921 seine volle Unabhängigkeit; die von König Amanullah eingeleiteten umfassenden politischen und sozialen Reformen nach dem Vorbild der Türkei unter Atatürk scheiterten am Widerstand konservativer Mullas und mächtiger ostafghanischer Paschtunenstämme, Amanullah mußte 1928 ins europäische Exil gehen.

Seine Nachfolger Nadir (1929-1933) und Zahir (1933-1973) verfolgten demgegenüber eine Politik vorsichtiger Modernisierung, verbunden mit weltpolitischer Neutralität, die durch geschicktes Taktieren sowohl im 2. Weltkrieg als auch im anschließenden Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion gewahrt werden konnte.

In den 1960er Jahren versuchte das afghanische Königshaus eine schrittweise Poltik der Demokratisierung, eine Verfassung wurde verabschiedet, zahlreiche Parteien entstanden; durch schlechte institutionelle Absicherung dieses Prozesses (das Parteiengesetz wurde z. B. nie vom König unterzeichnet), verstärkt durch eine Dürrekatastrophe Anfang der 70er Jahre und die Unterwanderung von Armee und Universitäten durch moskautreue Kommunisten kam es zu einer zunehmenden Radikalisierung des Parteienspektrums zwischen Linksradikalen und Islamisten und fortschreitender Destabilisierung, der in immer kürzeren Abständen Regierungskabinette und 1973 schließlich die Monarchie selbst zum Opfer fielen.

Der durch einen unblutigen Putsch am 17. Juli 1973 an die Macht gelangte ehemalige Premierminister Mohammad Daud Khan versuchte, die Ausgleichspolitik zwischen den Supermächten fortzusetzen, konnte jedoch den wachsenden politischen Einfluss der Radikalen nicht eindämmen. Am 28. April 1978 putschten kommunistische Offiziere unter Führung Nur Mohammad Tarakis, Daud und seine Familie wurden ermordet.

Vor dem Hintergrund blutiger Flügelkämpfe innerhalb der kommunistischen Partei (DVPA) und zunehmendem Widerstand der Bevölkerung gegen das neue Regime entschloss die sowjetische Parteiführung unter Leonid Breschnew 1979, eine von einer ihr genehmen Fraktion der DVPA getragene Regierung mittels einer massiven militärischen Intervention zu installieren.

In der zweiten Dezemberhälfte 1979 marschierten über 100.000 Rotarmisten in Afghanistan ein, besetzten alle wichtigen Städte und Militärstützpunkte und setzten Babrak Karmal als Ministerpräsidenten und DVPA-Parteichef ein. Die Tragödie Afghanistans im späten 20. Jahrhundert hatte endgültig begonnen, mit allen Konsequenzen, die bis zum heutigen Tag auf dem Land lasten: Millionen Tote durch die sowjetische Besatzung und die folgenden Bürgerkriege, riesige Flüchtlingsströme sowohl im Land selbst als auch in die Nachbarländer, der weitgehende Verlust der Bildungsschicht durch Emigration und systematische Ausrottung, die flächendeckende Zerstörung und Verminung weiter Teile des afghanischen Kulturlandes, die jahrzehntelange Förderung des extremen Islamismus durch auswärtige Mächte, der grassierende Drogenanbau und -handel als Folge langjähriger Anarchie.



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