Schwund
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Tatort: Wiese
Pestizide und das Ende unserer Insekten
In Gärten und auf Feldern vollzieht sich ein Massensterben: Die Bestäuber verenden, Bienen, Käfer und Schmetterlinge, auf die unsere Nahrungspflanzen angewiesen sind. Als Täter unter schwerem Verdacht: Pestizide namens Neonicotinoide. Warum wurden sie überhaupt zugelassen? Warum sind sie nicht längst verboten? Ein Bericht über die Mühen, Unheil zu verhindern.
Es gibt einen Ort, an dem das Drama greifbar wird. Ein dämmriger Raum im Vereinsheim der Krefelder Entomologen, es riecht muffig, nach vergilbten Büchern und Bohnerwachs. Auf einem langen Holztisch stehen zwei Behälter: ein großer Bottich und eine kleine Dose.
Entomologen sind Insektenkundler. Mitglieder des Krefelder Vereins erfassen seit über 100 Jahren die heimische Insektenwelt. Ihre Funde bewahren sie hinter Glas: Käfer mit Körpern wie Juwelen, mumiengleiche Puppen von Faltern, schimmernde Prachtlibellen. Doch was früher eine Inventur der Vielfalt war, hat sich in jüngster Gegenwart zu einer Bestandsaufnahme des Schreckens gewandelt.
Der Bottich enthält 1,4 Kilogramm tote Insektenmasse – die Ausbeute einer Falle, aufgestellt im Jahr 1989. In der kleinen Dose befindet sich der Inhalt einer Falle, errichtet am selben Ort, über denselben Zeitraum, jedoch zwei Jahrzehnte später: Sie enthält noch ganze 294,4 Gramm.
Das entspricht einem Rückgang von 80 Prozent. Verschwunden sind nicht einzelne Arten, sondern massenweise Fluginsekten. Hummeln, Wespen, Schmetterlinge, Nachtfalter, Schwebfliegen, Fliegen und Mücken, Käfer, Bienen, Libellen. »Klingt vielleicht irre«, sagt der Insektenforscher Martin Sorg, »aber sie schmieren alle ab.« Messfehler, so scheint es, sind ausgeschlossen.
Die Krefelder benutzen seit Ewigkeiten denselben Fallentyp. Auf Fotos, die den Aufbau dokumentieren, sieht man sogar denselben Mann hantieren. Nickelbrille, lange blonde Haare. Das ist Martin Sorg, unverkennbar.
Sorg engagiert sich seit Jahrzehnten bei den Krefelder Entomologen. Wer ihm ins obere Stockwerk des Vereinsheims folgt, stößt dort auf Dutzende Umzugskisten und auf weitere Bottiche und Dosen. Insgesamt 50 Standorte im Rheinland haben die Krefelder beprobt. Feuchte Wiesen, Kiesgruben, Waldsäume. Verwaist sind heute, wie Martin Sorg betont, »vor allem geschützte Gebiete, optisch top in Schuss, in denen es sonst von Insekten wimmelte«.
Mit 70, 80, 90 Prozent beziffert er die Verluste an den einzelnen Standorten. Während sich der Schwund in Zahlen bilanzieren lässt, sind seine ökologischen Folgen nur ansatzweise zu fassen: Vögeln fehlt es an Nahrung, Schädlingen an Feinden, Blüten an Bestäubern.
Krefeld, die Stadt am Niederrhein, gilt in Expertenkreisen als Chiffre für den Niedergang der Insekten. Doch wo immer Forscher Langzeitdaten über das Vorkommen von Insektenarten sammeln, melden sie ebenfalls drastische Einbrüche, im In- wie im Ausland. Die meisten Bestandskurven sehen aus, als sei ihrem Ersteller der Stift ausgerutscht.
Der Versuch, zu ermitteln, wie es zu dieser fatalen Entwicklung kommen konnte, führt fort vom Niederrhein. In Gesprächen mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen zeichnet sich ein Umweltskandal ab. Es geht, zunächst, um ein Schädlingsbekämpfungsmittel, das offenbar auch Nützlinge das Leben kostet.
Die Brisanz der Geschichte geht indes über diesen Einzelfall hinaus: Systematisch unterschätzen Behörden die Risiken, die mit dem Einsatz von Pestiziden verbunden sind – und reagieren nur träge auf frühe Alarmsignale. Die Krise der Insekten kündigt sich an, lange bevor die Krefelder den Massenschwund bemerken.
Das meistverkaufte Pestizid weltweit: Glyphosat
Zuerst, um die Jahrtausendwende, schlagen Imker in den USA und Europa Alarm. Einige vermissen ganze Bienenvölker. Praktisch über Nacht – und ohne dass sich tote Honigbienen finden. Ein Mysterium. Bald schon sollen Imker fast überall auf der Erde mit ihm konfrontiert sein. Das Bienensterben dauert bis heute an. Der Verdacht drängt sich auf, dass die Honigbienen und die anderen verschwundenen Insekten es mit einem gemeinsamen Gegner zu tun haben könnten.
Freie Universität Berlin, ein lichtdurchflutetes Labor. Auf einer Unterlage von der Größe eines Frühstücksbretts klemmen 25 Plastikhülsen, darin die Körper von Honigbienen. Oben schauen die Köpfe heraus. Die Antennen der Bienen wippen hin und her. Eine Doktorandin flößt ihnen mit einer Pipette Zuckerwasser in den Rüssel. Während der Prozedur strömt ein blumiger Duft ins Labor.
Nach zwei, drei Lektionen, sagt die Doktorandin, hätten die Honigbienen begriffen, ihn mit Nahrung zu verbinden. Eine klassische Konditionierung: Die Tiere fahren ihren Rüssel bereits aus, wenn sie bloß den Duft wahrnehmen.
Randolf Menzel lehnt im Türrahmen. Er ist Professor, 76 Jahre alt und hat diese Versuchsanordnung entworfen. Wenige Menschen kennen sich mit Bienen so gut aus wie Menzel. Dabei hat er zu ihnen einen anderen Zugang als ein Insektenkundler. Randolf Menzel ist Neurobiologe. Seit Jahrzehnten schon experimentiert er mit Honigbienen. Sie dienen ihm als Modellorganismus: Menzel erforscht, warum das Denken in die Welt kam.
Eine Arbeitsbiene braucht ein gutes Gedächtnis. Bis zu zehnmal täglich verlässt sie ihren Stock, um Pollen und Nektar zu sammeln. Sie fliegt Blüten in einem Radius von bis zu sechs Kilometern an. Dabei merkt sie sich offensichtlich markante Punkte – hohe Bäume, Gebäude, Wasserläufe – und wie diese im Raum positioniert sind. So kann man eine erfahrene Arbeitsbiene sogar unterwegs fangen und an einem anderen Ort freilassen: Sie orientiert sich mithilfe der Wegmarken neu und findet zu ihrem Volk zurück.
Doch die Honigbiene, sagt Randolf Menzel, könne Gelerntes auch wieder vergessen. Er hat getestet, was geschieht, wenn man bei den Laborexperimenten Spuren von Pestiziden in das Zuckerwasser für die Bienen mengt. Honigbienen kommen mit einer Vielzahl dieser chemischen Substanzen in Kontakt. Über 70 unterschiedliche Wirkstoffe finden Kontrolleure regelmäßig im Bienenbrot, das die Arbeiterinnen als Futtermittel für sich und die Brut in den Waben einlagern.
Es handelt sich um Rückstände von Mitteln zur Schädlingsbekämpfung, von Unkrautvernichtern und von Fungiziden. »Als Neurowissenschaftler interessiert mich besonders eine Stoffklasse«, sagt Randolf Menzel. »Neonicotinoide. Denn es sind Nervengifte.«
NEONICS – so der Zungenbrecher abgekürzt – sind synthetische Verwandte des Nikotins. Die ersten Mittel kamen Anfang der 1990er Jahre auf den Markt. Heute zählen sie zu den meistverkauften Pestiziden – weltweit. Nur ein Wirkstoff kommt rund um den Globus häufiger auf die Felder: Glyphosat, von Experten der WHO als »wahrscheinlich krebserregend« eingestuft.
Während es sich bei Glyphosat um ein Unkrautvernichtungsmittel handelt, töten Neonicotinoide tierische Schädlinge. Bauern in über 120 Ländern setzen die Substanzen ein, um ihre Kulturen vor Blattläusen, Drahtwürmern oder Kartoffelkäfern zu schützen. Gartenbauer behandeln Bäume und Blühpflanzen mit den Substanzen. Auch Ampullen, deren Inhalt man Haustieren ins Fell träufelt, um Parasiten zu töten, enthalten einen Wirkstoff der Gruppe.
Die Erfolgsgeschichte der Neonicotinoide liegt in ihrer sogenannten systemischen Wirkweise begründet. In der Regel kaufen Bauern Saatgut, das bereits mit einem Neonicotinoid ummantelt wurde. Während ihres Wachstums verbreitet sich diese Beize über das Leitbündelsystem (das vor allem Wasser und darin gelöste Stoffe transportiert) im gesamten Gewebe der Pflanze, in Stamm, Blättern und Blüten.
Einem Landwirt erleichtert das die Arbeit enorm. Seine Kulturen sind gleichsam geimpft. Er muss nicht mehr so penibel beobachten, ob seine Pflanzen überhaupt von einem Schädling befallen werden; nicht abwägen, wann es Zeit wird, einzuschreiten; er braucht nicht mehr so oft zum Spritzen aufs Feld zu gehen.
Ihre systemische Wirkweise bedeutet jedoch auch, dass die Insektizide in Pollen und Nektar der Kulturpflanze dringen. In die Nahrung der Bienen und anderer Bestäuber also – mit messbaren Folgen. In Menzels Laborversuchen etwa haben Honigbienen, deren Zuckerwasser mit einem Neonicotinoid versetzt wurde, die Duft-Lektion nach einem Tag vergessen.
In Feldversuchen verlieren Arbeiterinnen, die mit den Wirkstoffen behandelte Rapsfelder anfliegen, die Orientierung. Sie finden ihr Volk nicht mehr, irren umher bis zur völligen Erschöpfung. »Sie sterben«, sagt Randolf Menzel, »aber nicht unmittelbar an den Pestiziden.« Dieser Tod ist in den Protokollen der Zulassungsstudien nicht vorgesehen.
Bevor eine Substanz auf dem europäischen Markt vertrieben werden darf, müssen ihre Hersteller nachweisen, dass sie keine »Nichtzielorganismen« schädigt. Sie testen den Effekt eines Wirkstoffs jedoch nicht im Hinblick auf alle Lebewesen, sondern nur an einigen wenigen Modellorganismen. Als Stellvertreter für Fluginsekten dient die Honigbiene.
Ein zentraler Wert bei diesen Versuchen heißt LD 50. LD steht für letale Dosis. Die LD 50 gibt an, bei welcher Menge die Hälfte der Modellorganismen – also etwa Honigbienen – an dem Wirkstoff zugrunde geht. »Wegschautests« nennen manche Experten die LD-50-Versuche. Honigbienen bekommen den Wirkstoff. Dann, 24 oder 48 Stunden später, zählt ein Laborant die Toten und die Lebenden.
Aber: Welche Biene lebt nur ein, zwei Tage? Arbeiterinnen leben im Sommer im Schnitt 30 Tage – und sind in dieser Zeit einer oder mehreren Substanzen ausgesetzt, und zwar chronisch. Zuständig für die Genehmigung von Wirkstoffen ist auf der Ebene der Europäischen Union die Europäische Kommission. Ihre Entscheidungen wiederum basieren auf den Erkenntnissen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA). Die EFSA prüft etwa, ob ein Pestizid schädlich auf die Gesundheit von Menschen oder Tieren wirkt.
Neonicotinoide: Eine Gefahr für Bienen?
Honigbienen, aber auch wild lebende Insekten spielen bei der Produktion unserer Nahrung eine zentrale Rolle: Sie bestäuben zwei Drittel der wichtigsten 100 Kulturpflanzen. Vor allem Gewächse, die Vitamine liefern, so die Faustregel, sind darauf angewiesen, dass Insekten ihre Pollen verbreiten. Eine Leistung, deren Wert Experten mit über 14 Milliarden Euro angeben – allein in Europa.
Ermittelt die EFSA die Risiken eines Pestizids, hat sie deshalb besonders die Bienengesundheit im Auge. Nur: Auf der Basis der LD-50-Tests sind Gefährdungen der Insekten offensichtlich nicht zu erfassen. Denn ob und wie eine Substanz auf das Verhalten des Insekts wirkt, ob es seine Fortpflanzung beeinträchtigt, wird durch kein Studienprotokoll erfasst.
Allein in den vergangenen zwei Jahren sind Studien über Studien erschienen, die – wie die Untersuchungen von Randolf Menzel – »subletale«, also nicht unmittelbar tödliche Effekte der Neonicotinoide auf Honigbienen beschreiben.
Im Licht dieser Studien prüft die EFSA derzeit zum wiederholten Mal, ob Neonicotinoide eine Gefahr für Bienen darstellen. Selbst wenn die EFSA, wovon auszugehen ist, zu dem Schluss kommt, dass die Stoffe ein Risiko bilden: Die Behörde selber ist offensichtlich nicht in der Lage, solche Gefahren von vornherein auszuschließen. Sie hinkt in ihren Erkenntnissen der Forschung hinterher.
[Tatsächlich hat die EFSA im Februar 2018 die Bienenschädlichkeit der drei Neonicotinoide Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam bestätigt, d. Red.]
Das ist das eine Problem. Das andere: der Fokus der EFSA auf die Honigbienen. »Wir haben nicht nur ein Bienenproblem. Wir haben ein Bestäuberproblem«, konstatiert etwa Josef Settele, ein international renommierter Agrarökologe und Schmetterlingsforscher des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung in Halle (Saale). Falter, Hummeln, Schwebfliegen, Wildbienen – Abertausende Arten bestäuben Wild- und Kulturpflanzen. Weltweit, schätzt Settele, erbringen Honigbienen nur etwa 30 Prozent der Bestäuberleistung, all die anderen Insekten hingegen 70 Prozent.
Ob und wie ein Pestizid auf wild lebende Bestäuberinsekten wirkt, muss jedoch kein Hersteller nachweisen. Standardisierte Tests fehlen. Wieder füllen im Fall der Neonicotinoide inzwischen unabhängige Studien die Lücken. Es mehren sich die Beweise, dass zahlreiche Insekten sogar noch weitaus empfindlicher auf die Substanzen reagieren als die Honigbiene.
Fatalerweise stören die Stoffe bei vielen Arten offenbar Fruchtbarkeit und Paarungsverhalten: Hummeln etwa bilden nach Kontakt mit Neonics weniger Königinnen aus. Solitärbienen legen keine Nester mehr an. Erzwespen finden nicht zur Paarung zusammen. Diese Insekten zählen zu den Hautflüglern, einer außerordentlich artenreichen Ordnung. Allein in Deutschland umfasst sie mehr als 10 000 Spezies.
Mitte Oktober 2016 tagen Hautflügler-Fachleute in Stuttgart. Einer der Teilnehmer der Konferenz, Johannes Steidle, Professor für Tierökologie an der Universität Hohenheim, wird die vorgetragenen Studienergebnisse später als »katastrophal« bezeichnen. Ein Ausdruck, dessen Schärfe sich im Alltagsgebrauch abgeschliffen hat. Wissenschaftler jedoch behalten ihn Ausnahmeereignissen vor, gravierenden Wendungen zum Schlechten hin.
Ökologen berichten auf der Tagung von Kontrollgängen durch die Isarauen in der Nähe von Dingolfing, ein Schutzgebiet. Zehn Jahre zuvor haben sie hier 58 Wildbienenarten entdeckt. Im Sommer 2016 finden sie noch 14 Spezies. Im Leipziger Auenwald, einem der größten seiner Art in Europa, vermissen die Forscher Wespen. Ihre Suche konzentriert sich auf den Kronenraum. Dort haben sie im Jahr 2002 mehr als 2100 Tiere gezählt, Angehörige Dutzender verschiedener Bienen- und Wespenarten. Nun ist die Hälfte der Spezies verschollen, und es findet sich nur noch ein Drittel der Individuen.
Kollegen referieren über ein Projekt am Goldberg in Baden-Württemberg. Dort haben sie der Schwarzen Mörtelbiene ein Paradies geschaffen. Sie säten Hornklee und Esparsetten (beides Schmetterlingsblütler und Verwandte der Erbsen), ihre Lieblingsquelle für das Larvenfutter. Sperrten das Nistgebiet weiträumig ab. Dass die vergangenen Jahre zu den heißesten seit Beginn der Wetteraufzeichnung zählten, ließ zusätzlich hoffen: Mörtelbienen mögen Wärme. Indes: Die Zahl der Nester hat sich in den vergangenen zehn Jahren halbiert, viele der verbliebenen sind inaktiv.
Auffällig ist, dass sich in allen Fällen die Lage innerhalb eines Jahrzehnts extrem zugespitzt hat, genau wie bei den Populationen, die der Krefelder Verein erfasst. 2007 stieg der Absatz neonicotinoidhaltiger Mittel in Deutschland sprunghaft an. Von 652 Tonnen im Vorjahr auf nunmehr 1656 Tonnen. Verursachen also die Neonicotinoide den Insektenschwund?
Etwas scheint zunächst entschieden gegen diese These zu sprechen: Fast alle der dokumentierten Insektenrückgänge ereigneten sich nicht in Agrarland – sondern in Naturschutzgebieten. Die Daten lassen aber auch einen anderen Schluss zu: Neonicotinoide breiten sich weit über ihre ursprünglichen Einsatzgebiete hinweg aus. Tatsächlich häufen sich Hinweise, dass die Substanzen in die Umwelt jenseits der Felder dringen – unkontrolliert und dauerhaft.
Die University of Sussex liegt am Rande des Seebads Brighton in Südengland. Hier lehrt Dave Goulson. Er hat sich als Hummelforscher einen Namen gemacht. Goulson kennt die von den Krefelder Insektenkundlern erhobenen Messwerte gut. Er gehört zu einer Gruppe von Wissenschaftlern, die die Daten auswerten und in einer Fachzeitschrift publizieren sollen.
Als Goulson die Daten aus Deutschland das erste Mal sieht, die Kilogrammangaben von früher und die Grammwerte von heute, fällt ihm sofort Edward Wilson ein, der berühmte amerikanische Soziobiologe. »Wenn die Menschheit unterginge«, hat Wilson einmal gesagt, "würde die Welt in den reichen Zustand des Gleichgewichts zurückpendeln, der vor 10 000 Jahren existierte.
Ohne Insekten aber würden die Ökosysteme kollabieren.» «Sieht aus», meint Goulson, «als könnten wir bald erfahren, ob Wilson recht hat." Verlängert man die Kurven aus Krefeld nur ein kleines bisschen, sagen wir bis ins Jahr 2020, landen sie bei null.
Es dauert nicht lange, bis auch in Goulsons kleinem Universitätsbüro dieser Zungenbrecher fällt: Neonicotinoide. »Wir reden über die Möglichkeit, dass Insektizide Insekten töten, das scheint mir nicht weit hergeholt.« Dave Goulson hat sich intensiv mit den Eigenschaften der Neonicotinoide beschäftigt. Sie sind hochgiftig.
Zum Beispiel Imidacloprid. Es ist die weltweit meistverkaufte Substanz der Gruppe, hergestellt von dem deutschen Unternehmen Bayer AG und seiner Crop-Science-Abteilung. Ein Teelöffel des reinen Wirkstoffs würde genügen, um 1,25 Milliarden Honigbienen zu töten. Doch, sachgemäß angewendet, kommt die Substanz natürlich nur äußerst stark verdünnt in die Umwelt. Für weitaus bedenklicher als ihre Giftigkeit hält Goulson weitere Merkmale der Gruppe. So zerfallen Neonicotinoide im Boden nicht schnell in ungefährliche Bestandteile und bauen sich ab – im Gegenteil: Sie reichern sich über Jahre hinweg an.
Die Studie, die Goulson auf seinen Bildschirm ruft, zeigt vier Quadrate. Vier Felder, die über sechs Jahre in Folge mit von Imidacloprid umhüllten Samenkörnern bestellt wurden. Die Untersuchung stammt nicht von Goulson. Sie findet sich auf Seite 639 einer umfangreichen Akte: der Zulassungsunterlagen für den Wirkstoff. Obwohl die Kurven der Imidacloprid-Mengen im Boden aller Felder über die Jahre steil klettern, urteilte die prüfende Behörde: »Hat nicht das Potenzial, sich im Boden anzureichern.«
»Inkompetenz oder Korruption?«, fragt Goulson, »das Urteil überlasse ich Ihnen.« Fest steht: Angesichts dieser Studie hätten bei den Prüfern alle Alarmglocken läuten sollen, weil sie den Effekt aus der Vergangenheit kennen. Bei fast allen Substanzen, die erst zugelassen und später verboten wurden, war nicht allein ihre Giftigkeit das Problem, sondern ihr Verbleib in der Natur.
Beispiel: Dichlordiphenyltrichlorethan, kurz DDT genannt, das einst meistverwendete Insektizid der Welt, ist seit den 1970er Jahren in den meisten Industrieländern verboten. Aber noch immer findet es sich in der Umwelt, lässt es sich in unseren Körpern nachweisen. Abhängig vom Bodentyp brauchen Neonicotinoide bis zu 1000 Tage, um sich auch nur zur Hälfte abzubauen.
Dabei gelangen gerade mit gebeiztem Saatgut große Mengen der Substanzen unter die Erde. So werden nur etwa fünf Prozent des Wirkstoffs von der Kulturpflanze aufgenommen, deren Samen behandelt wurden. Die restlichen 95 Prozent gehen in den Boden. Eine weitere Eigenschaft der Neonicotinoide macht das Verhängnis komplett: Sie sind wasserlöslich. Ein für Insektizide ungewöhnliches Merkmal. Normalerweise kleben die Mittel an den Pflanzen, Regen soll sie nicht abwaschen können. Neonicotinoide aber gelangen über das Wasser in die weitere Umgebung.
Dave Goulson ruft ein anderes Bild auf seinen Bildschirm. Wildblumen, die an Ackerrändern wachsen. Solche Blühstreifen sollen Insektenbestände fördern. Goulson hat die Pollen der Wildblumen auf ihren Neonicotinoid-Gehalt getestet. Teilweise lagen die Werte höher als in behandelten Kulturpflanzen. Das bedeutet, dass Insekten, selbst wenn sie keine Ackerflächen besuchen, den Wirkstoffen ausgesetzt sind.
Goulson ist ein jungenhafter, sympathischer Typ, der unterhaltsam erzählen kann. Vor einigen Jahren hat er in Südfrankreich einen verfallenen Hof gekauft, samt 13 Hektar Land. Darüber, wie er versucht, diesen Flecken Erde in eine Art Bullerbü für Insekten zu verwandeln, hat Goulson ein Buch geschrieben. Seine Geschichten vom Landleben beschwören die Stimmung unbeschwerter Sommertage herauf. Die Erinnerung an laue Stunden im Freien, zu denen das Brummen dicker Hummeln gehörte, der Anblick bunter Falter, das Kribbeln eines Marienkäfers auf der Haut.
Gut möglich, dass sich ein Bewusstsein um die Not der Insekten in der breiten Öffentlichkeit am besten über Gefühle wecken lässt. Und nicht über Zahlen, die die Nützlichkeit der Bestäuber in Euro angeben. Jedenfalls kommt es häufig vor, dass seine Leser sich bei Dave Goulson erkundigen, was sie selber tun könnten, um Insekten zu helfen.
In Großbritannien nehmen Gärten eine größere Fläche ein als alle Naturschutzgebiete zusammen. Die Menschen legen sich Sträucher oder Stauden zu, die Insekten gern besuchen. An mancher im Gartenmarkt erstandenen Pflanze baumelt sogar das Etikett »bienenfreundlich«. Wer ahnt schon, dass auch viele von ihnen mit Neonicotinoiden behandelt wurden?
Felder, Blühstreifen oder Gärten. Die Wirkstoffe finden sich inzwischen überall. Und sie sind mobil. Sie verbreiten sich über Gewässer, die Luft, das Grundwasser. Hinzu kommmt: Auch Insekten sind mobil, sie können fliegen. Die Wege zwischen Schutzgebieten und Ackerflächen sind meist kurz. Und schließlich gibt es auch Insekten, die Insekten fressen, etwa Schädlinge, die wiederum zuvor neonicotinoidhaltiges Grünzeug gefuttert haben.
Jörn Wogram ist Leiter des Fachgebietes Pflanzenschutz im Umweltbundesamt. Das UBA ist Deutschlands zentrale Umweltbehörde. Sie wacht darüber, ob Pflanzenschutzmittel »unannehmbare Auswirkungen«, so heißt es im Gesetz, auf die Umwelt haben. Sind die Auswirkungen der Neonicotinoide noch annehmbar? Wogram muss ausholen. Anders als uns die bunten Bilder auf Milchtüten glauben lassen, haben sich Bauernhöfe zu lebensfeindlichen Orten entwickelt. Rund neun Kilogramm Pestizide kommen jedes Jahr auf jeden Hektar Ackerfläche.
Ein Apfelbaum wird in einer Saison durchschnittlich 32-mal mit einem Pflanzenschutzmittel behandelt. Weinreben 17-mal. Kartoffeln etwa elfmal. Rund 700 Pflanzenschutzmittel sind hierzulande im Einsatz. »Das ganze System ist schon lange nicht mehr nachhaltig«, sagt Jörn Wogram. „Innerhalb dieses Systems können wir als UBA zwar die Spreu vom Weizen trennen, aber um Nachhaltigkeit zu erreichen, müssen wir den Pestizideinsatz insgesamt reduzieren." Die Neonicotinoide? Eindeutig Spreu.
Aber es müssten auch mehr »Rückzugsflächen« geschaffen werden, auf denen gar keine Pestizide eingesetzt werden, sagt Jörn Wogram. Gelinge das nicht, werde die Umwelt nicht ausreichend vor den Auswirkungen des Pestizideinsatzes geschützt – und damit stehe auch die Glaubwürdigkeit des UBA infrage. Auch Jörn Wogram bestätigt: »Neonicotinoide sind nicht nur hochgiftig für Insekten, sondern sie können sich in der Umwelt verteilen und leicht in Gewässer gelangen.«
Ein Verbot hat innerhalb der EU bisher nur Frankreich für 2018 angekündigt. In anderen Ländern, etwa auch in Deutschland, ist der Einsatz einiger Wirkstoffe zwar seit 2013 für einige Anwendungsarten und Kulturen eingeschränkt – ohne dass sich diese Teilverbote jedoch nennenswert auf den Absatz der Neonicotinoide ausgewirkt hätten.
32 Mal wird ein Obstbaum mit Gift behandelt
Richtet man einmal den Fokus auf das Geschehen in seiner Gesamtheit, dann lässt sich der Schwund der Insekten als ein gigantisches wissenschaftliches Puzzle betrachten. Extreme Wetterereignisse, Klimawandel, Verlust von Lebensraum, hohe Stickstoffeinträge, Krankheiten und invasive Arten: Es gibt viele Faktoren, die vermutlich zum Insektenrückgang beitragen.
Man könnte nun auf die Idee kommen, dass die Pestizide in diesem Puzzle allenfalls ein Teilchen unter vielen darstellen. So argumentieren zum Beispiel Lobbyisten der Agrarindustrie.
Jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse deuten jedoch in eine ganz andere Richtung: Danach reagiert ein Insekt, dass bereits unter Stress steht, extrem sensibel auf ein Gift in seiner Umwelt.
»Wenn ich abends zwei, drei Gläser Wein trinke, beeinträchtigt mich das nicht in meinem Tun«, sagt Matthias Liess. »Ich kann wunderbar auf dem Sofa liegen und fernsehen. Aber wenn ich mit der gleichen Menge Alkohol im Blut auf der Autobahn unterwegs bin, kann das schnell tödlich enden.«
Matthias Liess ist Öko-Toxikologe. Er arbeitet für das Umweltforschungszentrum in Leipzig (UFZ). Gerade läuft er an einer Rinne entlang. Sie ist schnurgerade, 14 Meter lang, einen halben Meter breit. Auf einer Seite läuft Wasser ein, auf der anderen ab. Die Nachbildung eines Bachlaufs.
Rund 50 verschiedene Arten von Wasserorganismen haben Forscher des UFZ in ähnlichen Rinnen ausgesetzt. Larven von Eintagsfliegen und Libellen, Käfer und Schnecken. In den ersten Wochen und Monaten war die Rinne für sie ein Sofa. Und fügte Liess dem Wasser der Sofagemeinschaft ein beliebiges Pestizid zu, in einer Konzentration, nicht höher als für Trinkwasser erlaubt, dann passierte: nichts.
Inzwischen aber, nachdem das Wasser seit etwa zwei Jahren eingelaufen ist, entsprechen die Bedingungen in dem Gerinne denen eines natürlichen Gewässers. Konkurrenzen um Nahrung sind entstanden, Wettbewerbe um Partner, die Spezies erzeugen Nachwuchs. Begonnen hat der ganz normale Kampf ums Dasein. Sozusagen die Autobahnfahrt der Wasserorganismen.
In diesem Stress-Stadium bringen selbst niedrig dosierte Zugaben eines Pestizids mehr als die Hälfte der Arten über kurz oder lang ums Leben. Die Empfindlichsten trifft es zuerst: die Larven. Wenn sich ein Organismus nur einmal im Jahr fortpflanzt und die neue Generation ausgerechnet dann schlüpft, wenn das Pestizid eingetragen wird, bedeutet das für die Spezies den Untergang.
Was Liess da erforscht hat, heißt nichts anderes, als dass selbst die Trinkwassergrenzwerte für Pestizide viel zu hoch angesetzt sind, »mindestens um den Faktor 10«, hat er berechnet. Und dies schon in einer idealen Welt, in der es die Lebewesen nur mit dem Stress zu tun haben, den sie sich selbst machen. Fügt Liess noch zusätzlichen Umweltstress hinzu – zum Beispiel Stickstoff im Wasser oder Hitze – steigt die Todesrate noch an.
»Die Zulassungsbehörden machen gravierende Fehler«, sagt Liess. Die Kriterien, nach denen sie prüften, beruhten nicht auf Erkenntnissen moderner, komplexer Wissenschaft. »Das ist eine Art TÜV-Prüfung, die seit Jahrzehnten veraltet ist. Die Risiken, die mit dem Einsatz von Pestiziden einhergehen, werden durch die Bank unterschätzt.«
Sämtliche Forscher, die – teils in Hintergrundgesprächen – mit ihrem Wissen zu diesem Artikel beitrugen, plädieren für ein Verbot der Neonicotinoide. Sie halten die Belege der Schädlichkeit dieser Stoffe für überwältigend. Ausnahmslos warnen sie jedoch auch davor zu glauben, man müsse nur diese eine Stoffklasse aus dem Verkehr ziehen, und die Insekten kehrten zurück.
Sorgen bereitet Experten bereits heute ein möglicher Nachfolger. Eine neue Insektizidgruppe, nicht ganz so ein Zungenbrecher, aber ebenfalls mit einem systemisch wirkenden Nervengift. Sulfoxaflor. Es steht im Verdacht, hochgiftig für Bienen zu sein. In Deutschland liegen dem zuständigen Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit derzeit drei Anträge auf Genehmigung sulfoxaflorhaltiger Insektizide vor.
»Jedes Mittel, das den Ertrag steigert, führt gleichzeitig zu einem Verlust der Arten«, sagt Teja Tscharntke, Professor für Agrarökologie in Göttingen. »Am Ende müssen wir uns als Gesellschaft entscheiden, in welcher Welt wir leben wollen. In einer ausgeräumten Landschaft. Oder in einem bunten, lebendigen Mosaik.«