Verfall
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Verfall
Nun sitze ich hier. Neben ihm. Das heißt, neben dem, was von ihm übrig geblieben ist. Ich habe es damals nicht für nötig gehalten, ihn zu begraben. Turbulente Zeiten… ich hatte damals andere Sorgen, nehme ich an. Damals… Ich koste den bitteren Geschmack dieses Wortes und lasse ihn mir auf der Zunge zergehen. Andere Sorgen. Seit einiger Zeit verwirren sich meine Gedanken und ich verliere ab und zu den Faden, aber das ist nicht weiter tragisch. Jetzt nicht mehr. Schließlich gibt es niemanden mehr, der sich daran stören würde. Im Grunde genommen erheitert mich die Vorstellung, langsam verrückt zu werden. Es gibt nichts Neues mehr auf der Welt… Wieso nicht einfach langsam verrückt werden? Nicht, das ich mich langweilen würde – es gibt immer etwas zu tun. Wandern. Das Zelt flicken. Jagen. Feuer machen. Wasser suchen. Noch gibt es Straßen, die das Vorankommen erleichtern. Endlose Autobahnen, die in der Sommerhitze flimmern. Verkeilte Autos… rostende Särge in ihrer blinden Windschutzscheiben-Einäugigkeit mit Nummernschildern unter dem grinsenden Kühlergrill. Wieso hätte ich ihn begraben sollen? Andere sind auch nicht besser dran. Oder dran gewesen? Ich verliere allmählich das Gefühl für Vergangenheit, Vor- und Nachzeitigkeit. Spielt Zeit eine Rolle, wenn man in einem ewigen Jetzt lebt? Ich habe aufgehört, den immergleichen Wechsel der Jahreszeiten zu verfolgen. Es ist nicht wichtig, ob zehn oder tausend Jahre im Rhythmus von werden und vergehen und wieder werden atmen. Ich denke aber, dass ich ihn vor zehn Jahren hier hergebracht habe. Ohne ihn zu begraben. Wieso dieses idiotische Schuldgefühl, weil ich ihn nicht würdig unter die Erde gebracht habe?! Würde? Was bedeutet Würde in einer sterbenden Welt? Ich hatte andere Sorgen. Außerdem hat er es doch hübsch hier, in diesem Buchenwäldchen, wo ihn im Herbst das weiche Laub zudeckt, damit er im Winter nicht frieren muss. Er soll sich nicht beklagen! Nun bin ich wieder einmal hier, um ihn zu besuchen. Sein Brustkorb ist ein kleines Gärtchen, in dem Kräuter wachsen. Kleine Raubtiere scheinen seine Wirbel weggeschleppt zu haben, und sein Schädel ist von Mäusen bewohnt. Verschlissene Fetzen einer Kunstlederjacke, die einmal irrsinnig teuer war. Morsche Reste einer Jeans stecken in vermoderten Winterstiefeln.
Damals haben wir Daten geklaut. Damals… Damals, als es noch Daten gab. Das war, bevor das große Sterben begann. Informationen, die in gigantischen Netzen um die Welt rasten – so schnell wie Licht. Wir haben Kanäle gegraben und einen feinen Sickerstrom wertvoller Daten abgezweigt. Lukrativ. Zumindest in einer Welt, in der Besitz etwas bedeutet. Ich glaube, die Datendiebe waren diejenigen, die zuerst bemerkt haben, dass etwas nicht stimmt. Es gab Anzeichen für eine Art von Infektion. Die Datenströme wurden klumpig. Unrein. Digitaler Moder. Ganze Bereiche der Weltnetze schienen abzusterben. Zu verfaulen. Die Regierung versuchte, die Infektion einzudämmen – allerdings ohne Erfolg. Schlimmer noch: der Moder war ansteckend und beitete sich auf die gesunden Bereiche des Netzes aus. Innerhalb von zwei Wochen war die Zivilisation ins Rundfunkzeitalter zurückgeworfen worden. Dann begann das Sterben. Niemand wusste, wieso. Sie sagten, es sei etwas in den Zellen. Gerüchte machten die Runde. Bald wusste jeder von einem Angehörigen oder einem Bekannten zu berichten, der plötzlich starb. Ohne Vorwarnung, ohne Schmerzen. Die Menschen fielen einfach um. In der Öffentlichkeit, im Straßenverkehr, beim Essen… sie starben ohne ersichtlichen Grund wie die Fliegen. Sekten predigten in den Straßen das Ende der Welt, die Städte brannten und die Einkaufszentren wurden geplündert. – turbulente Zeiten. Es dauerte einige Monate, und dann war die Welt still geworden. Mein alter Freund hier und ich, wir waren in die Wälder gegangen. Warum, weiß ich nicht mehr. Ich hatte andere Sorgen. Anfangs wagten wir nicht, ein Feuer zu entzünden – aus Angst, andere Menschen anzulocken, denn es musste noch welche geben. Hin und wieder hörten wir Schüsse. Aber schließlich verstummten auch die. Eines Morgens war mein Kollege kalt. Gestorben. Ich legte mich neben ihn, und wartete den ganzen Tag und eine Nacht lang auf den Tod. Doch der Tod hatte mich vergessen, also packte ich nützliche Dinge zusammen und ging. Ich lief in den Süden. Ich lief in den Norden. Ich lief in den Westen und in den Osten – doch so weit ich auch wanderte – nirgends fand ich lebende Menschen. Einen Sommer lang hing ein süßlicher Geruch über dem Land, und ich mied die Stätten, an denen sie sich versammelt hatten, um zu sterben. Eine Zeit lang dachte ich noch, ich würde ebenfalls sterben, aber der Tod schien mich tatsächlich vergessen zu haben. Ich bin der letzte lebende Mensch auf diesem Planeten. Die Natur ist in die Städte gegangen, und zwischen Hochhäusern winden sich ausgebrochene Topfpflanzen. Ruinen aus algenbewachsenen Glasscheiben. Durch den Asphalt brechen inzwischen junge Bäume. Und Vögel nisten darin. Im Sommer sind die Parks kleine Paradiese. Hin und wieder stößt man auf Skelette, aber an deren Anblick bin ich gewöhnt. Ich lebe im Überfluss: Konserven aller Art! Süßigkeiten, Büchsenfleisch, Gemüse… Ich wandere umher und suche. Anfangs hatte ich noch die Hoffnung, ander zu finden, aber der Tod hat mich tatsächlich vergessen. Ich habe aufgehört, Menschen zu suchen und stattdessen begonnen, mir das anzuschauen, was mir die Welt zu bieten hat. Ich kenne diese Breiten. Warum ich an diesen Ort hier zurückgekommen bin? Vielleicht, um mich zu verabschieden. Von ihm. Von allem. Vielleicht ist es so, wie ich ein einem der Zahllosen Bücher, die ich in den verlassenen Sälen der Bibliotheken gelesen habe. Vielleicht beginnt alles mit einem Satz. Einem Satz wie: Und hier fängt die Geschichte an.