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Salamander schrieb am 6.6. 2006 um 15:16:20 Uhr über

rechtschreibreform

Wer bestimmt, wie wir schreiben?

Die lange Agonie der Rechtschreibreform: Ein Regelwerk krepiert am Pfusch

Die Reparaturen an den neuen Rechtschreibregeln hören nicht auf. Verantwortlich für das Desaster sind Ministerialbürokraten, die mit unhaltbaren Begründungen unsinnige Schreibweisen durchsetzen wollten. An den Schulen herrscht die orthographische Anarchie. Die große Mehrheit der Schreibenden steht dem Regelwerk ablehnend bis frustriert gegenüber.

Die Einführung war wie der Aufbruch in eine neue Schreibzeit. Als 1996 die reformierten amtlichen Schreibregeln an Schulen und Behörden eingeführt wurden, setzten die Urheber auf Zeit und auf die Geiselhaft der Schulkinder. In einem einzigartigen Massenexperiment wurden Lehrer verpflichtet, Schreibweisen zu lehren, die grammatisch falsch sind. Kritiker wurden auf eine Probezeit vertröstet. Als 2005 die Probezeit ablief, berief man sich auf die vielen Schulkinder, die nun schon so lange nach den neuen Regeln lernen. Inzwischen wurde die Reform immer wieder überarbeitet, bis Frühjahr 2006 will der überwiegend mit Reformern besetzteRat für deutsche Rechtschreibungabermals Änderungen vorschlagen.

Die Kultusministerien der deutschsprachigen Länder wollen das Prestigeobjekt durchpauken, selbst wenn davon nur die ss-Schreibung übrigbleibt. Hundert Millionen Menschen sollen sich umstellen, damit eine kleine Clique ihr Gesicht wahren kann. Der Verlagsbranche bringt das Reformprojekt schon seit Jahren gewaltige Defizite.

Karl Blüml, als Schulinspektor seit vielen Jahren einer von Österreichs Motoren der Reform, sieht in der Neuregelung der ß-ss-Schreibung ein besonderes Verdienst Österreichs: „Diese Schreibung war in Österreich schon im 19. Jahrhundert üblich, wurde aber dann 1901, um Einigkeit im gesamten deutschen Sprachraum zu gewinnen, aufgegeben.“ Über die Mängel dieser „Heyseschen s-Schreibung“, die schon im 19. Jahrhundert diskutiert wurden, sagt er nichts.

Wie steht es wirklich um den Zusammenhang zwischen Sprache und Orthographie? „Die Schreibung ist ganz einfach die grafische Darstellung der Sprache“, erklärt Blüml. „Wie eine solche Darstellung erfolgt, ist jedoch von Sprache zu Sprachezumeist aus historischen Gründenrecht unterschiedlich. Ein markantes Beispiel ist die türkische Sprache. Dort hat man an der Wende zum 20. Jahrhundert eine Umstellung auf das lateinische Alfabet durchgeführt und dabei versucht, Laute und Buchstaben so weit wie möglich überein zu stimmen . Das ist ohne eine solcheRevolutionin Kultursprachen praktisch nicht möglich.“ Revolution?

Behutsame Weiterentwicklung?

Reformer wie Klaus Heller erklären doch laufend, es gehe um eine behutsame Weiterentwicklung der Orthographie wegen der Fortentwicklung der Sprache. „Konkret hat sich an der Sprache sehr viel geändertnicht zuletzt durch die Aufnahme zahlreicher neuer Wörter aus anderen Sprachen, durch Wortneuschöpfungen im Deutschen selber, so gab es etwawohlverdientim Duden der 50er Jahre noch nicht. “ Allerdings folgen die Reformregeln nicht dem Schreibgebrauch, sondern wirken mit der extremen Groß- und Getrenntschreibung der Schreibentwicklung bewußt entgegen. Die Folge sind Übergeneralisierungen. Immerhin hatte man ja 1996 die Möglichkeit, nur die Regeln zu ändern, indem man sie an den Schreibgebrauch anpaßt. Stattdessen wurden unübliche und falsche Schreibweisen für verbindlich erklärt und durch neue Regeln gerechtfertigt.

Die Orthographie im bisherigen Sinne beschreibt die Konventionen, die die Sprachgemeinschaft alsrichtig“ ansieht. Nun wurden nicht wenige Schreibungen eingeführt, die in diesem alten Sinn alsgrammatisch falschbezeichnet werden. Auf die Frage, welche Funktion er einer zukünftigen Orthographie beimißt, erklärt Blüml: „Wenn man die Vorwörter der diversen Dudenauflagen nachliest, findet man zumindest ab 1961 laufend den Hinweis darauf, dass man es bedauert, dass eine Reform jener Bereiche nicht möglich sei, in denen die Schreibgemeinschaft offenbar überwiegend anders schreibt, als es die Regeln von 1901 vorsehen. In dem Sinn wird es Aufgabe des Rates für deutsche Rechtschreibung sein, die Schreibentwicklung zu beobachten und sozusagen keinen Reformstau entstehen zu lassen.“ Eine solche Beobachtung müßte aber schon jetzt erhebliche Störungen der Schriftsprache feststellen. So tritt bereits die Falschschreibung „Aufwändungen“ massenhaft auf. Die eigentliche Sprachentwicklung kann nur bei Wegfall irritierender Komponenten klar beobachtet werden.

Was Adverb ist, bestimmen wir

Bei der Orthographie handelt es sich um Konventionen, die teilweise erst im Nachhinein grammatisch begründet wurden“, führt Blüml aus. „Die deutsche Sprachgemeinschaft ist eine Großschreibung der Substantive — ausgehend von der Großschreibung der Namen/Bezeichnungen für Gottschön langsam hineingewachsen. Vieles ist dabei reine, stetig wechselnde Interpretation. Wie gerade die Geschichte der Nominationsstereotype beweist. Ebenso ist die Geschichte der Schreibung von Substantivierungen höchst wechselhaft. Es kommt darauf an, nach welchem Grammatikmodell man Substantivierung definiert. Der FallLeid tunist ein solcher Interpretationsfall. Natürlich kann man mit Fug und Recht sagen, das ließe sich nicht wirklich substantivisch interpretieren. Mit demselben Recht kann man aber auch sagen, dass die allgemeine Konzeption vonLeideine substantivische ist.“ Einerseits erkennt Blüml die deskriptiven Grammatikmodelle als die ernsthafteren an. Andererseits kann ein Grammatikmodell, das 1996Leid tun“ vorschrieb, nicht deskriptiv gewesen sein. Abgesehen davon kann man nicht zwei Grammatikmodelle, die sich gegenseitig widersprechen, als gleichberechtigt ansehen, ohne Klärungsbedarf zu sehen. Blüml: „Die Reform 1996 entschied sich hier für das Paradigma Substantiv (groß) + Verb (getrennt und klein) — eine absolut zulässige Entscheidung angesichts der Möglichkeiten.“ Man entschied sich damit aber auch, eine auch aus Reformersicht mögliche Variante als falsch zu verbieten!

Als bekannteste Regel gilt die neue ss-Schreibung, und sie stellt das wichtigste Prestigeelement der ganzen Reform dar. Hier sieht Karl Blüml große Erfolge: „Diese Regel wird von den Neulernern ganz leicht und schnell angenommen, weil sie die s-Schreibung an alle anderen Konsonantenverdoppelungs-Regeln angleicht. Man schreibtsie kam‘, weil das [a] lang gesprochen wird, man schreibtder Kamm‘, weil das [a] hier kurz gesprochen wird. Diese Regelung gilt nun ohne Ausnahme auch für die Verdoppelung von [s].“ Wie jedoch die Beispieledasundwasoder auchDammundDamhirschganz schnell beweisen, ist diese Aussage nicht richtig. Die Paragraphen 4 und 5 der Neuregelung umfassen insgesamt zwölf Gruppen von Ausnahmen. Kennt man diese nicht, kommt man leicht auf die enormen Fehlerzahlen, die im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen durch Prof. Harald Marx festgestellt worden sind. Sein Befund: Die Schüler machen seit Einführung der neuen Regeln nicht weniger Fehler, sondern mehr!

Schüler machen mehr Fehler

Dabei handelt es sich um die einzigen vorhandenen wissenschaftlich-methodisch abgesicherten Untersuchungen. Besonders grausig: Fehler in Wörtern, die nur mit einem s zu schreiben sind, nehmen stetig zu. Dazu Karl Blüml: „Ich kann mir die Ergebnisse von Herrn Marx nicht wirklich erklären. Daher hat die Kommission auch mehrfach versucht, mit Herrn Marx in Verbindung zu treten, besonders über Frau Prof. Mechthild Dehn, was aber nicht gelungen ist.“ Im 3. Kommissionsbericht ist auf S. 4 vermerkt, daß ein Treffen mit Vertretern der pädagogischen Psychologie geplant sei. Tatsächlich erschien Marx am 9. November 2001 persönlich vor der Kommission. Einzelheiten des Gesprächs fanden keine Aufnahme in den Bericht, da auf diesem just der 8. November 2001 als Redaktionsschluß vermerkt ist. Blüml sagt zum Anstieg der s-Fehler: „Der Rat hat dies bisher noch nicht thematisiert.“ Obwohl es also Untersuchungen gibt, die die Fragwürdigkeit der neuen ß-ss-Schreibung nahelegen, wird das im Rat für deutsche Rechtschreibung nicht diskutiertwarum?

Karl Blüml hat sich eine noch wesentlich schärfere Reform der Rechtschreibung gewünscht, räumt jedoch ein, daß der phonetische Ansatz dafür gar nicht geeignet ist. „Ich bedaure, dass im Deutschen eine Reform der Laut-Buchstaben-Beziehungen nicht in einem größeren Umfang möglich war, einem Umfang der den regional unterschiedlichen Sprechweisen insofern entgegenkommt, als Länge und Kürze von Vokalen wie auch Stimmhaftigkeit und Stimmlosigkeit von Konsonanten regional höchst unterschiedliche Ausprägungen haben. Im südlichen Österreich etwa spricht man Wasser wie [woaza] aus, d. h. der Vokal ist lang, der Konsonant [s] ist stimmhaft. Wie soll daraus eine gemeindeutsche Orthographie folgen?“

Daran zeigt sich: Wenn man den aussprachegebundenen Ansatz der Rechtschreibreform konsequent zuende denkt, landet man beim Ende der Einheitsorthographie. Dies deckt sich mit den gegenwärtigen Zuständen: In Gegenden, wo manFußballmit kurzem [u] spricht, schreibt man nun irrig ‚Fussball‘. Umgekehrt läßt sich bei den Sprechern des „ORF-Newsflash“ feststellen, daß sie ihre Aussprache bereits daran orientieren, ob ein Wort mit doppeltem Konsonanten geschrieben ist. Das sind keine Kollateralschäden, sondern das ist ein erschreckender Befund.

Drinn, drann, wass, blass?

Schon 1996 verbreiteten Reformer wie Klaus Heller die Irrlehre, nach kurzem Vokal müsse [ss] stehen. Genau hier kommen die vielen Fehler her. Die Erfolgskontrolle nach österreichischem Verständnis liegt aber nicht in wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern lediglich in der Meinungskontrolle. Laut Blüml hat die Zwischenstaatliche Kommission Befragungen an den Schulen und in den Verlagen durchgeführt. Auch im 3. Bericht ist die Rede von der Überprüfung der Akzeptanz, nicht aber des Erfolgs. Doch Karl Blüml weiß von wissenschaftlichen Untersuchungen in Österreich zu berichten. „Das sind Erhebungen des Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, die immer wieder durchgeführt werden, zuletzt über ein namhaftes Meinungsforschungsinstitut in Österreich. Die Ergebnisse können im Ministerium erfragt werden.“

Die zuständige Referentin im Wissenschaftsministerium heißt Dr. Andrea Freundsberger und erklärt, daß es nur eine einzige, telephonische Meinungsumfrage des Instituts Fessl-GFK gegeben hat. Eine wissenschaftliche Analyse der Fehler-entwicklung hat es in Österreich seit Reformeinführung nicht gegeben. Wohl wurde einmal eine Untersuchung verbreitet, die ein bißchen wissenschaftlich wirkte. Bei ihr haperte es jedoch schon an grundlegenden methodologischen Standards, und mit 27 juvenilen Neuschreiberinnen ohne Vergleichsgruppe war die Probandenauswahl auch nicht besonders repräsentativ. Auf dieseUntersuchungwird man vom Ministerium gar nicht erst hingewiesen. Und Blüml fährt fort: „Erhebungen davor wurden publiziert (alle Schularten in Österreich alle LehrerInnen).“ Eine Behauptung, die sich nicht verifizieren läßt.

Inzwischen räumen bereits Schulbuchverlage ein, daß die Rechtschreibreform sinnverändernd wirkt. So läßt der Cornelsen-Verlag auf seiner Internetseite wissen: „Selbstverständlich wurde die Orthografie den modernen Rechtschreibregeln angeglichen, ebenso die Zeichensetzung, selbst wenn damit der Sinn des Textes etwas verändert wird.“ Man muß also vermuten, daß die Rechtschreibreform doch mehr als angenommen in die Sprache selbst eingegriffen hat. „Ich kenne diese Äußerung nicht direkt und weiß auch nicht genau, was sie bedeutet“, erklärt Blüml. „Ich muss wiederholen, dass ich die Schreibung nur für eine grafische Präsentation der gesprochenen Sprache halte, wenngleich ich natürlich nicht bestreite, dass sie eine starke eigenständige Entwicklung durchgemacht hat. Wie letztlich gesprochene Sprache mit grafischen Zeichen repräsentiert wird, ist eindeutig eine Frage der Konvention, ja oft der Konstruktion. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass die Konvention der grafischen Wiedergabe der Sprache diese selbst verändert.“

Verwirrung und Chaos

Aber was ist mit den bekannten Fällen von ‚wohlbekannt‘ und ähnlichem? „Mir sind natürlich die Bedenken bekannt, dass die Reform in den Regeln für die Getrennt- und Zusammenschreibung solche Änderungen hervorgerufen hat, dassWörter getilgt‘ wurden. Insbesondere hat mich da Reich-Ranickis Ausspruch im Zusammenhang mit Günter Grass, ob der Preiswohl verdientoderwohlverdientsei, fast zu Tränen gerührt: Die Reform hat an der Schreibung von vor 1996 nichts geändert.“ Gerade dieses Beispiel illustriert aber, welche Verwirrung durch die zwanghafte Wörtertrennung gestiftet worden ist. Für Blüml eine Terra incognita: „Die Aussage des obigen Zitates des Cornelsen-Verlages kann ich nur so verstehen, dass sich allenfalls orthografische Änderungen ergeben habenwie sie bei allen Klassiker-Ausgaben laufend durchgeführt werden.“

Nach wie vor verwenden große Teile der Presse- und Verlagslandschaft die traditionelle Rechtschreibung. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat kürzlich festgestellt: „Herkömmliche Schreibweisen dürfen im Schulunterricht solange nicht alsfalschbezeichnet werden, wie sich reformierte Schreibweisen nicht allgemein durchgesetzt haben.“ In Bezug auf den Rechtschreibrat meint dazu Karl Blüml: „Dies wurde schon mehrfach thematisiert.“ Das Gericht hat aber auch festgestellt, „daß die Schule künstlich veränderte (unübliche) Rechtschreibungen nicht als allein verbindlich vermitteln darf“. Somit müßte die Schule bereits jetzt auch die herkömmliche Schreibung wieder unterrichten. Wie steht der Rat konkret dazu? Blüml: „Dazu gab es keine Diskussion im Rat.“

Bleibt schließlich die Frage der Großschreibung. Seit Jahrzehnten geistert das Gespenst der „gemäßigten Kleinschreibungdurch die Köpfe. Da deren einstige Verfechter heute als Vorkämpfer einer überzogenen Großschreibung im Rechtschreibrat sitzen, drängt sich der Verdacht auf, daß man über diesen Umweg die Kleinschreibung doch noch durchsetzen willnach dem Motto: Wenn man den Leuten die Großschreibung verleidet hat, dann werden sie schon für die Kleinschreibung sein. Nun gehört dieser Bereich aber nicht zum Reparaturkatalog des Rechtschreibrats, und Karl Blümls Kommentar hierzu ist besonders bemerkenswert: „Darüber kann man diskutieren, und das wird auch geschehenjedoch nur dann, wenn auch die grundsätzliche Kleinschreibung der Substantive mit Gegenstand der Diskussion ist.“ Das heißt im Klartext: Die übertriebene Großschreibung ist das Faustpfand für die Einführung der gemäßigten Kleinschreibung



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