SPIEGEL ONLINE - 11. Mai 2006, 16:22
URL: http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,415716,00.html
R'n'B-Sänger Hamilton
Sexy Hühnersuppe
Von Jonathan Fischer
Kein sexy Bettgeflüster, keine Stripperinnen im Video, keine Stretch-Limos: Der US-Sänger Anthony Hamilton bricht mit allen Regeln und feiert trotzdem Erfolge. Mit seinem traditionellen Rhythm'n'Blues-Sound gilt der 34-jährige als »Soulman der Zukunft«.
»Am Anfang standen sie mit versteinertem Gesicht vor der Bühne«, erzählt Anthony Hamilton vom jugendlichen Rap-Publikum seiner letzten, von MTV gesponserten Tour: »Aber dann haben sie es gespürt. Wenn du etwas von Generation zu Generation überlieferst, liegt es einfach im Blut. Das ist wie mit Hühnersuppe: Du probierst sie und denkst dir, wow, ich kann mich an den Geschmack erinnern - aus einer Zeit, als ich noch am Daumen nuckelte«.
Anthony Hamilton ist kein Typ, der der Vergangenheit nachtrauert. Vor seinem Platin-Album »Comin' From Where I'm From« (2003) hatte er sich zehn Jahre lang als Backgroundsänger unter anderem für HipHop-Stars wie The Nappy Roots, Jadakiss und Tupac durchschlagen müssen. Nun wird der 34-jährige plötzlich als »Soulman der Zukunft« gefeiert. Einer der »den Gospel ins 21.Jahrhundert katapultiert« (»New York Times«).
Dabei wirkt sein aktuelles Album »Ain't Nobody Worryin« mit seiner warmen Instrumentierung, dem »Southern Feel« seiner Kompositionen und der Sex-freien Aufmachung wie ein Anachronismus. Hamilton bricht alle ungeschriebenen Regeln des Genres. Auch lyrisch: Da geht es neben Liebe - man glaubt es kaum - auch um Arbeitslosigkeit, schlechte Schulen, politische Gleichgültigkeit.
Hamiltons Hühnersuppen-Realität: Sie hat es immer noch schwer, sich gegen die von Geschmacksverstärkern, künstlichen Farbstoffen und sexy Verpackungen gepimpte Kaugummi-Welt des Rhythm'n'Blues durchzusetzen. Weil sie an eine Wirklichkeit erinnert, die der so genannte R'n'B fast vollständig ausblendet. Auch wenn Arbeitslose von mehr als Schäferstündchen träumen, Beziehungsprobleme nicht beim Sex in Seidenlaken enden, Stretch-Limos und Stripperinnen kaum zu gesperrten Kreditkarten passen: Hauptsache, der sexy Rhythmus stimmt.
Und der Blues? Sollte damit eine Qualität der Empathie bezeichnet werden, ist er dem Genre längst abhanden gekommen. Wann hat es ein Rhythm'n'Blues-Sänger schon zum letzten mal gewagt, das kommerziell sanktionierte Terrain der Teenie-Romantik zu verlassen, und auf die dunklere Seite - »the other side of town« (Curtis Mayfield) - zu blicken? Wer artikuliert zwischen Testosteron-Schüben noch so elementare Gefühlszustände wie Zweifel und Verletzlichkeit?
Nicht, dass sich die menschliche Psyche seit Marvin Gaye und Curtis Mayfield wesentlich verändert hätte. Sehr wohl aber die Musikindustrie. HipHop hat dank seines Klassen und Rassen übergreifenden Vermarktungs-Potentials längst die Rolle der Leitkultur übernommen. Und Rhythm'n'Blues? Er kommt kaum noch über eine gesungene Variante des stereotypen Rap-Kanons hinaus. Von den Beats über die Kleidung bis zu den Macho-Posen: »R'n'B handelt heute nur noch von Sex, und das leider allzuwörtlich«, klagt etwa der afroamerikanische Schauspieler und Komiker Chris Rock: »Sänger wie Al Green benutzten noch Metaphern. Selbst anzügliche Songs bemühten sich um handwerkliche Raffinesse... Aber heute verwechseln allzu viele Zärtlichkeit mit Schwäche.« Die übliche Klage, dass früher alles besser war? Oder doch eine Erklärung dafür, dass ein Typ wie Anthony Hamilton fast ohne Werbung, HipHop-Accessoires und Millionen-Dollar-Videos dennoch 1,3 Millionen Alben verkaufen kann?
Wenn Chris Rock seiner Kritik noch eine Checkliste für schwarze Musikvideos - Ledercouch, Jacuzzi, Limousine, Champagner, Tänzerinnen - hinterher schiebt, dann hat er vor allem die Marios, Ciaras und Ameries im Visier: Junge Rhythm'n'Blues-Stars, die eine Ende der siebziger Jahre von den großen Plattenfirmen erfundene Vermarktungsstrategie verkörpern: Schwarz aussehen, an Weiße verkaufen. Zwar war die Bürgerrechtsbewegung beim strukturellen Wandel der Gesellschaft weitgehend gescheitert. Dennoch hatte sie mehr Geld denn je in die Taschen der Afroamerikaner gespült und gleichzeitig die schwarze Kultur für weiße Konsumenten geöffnet.
Also räumten die Medienmacher erst einmal mit den ideologischen Altlasten auf: Soul? Klang das nicht viel zu schwarz? Stattdessen usurpierten die Plattenfirmen das neutraler klingende Wort Rhythm'n'Blues als Synonym für den Soundtrack des modernen, ökonomisch aufstrebenden Afroamerikas. So hat der Rhythm'n'Blues zwar den Crossover zum Pop bewältigt. Die einstige Vielfalt und gesellschaftliche Relevanz des Soul aber ist ihm abhanden gekommen.
R'n'B teilt sich heute wie HipHop in zwei Lager: Diejenigen, die die Klischees um jeden Preis erfüllen. Und ein paar Ausnahmen, die sie gekonnt unterlaufen. Zu letzteren gehören etwa auch die Rapper Phonte, Big Pooh und 9th Wonder, zusammen Little Brother: Ihr neues Album »The Minstrel Show« erzählt die Geschichte einer fiktiven Radiostation, die von einer Fernsehkette aufgekauft wird, und anschließend mit den Sündenfällen korrupter Kommerzmedien zu kämpfen hat. Ein intelligent gewählter Hintergrund für ein großartig produziertes Album.
Halb komödiantisch, halb nachdenklich liefert »The Minstrel Show« eine Selbstreflektion des Genres ohne jemals moralinbitter zu klingen. Die Themen liegen auf der Hand: Rapper, die sich von der Industrie als Minstrel-Sänger (früher hießen so schwarze Schauspieler, die mit gerußtem Gesicht für ein weißes Publikum die jeweiligen Rassen-Klischees bedienten) benutzen lassen, HipHop-Fans, die dem Modewahn überteuerter Marken-Artikel erliegen und R&B-Sänger die ihren Fans absurde Liebesklischees servieren. Kernsatz von Little Brother: »I love HipHop, I just hate the niggas in it«. Dass ihre Songs und Videos trotz guter Kritiken auf den einschlägigen Kommerzsendern kaum gespielt werden: Wen wundert es?
Radio und Fernsehen sind ein wesentlicher Faktor für den Niedergang des Rhythm'n'Blues. Die Verabschiedung des Telecommunications Act (1996) hatte für Nordamerika dramatische Folgen: Durften Konzerne zuvor nicht mehr als 28 nationale Radiosender unterhalten, waren dem Privatbesitz des Rundfunks nun keine Grenzen mehr gesetzt. Die Folge: Ein Großkonzern wie Clear Channel unterhält heute etwa 1200 Radiosender, die zehn größten Radiokonglomerate der Vereinigten Staaten verfügen über zwei Drittel der nationalen Zuhörerschaft, immer weniger Menschen entscheiden, was die Mehrheit zu hören hat.
Früher berücksichtigten Radiosender lokale Geschmacksausprägungen und förderten Musikszenen vor Ort - eine der Voraussetzungen für den Aufstieg von Motown, Stax oder Chicago Soul. Heute klingen die syndizierten Musikprogramme der urbanen Zentren alle gleich. Sie heißen: Quiet Storm. Soul Classics. Oder Smooth R'n'B. Nicht nur, dass Radiohörer kaum noch die Musikauswahl beeinflussen können. Plattenfirmen zahlen den Sendern - ein gerade vom New Yorker Staatsanwalt Eliot Spitzer aufgedeckter Payola-Skandal belegt das - Millionenbeträge, um ihre Künstler auf Heavy Rotation zu setzen.
Kleinere Plattenfirmen können da nicht mithalten. Und nachwachsende Soul- und R'n'B-Talente haben ohnehin kaum noch eine Chance, von einem überregional gesteuerten Medium zu profitieren. Da R&B - so glauben die Radioprogrammierer - vor allem ein älteres, konservatives Publikum anspricht, beschränken sie sich auf Klassiker und erprobte Stars, streuen sie bestenfalls ein paar Neo-Souler wie Jill Scott oder India.Arie in ihren Hit-Mix ein. Nach derselben Logik ziehen Top-Stars wie Mary J. Blige oder Usher die Wiedererkennbarkeit der Kreativität vor und reiten die Masche, mit der sie einst ein Rap-sozialisiertes Publikum gewannen, zu Tode.
Auch Anthony Hamilton wäre mit ein bisschen weniger Glück irgendwann auf einem kleinen Independent-Label gelandet, hätte eine Platte für den Regionalmarkt veröffentlicht und wäre bestenfalls auf ein paar College-Radiostationen seiner Heimat North Carolina gehört worden. Schließlich hat Hamiltons wortwörtliche Interpretation des Genres Rhythm'n'Blues keine Lobby. Die meisten urbanen Radiohörer kennen kaum noch Alternativen zum tagtäglich gehörten Kaugummi-Beat. Und Major Labels investieren nur ungern in Acts, die die gängigen Radioformate sprengen.
Außer sie haben prominente Paten, so wie Alicia Keys den Plattenfirmen-Mogul Clive Davis. Anthony Hamilton hat in Hitproduzent Jermaine Dupri seinen Förderer gefunden. Dupris Vater hatte bei einer Hollywood-Gala in Hamilton mehr gehört als einen HipHop-Backgroundsänger: Bobby Womack und Bill Withers, die Rückkehr der Verdrängten. Dass Hamiltons Soul, der weder retro klingt, noch den HipHop kopiert, Millionen Fans erreicht, müsste den Verantwortlichen eigentlich zu denken geben. Manchmal glänzt auch Hühnersuppe golden.
SPIEGEL ONLINE 2006
Anthony Hamilton - offizielle Website
http://www.anthonyhamilton.com/
|