Massenpsychose
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Angst ist nicht nur ein schlechter Ratgeber, Angst verstellt den Blick für die Realität. Die angebliche Vergiftung mehrerer Dutzend belgischer Schüler durch Coca-Cola-Getränke im vergangenen Jahr war lediglich eine Massenpsychose. Das geht nach Medienangaben vom Samstag aus dem jetzt in Brüssel vorgelegten offiziellen Bericht zu dem Vorfall hervor.
Im Juni waren 38 Schüler wegen Übelkeit, Kopfschmerzen und Fieber nach dem Genuss von Coca-Cola-Getränken in Krankenhäuser gebracht worden.
Es sei zwar richtig, dass durch einen Produktionsfehler in einer Coca-Cola-Fabrik bei Antwerpen die Getränke einen Schwefelgeruch und -geschmack gehabt hätten. Es habe jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Gesundheitsgefährdung bestanden, hieß es weiter. Letztlich hätten sich offenbar die verschiedenen Krisen wie Rinderwahnsinn und Dioxinskandal sowie die Examenszeit auf die Psyche der Schüler ausgewirkt.
In Folge der zunächst angenommenen Vergiftungen waren in den Benelux-Staaten in einer bislang wohl einmaligen Aktion Produkte des Coca-Cola-Konzerns aus den Regalen genommen worden - 80 Millionen Cola-Flaschen und -Dosen wurden vernichtet. In Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Frankreich war der Verkauf von Getränken der Firma verboten worden - die Länder blieben eine Woche lang eine Cola-freie Zone. In Deutschland stellten die Behörden ganze Paletten sicher und schickten ihre Kontrolleure in die Produktionsanlagen des US-Multis. Unter dem Eindruck des Skandals war die Coca-Cola-Aktie an der New Yorker Börse gefallen.
Isy Pelc, Mitglied des belgischen Gesundheitsrates, gab den Medien eine Hauptschuld an der »Massenpsychose«. Sie hätten die Anfang Juni 1999 bekannt gewordenen Ereignisse dramatisiert (»Lebensmittel-Alarm«) und damit Angst unter der Bevölkerung verbreitet.
Solche Massenpsychosen sind keine Phänomene des Medienzeitalters. Psychogene Erkrankungen, die ganze Menschengruppen erfassen, gab es zu allen Zeiten. Die modernen Medien vermögen nur, die Wirkungen und die Kosten solcher Massenpsychosen zu multiplizieren.
Im »New England Journal of Medicine« vom 13.01.2000 berichtet Dr. Timothy F. Jones vom Tennessee Department of Health und Epidemic Intelligence Service, Nashville, mit Kollegen über eine Massenhysterie (»Mass psychogenic illness«) an einer High School in McMinnville, Tennessee, im November 1998 (N.Engl.J.Med. Bd.342, H.2, S.96-100): Eine Lehrerin nahm einen »gasähnlichen« Geruch wahr und hatte bald danach Kopfschmerzen, Übelkeit, Kurzatmigkeit und Schwindel. Darauf hin wurde die Schule evakuiert und 80 Schüler und 19 Mitglieder des Kollegiums wurden in die Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses gebracht. 38 davon wurden über Nacht aufgenommen. Als die Schule fünf Tage später wieder geöffnet wurde, kamen erneut weitere 71 Menschen in die Notaufnahme.
Eine ausgiebige Untersuchung des Geschehens durch verschiedene Regierungsbehörden erbrachte keine Belege für eine tatsächliche Vergiftung: »Wir konnten keine medizinische oder umweltbedingte Erklärung für die berichteten Beschwerden finden«, schreiben Jones und Kollegen: »Es gab keinen Hinweis auf toxische Substanzen in der Umgebung.« Ein nach vier Wochen ausgefüllter Fragebogen »zeigte, dass die berichteten Symptome signifikant in Verbindung gebracht wurden mit dem weiblichen Geschlecht, dem Sehen anderer kranker Personen, dem Wissen, dass ein Klassenkamerad krank war, und dem Bericht über einen ungewöhnlichen Geruch an der Schule«. Kaum vorstellbar, dass - beispielsweise - ein Hauch von zu wenig weiblicher Hygiene zu diesen Folgen führte? Vor dem Hintergrund der multimedial vermittelten Erfahrungen mit Seveso, Bhopal und Tschernobyl keineswegs abwegig.
Auch das Pasteur-Institut, das die Coca-Cola-»Vergiftungen« untersuchte, konnte »kein Gift entdecken« und fand nur Ergebnisse, »die den Schluss nahe legen, man habe es bei der Cola-Krankheit vornehmlich mit einer Massenhysterie zu tun«, wie die Wochenzeitung »Die Zeit« (28/1999) berichtete: »Erstaunliches Ergebnis der 112 befragten Schüler: Nur 53 Prozent hatten wirklich Limonade getrunken. Den anderen war offenbar schon schlecht geworden beim Gedanken daran.«
Diese Ereignisse hatten »die Merkmale einer psychogenen Massenerkrankung«. Der Begriff »psychogene Erkrankung« und sein Vorläufer »Massenhysterie«, erläutert Dr. Simon Wessely von der Londoner St. Thomas' School of Medicine in einem Editorial zu dem McMinnville-Bericht, mache das Problem sowohl in der Bedeutung der Worte selbst als auch in ihrer Interpretation deutlich: »Ein weniger willkommener Aspekt der Freudianischen Tradition ist die verbreitete Akzeptanz der Existenz von Symptomen, die - im destruktiven Sinne - 'allein im Geist' existieren. Gleichwohl sind psychogene Symptome physiologische Erfahrungen, die auf identifizierbaren physiologischen Prozessen basieren, die Schmerz und Leiden verursachen. Die Kinder an der McMinnville High School erlebten genuine Symptome. Dass die Ursache dieser Symptome wahrscheinlich eher die Angst vor einer toxischen Exposition als irgendeine Exposition selbst war,« folgert Wessely, »enthebt sie nicht ihrer Realität.« Diese Episode psychogen oder hysterisch zu nennen, bedeute allerdings, dass »für die Mehrheit der Beobachter einschließlich der meisten Experten diese Symptome indessen nur in der Einbildung vorhanden sind«.
Glücklicherweise führen nur wenige Massenphänomene direkt in die Notaufnahme. Die nicht selten erst durch die Medien ermöglichten Massenbewegungen - vom Run auf den Aldi-PC bis zur euphorischen Realitätsverkennung bei der Zeichnung neu emittierter Aktien - besitzen keinesfalls regelmäßig psychotischen Charakter. Selbst wenn sich der Gegenstand des begehrenden Massenwahns hinterher als überaus gewöhnlich oder gar als Reinfall erweist. Sie sind eher als Symptom einer zunehmend manipulierten Gesellschaft und von ihrem Selbst entfremdeter Individuen zu werten.
Manche Massenphänomene zeichnen sich überdies durch ihren besonderen Unterhaltungswert aus. Beispielsweise jene ärztliche Bewegung der Furchtsamen, die in Panik vor der Öffnung des Gesundheitswesens für mehr Wettbewerb in den »Medi-Verbund« flüchtete und nun - mutmaßlich - auf dem Trockenen sitzt. »Wir haben mit Freude Eure Internetseiten über MEDI [Medi-Verbund] und den MEDIWAHN gelesen«, schrieb ein nord-württembergischer Kinderarzt an den Herausgeber und bewies einmal mehr: Es kommt immer darauf an, wie man die Dinge betrachtet. Die Grenze zwischen »normal« und »verrückt« - oft ist sie nur einen Hauch breit.
(Ein Artikel von Gottlieb Seelen in 'Psychotherapie' vom 02.04. 2000)