Einige überdurchschnittlich positiv bewertete
Assoziationen zu »Baphomet-Bar«
SEDVX schrieb am 12.1. 2003 um 20:45:31 Uhr zu
Bewertung: 32 Punkt(e)
Es setzen sich 3 Männer an meinen Tisch und ich fühle: sie kommen von weit her. Ein kühler Hauch, ein feiner Sog, das genaue Gegenteil von Aufdringlichkeit. Ich fühle mich betrachtet, aber auf die zurückhaltendste Weise.
Gibt es das: Menschen, die nicht Raum einnehmen, sondern Raum geben?
Ich höre zu. Sie sprechen alle ein gebrochenes Englisch.
Ich höre:
„18 Säulen.“
„Tempelsäulen.“
„Auf beiden Seiten zweimal zwölf Stufen.“
„Nein, auf der südlichen Seite nur zwölf und elf .“
„Wie wunderbar!“
Mein Herz klopft. Das ist die U-Bahn-Station STEINSTRASSE, keine 3 Minuten von hier!
Und die drei sind keineswegs blind. Sie sehen Details in der Bar, die bislang noch niemand erwähnt hat.
Sie trinken Milch wie ich.
Die drei sind Feng - Shui - Meister.
Ich erfahre, in Hamburg war ein Kongreß.
Hamburgs STEINSTRASSE wird Kandidat für eine Weltrangliste von U - Bahnhöfen. Nur für Feng-Shui - Adepten.
Lange fragen sie mich aus. Auch sie glauben, daß ein Blinder Dinge wahrnimmt, die einem Sehenden verborgen bleiben.
Es interessiert sie, daß es allein Klänge sind, die mich verzaubern.
Kaum je die Oberfläche von Mauerwerk, die Textur von Stoffen. Abgesehen von der Haut von Knaben - mich wundert, daß ich diesen Meistern gegenüber so unbefangen bin. Haben sie mir nicht ebenso unbefangen gesagt, daß sie Meister seien?
„Aber nun sind es meist die Stimmen“ füge ich hinzu.
Sie gehen wieder; ich fühle mich erregt und wach wie selten.
SEDVX schrieb am 14.1. 2003 um 00:02:34 Uhr zu
Bewertung: 22 Punkt(e)
Manchmal behalte ich meine Uniform an und gebe vor, im Dienst zu sein. Man sagt, die blauschwarze Uniform und meine blauschwarze Brille paßten zueinander. Meine Gehilfen (Frederik, Lothar, Jens; ich rede ich fast nur mit dem ältesten, Frederik) erscheinen gelegentlich in der Bar, entweder Frederik allein oder alle drei. Auch sie tragen Uniform, mit unauffälligen Rangabzeichen, die kein Verdienst, sondern die Anzahl der Dienstjahre angeben. Stoff und Schnitt stammen von Ladage & Oelke. Mit dieser Uniform assoziiert man uns, so ist es beabsichtigt, sowohl mit der Hamburger Polizei als auch mit dem Hamburger Verkehrsverbund.
Das Abzeichen unseres Wachdienstes ist sehr schlicht: eine dunkelgrüne Mondsichel (aufgehend), zwischen den Spitzen ein goldener Stern.
Heute stürzten alle drei in die Bar, mit einer Nachricht, die sie, wie immer, für besonders dringlich hielten. Frederik teilte mit, unser Dienstfahrzeug, ein alter Mitsubishi - Colt, brauche neue Reifen. Dabei ist Tauwetter und fast aller Schnee verschwunden. Ich überprüfe den Sitz der Uniformen. Jens, der jüngste, ist spürbar gewachsen. Somit wird für ihn eine neue Uniform angeordnet.
In diesem Monat ist in der Bar „Survivor`s Suite“ von Keith Jarrett zu hören.
Ich mag diese Musik nicht besonders, trotzdem höre ich hin, um von dem törichten Reden meiner Untergebenen, die sich Cola bestellt haben, abgelenkt zu sein. Sie trinken nur wenig. Hier wird das teure, aus Ägypten eingeführte Suleika-Cola ausgeschenkt.
Ich trinke im Dienst nur Levico - Wasser.
Dann gehen wir. Jens führt mich, und wenn er mich führt, bin ich sehr hilfsbedürftig. Wobei ich das Gefühl habe, daß mich Frederik und Lothar durchschauen.
Jens führt mich um den Wagen herum, führt mich mit fester Hand durch die trügerischen Schneereste, ich steige ein, dann fahren wir zu Ladage & Oelke.
SEDVX schrieb am 24.11. 2002 um 18:03:03 Uhr zu
Bewertung: 8 Punkt(e)
Wieder ändert sich alles. Schon wenn ich die Bar betrete: der Geruch.
Die Musik, die Stimmen, das Benehmen der Gäste, die Auswahl der Getränke. Sooft ein Monat zu Ende geht, ändert sich alles.
Vertraut bleibt der nächtliche Fahrplan der Züge. Züge nähern und entfernen sich, fahren über die Gewölbe hinweg. Langsam. Die Bar gehört zum südlichen und verwahrlosten unterirdischen Bereich des Hauptbahnhofs.
Vertraut bleibt, wenn auch ohne erkennbaren Plan, wenn auch immer beunruhigend, das unendliche Rollen der Güterzüge.
Vertraut bleibt mein Stammplatz. Anders ist die Form des Glases, anders die Bitterkeit meiner Milch. Neu: kleine Figuren auf meinem Tisch.
Ich nehme sie in die Hand und erkenne sie.
In der Baphomet-Bar kennt man mich.
Dies ist eine NunZilla; vergeblich öffnet sie den Mund zum Feuer - Speien: der Knopf zum Aufziehen ist abgebrochen. Und das ist ein SerendipityKid: stumm, tot. Ersetzt man die Batterie nicht rechtzeitig, ist SerendipityKid für immer tot.
Und wer sitzt neben mir, fast lebensgroß? Nicht lebensecht: Plastik, kalt.
Figuren sind heute unter die Gäste gemischt. Unweit, in der nördlichen Deichtorhalle, ist eine Manga - Ausstellung.
Ich gehe umher. Anfangs wich man mir, dem Blinden, voreilig aus - heute genieße ich es, wenn Berührung weder gesucht noch gemieden wird.
Die Monster, auf die ich stoße, weichen nicht; sie betaste ich. Die großen Augen, die winzigen Nasen. Die zu einem Lust- oder Entsetzensschrei geöffneten kleinen Münder. Die gehörnten Knaben mit Drachenflügeln, mit unförmigen Genitalien. Die schräg in den Raum ragenden, kunstvoll gequirlten Samen - Fontänen.
Ich glaube, hier wird ausgestellt, was nicht für die Öffentlichkeit der Deichtorhalle bestimmt war.
Noch eine Fontäne durchquert im Bogen den Raum: an den Wirbeln eines spiraligen Gebildes taste ich mich entlang und stoße auf üppige Brüste. Eine Milchstraße, von einer Brust zur anderen! Ein tanzendes Mädchen, viel zu klein für solche Brüste, hält sie mit schwachen Armen hoch.
Ich weiß, daß diese Wesen schon richtig sich bewegen und fast schon leben - noch auf Bildschirmen und schattenhaft.
Und dieses Wesen, das mit mir am Tisch sitzt - ich taste und entdecke ich nichts Erschreckendes. Es ist nur ein Junge mit Mädchenbrüsten. Oben rollen schwere Güterwagen und dieser Junge an meiner Seite bebt, als ob er Angst verspürte.
Wie leicht ist Leben nachzuahmen! Wie leicht sind wir zu betrügen!
SEDVX schrieb am 26.9. 2002 um 21:45:43 Uhr zu
Bewertung: 7 Punkt(e)
Betrete ich die Bar, führt mich immer jemand an meinen Tisch. (Anders als jeder Sehende, weiß ich sofort, ob es ein Junge oder Mädchen ist).
Ich fühle, wer anwesend ist. Wer neu ist. Ich fühle auch, wer sich nur verwandelt hat.
Auf dem Tisch steht das Glas mit der kalten, etwas bitteren Milch.
Muskat ist eine unverdächtige Droge - trotzdem ist das Glas Milch unglaublich teuer. Immer sitzt ein Gast an meinem Tisch und trinkt von meiner Milch, bescheiden oder unbescheiden.
Niemand redet. Manche schreiben (ich höre Tastaturen), ich höre die fast unhörbaren Auslöser der Digitalkameras. Ich höre die leise Musik, ich höre die Schritte der Tanzenden oder Posierenden - bis wieder ein Zug über die Bar hinwegrollt.
Unter dem Deckmantel dieses Geräusches höre ich Stimmen; der Zug entfernt sich: manchmal redet jemand weiter, verstummt erschrocken.
Ich hörte den Namen „Delfin“.
SEDVX schrieb am 5.4. 2003 um 18:55:28 Uhr zu
Bewertung: 7 Punkt(e)
Lothar ist heute Sekretär. Wir erinnern uns gemeinsam, aufschreiben muß er. Er schreibt und trinkt seine Schokolade, ich trinke meinen Plymouth Gin, achte auf jedes Wort, jedes Satzzeichen, manchmal jeden Buchstaben. Mein Gedächtnis ist kurz, meine Sätze sind lang, und Lothar liest mit bemerkenswerter Geduld jeden begonnenen Satz immer wieder vor.
Lothar hat am Holstenwall Plastiken entdeckt, die mich interessieren müssen. Eine Trittleiter nahmen wir mit; wäre Lothar nicht so verläßlich, ich hätte mich nicht getraut, sie zu besteigen.
Lothar verriet nichts; er ließ mich die Figur betasten, manchmal führte er meine Hand. Eine junge Frau, war zu vermuten, in einer antiken, von einem festen Ledergürtel gehaltenen Toga. Weniger antik erschien mir die an Riemen hängende Handtasche und die Münze in der rechten Hand. Eine spendable Seele voll Mitleid, eine sozial engagierte Hamburgerin?
Ich stieg eine Stufe höher, noch eine, befühlte das Gesicht, die Lockenpracht. Eine Kopfbedeckung wie ein Stahlhelm.
„Auf keinen Fall ein Stahlhelm!“ - sagte Lothar.
An den Schultern ertastete ich Bänder, die zu einem Brustlatz führen. Lothar: „Jetzt die Titten!“
Der Brustlatz wölbt sich vor, dahinter ist nichts.
Die Barmherzigkeit, dargestellt von einem Mann?
Ja, ein Mann. Keine Barmherzigkeit, vielmehr in der linken Hand ein Vorschlaghammer, lässig auf die Schulter gelegt.
Es stellt sich heraus: der junge Mann ist sparsam. Neben ihm sitzt monumental die Sparsamkeit mit einer Sparbüchse in der Hand.
Die Sparbüchse, so erkläre ich Lothar, erspart dem Bürger dieser Stadt jedes Rätselraten: hier geht es um Sparsamkeit und nichts anderes. Und, erkläre ich weiter, der junge Mann mit dem Hammer tut gut daran tut, den schwer verdienten Groschen zurückzulegen. Modell mußte er dem Künstler stehen. Stundenlang den schweren Hammer schultern. Lothar ergänzt: und sich befummeln lassen! Nein, sage ich, nur große Künstler waren schwul.
In jungen Jahren sparsam, ist dem jungen Arbeiter als altem Greis die warme Suppe sicher .
So hat mir Lothar die dritte Figur beschrieben; ich will keine suppeschlürfenden Greise betasten.
Ich weiß, daß Lothar, einer meiner drei Angestellten, so gering sein Gehalt ist, eine warme und schmackhafte Suppe mir nie verweigern wird.
Und wenn du selbst alt bist? frage ich ihn.
„Eine geile Uniform habe ich dann! Nicht nur drei Jungs wie du - eine ganze Privatarmee kommandiere ich dann!“
SEDVX schrieb am 26.1. 2003 um 16:38:48 Uhr zu
Bewertung: 11 Punkt(e)
Heute habe ich wieder meine Therapeutin mit in die Bar genommen, Frau. Dr. Syromjashina.
Ich bin ihr bevorzugter Patient. Gewöhnliche Patienten: Mo-Mi u. Fr. Wir haben unseren Donnerstag.
Hier, in meiner Bar, läßt sie nur den Tee gelten. Sie entdeckt Scheußlichkeiten, von denen mir noch niemand berichtet hat. Wasserflecke an der Decke, Rost an eisernen Balken; und fährt ein Zug über uns vorbei, ist sie gezwungen sich zu erinnern: Schwarzmeerflotte, Sewastopol, Hafen, Kräne, Versorgungsschiff, Lazarett.
In ihrer Praxis hat sie zwei Zimmer, zwei Patienten können sich für jeweils zwei Stunden hinlegen, in beiden Zimmern rieselt fade Musik, Bachsöhne oder Telemann. Keine Fenster, aber beleuchtete Ölgemälde müssen betrachtet werden. Ich bin blind und muß nicht sehen, was ich ahne.
Irina glaubt zu wissen, daß meine Blindheit mit Seele zu tun hat. Ich habe eine Seele! Daran glaubt Irina fest und das bewegt mich. Ihre Therapie findet bei keiner Krankenkasse Anerkennung, aber bei mir.
Hier in der Bar kann sie ihre Arbeit fortsetzen, ohne daß ich sie, abgesehen vom Tee, bezahlen muß.
Sie erzählt mir, was auf den Bildern zu sehen ist. Längst hat sie sich von der platt sowjet-realistischen Sicht gelöst und schildert, was ich zu sehen bevorzuge.
Ja, ein wundervoller Sonnenuntergang. Ein Bahndamm. Ja, ich höre den Zug, die heisere Dampfpfeife. Ich sehe rußige Wolken sich herabwälzen. Schrille Schreie. Jungen, die sich am Bahndamm raufen.
„Sitzt da nicht einer etwas abseits und schaut nur zu?“
Ganz links sitzt ein hübscher Junge, niemand beachtet ihn. Ein alter Mann zieht einen Karren mit Holz vorüber.
„Laß den Karren. Wie ist er angezogen?“
Eine Schirmmütze. Ein schwarz und weiß gestreifter Schal.
„Laß das. Es ist Hochsommer.“
Ein schmutziges, ehemals weißes Hemd ist von einem noch schmutzigeren Bart bedeckt.
„Irina, von dem Mann mit dem Karren will ich nichts wissen!“
Immer wieder ärgere ich mich, dabei verstehe ich sie. Manchmal geht sie willig auf jede meiner Visionen ein, dann ärgere ich mich wieder und verlange Unvorhergesehenes jeder Art. Dann drückt sie meine Hand und sagt, die Therapie schlage an.
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