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®, am 9.9. 2010 um 01:42:12 Uhr
Traum

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Dienstag, 7. September 2010

da hatte ich einen seltsamen Traum.

Ein Gastbeitrag von Stefan Rose.

Thilo Sarrazin redet gerade zum soundsovielten Male auf irgendeiner Veranstaltung über seine kruden, nationalistischen, zwischen Buchdeckel gepressten Vereinfachungen über Muslime, Unterschichtler, und Gutmenschen, garniert mit Äußerungen zur jüdischen Genetik. Alles ist wie gewohnt: Ein Teil des Saales jubelt enthemmt über jeden einzelnen seiner Sätze, als spräche der Erlöser persönlich. Die Übrigen schauen entweder angewidert oder wohlwollend zu. Plötzlich steht Sarrazin auf, tritt vor den Tisch, an dem er saß, zieht sein Jackett gerade und lockert die Krawatte ein wenig. Seine Züge entspannen sich und seine Mundpartie wird gerade, sodass er plötzlich aussieht wie ein freundlicher älterer Herr. Er greift zum Mikrofon, räuspert sich, schaut noch einmal endlos lange Sekunden in die Runde der Anwesenden und beginnt dann mit überraschend weicher, hörbar bewegter Stimme zu sprechen:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, gleich welcher Herkunft, Hautfarbe und Religion. Mein Experiment ist beendet. Die letzten Jahre waren eine Eulenspiegelei, eine Wallraffiade. Und jetzt ist Schluss.

Ich bin alter Sozialdemokrat und bleibe es. Ich glaube an Solidarität unter den Menschen, an Respekt, an Chancengleichheit, Bildung für alle und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, wenn sie der Gerechtigkeit einer Gesellschaft dienen. Ich verabscheue von jeher Ausgrenzung, Rassismus, Faschismus und Ausbeutung. Mit einem Wortdas gilt vor allem jenen, die mir eben noch zugejubelt habenich bin ein Gutmensch und stolz darauf.
Ich komme aus dem Ruhrgebiet und meine Eltern ermöglichten es mir, das Abitur zu machen und zu studieren. Dafür bin ich noch heute dankbar. Einen großen Teil meiner weiteren Karriere habe ich meiner Mitgliedschaft in der SPD zu verdanken und der Unterstützung, die ich dort erfahren habe. Auch dafür bin ich sehr dankbar.

Als Finanzsenator in Berlin begann ich mich bald zu langweilen. Nicht, dass ich nichts zu arbeiten gehabt hätte, im Gegenteil, doch der Posten füllte mich nicht recht aus. Ich studierte mehr als zuvor die Zeitungen und verfolgte die Berichterstattung in anderen Medien. Ich sah und sehe mit Sorge, wie sich in vielen europäischen Ländern rechtspopulistische Positionen immer weiter ausbreiten und ihren Weg in die Parlamente finden. Gleichzeitig war ich erleichtert, dass es so etwas in Deutschland nicht zu geben schien.

Aber ich traute der Sache nicht und beschloss, mir einen kleinen Spaß zu machen. Rechtspopulisten tun nichts anderes als gezielt mit den Ängsten einer Gesellschaft zu arbeiten. Die beiden schlimmsten Ängste in diesem schienen mir die der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg und die vor der so genannten Überfremdung zu sein.

Zunächst wendete ich mich gegen Hartz-IV-Empfänger. Ich streute zunächst hier und da ein paar kleine StammtischparolenSie erinnern sich: Pullover statt Heizung und der Ernährungsplan – und wartete, was passierte. Eigentlich hatte ich erwartet, dass man mich sehr schnell aus dem Amt und zum Teufel jagen würde. Angst davor hatte ich nicht, denn ich war damals bereits über sechzig.

Ich war überrascht und beschämt über das Ausmaß an Zustimmung, das ich aus großen Kreisen der Bevölkerung erfahren habe. Jeder schien plötzlich seinen kritischen Verstand abgeschaltet zu haben und jemanden zu kennen, der Hartz IV bezieht und nur eine ruhige Kugel auf Kosten aller schiebt. So einfach war das also.

Danach begann ich, gezielte Provokationen in Richtung der hier lebenden muslimischen Migranten zu streuen. Auch hier brauchte ich nur als derjenige zu inszenieren, der gegen die so genanntePolitische Korrektheitendlich einmal Wahrheiten ausspricht. Widerständen begegnete ich, indem ich meine Gegner als Sozialromantiker oder naive Verblendete lächerlich machte, die Realitäten einfach nicht sehen wollten. Oder ich berief mich auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, aber sie bedeutet eben nicht Narrenfreiheit und erst recht nicht Schutz vor Kritik. Und sie muss geschützt werden.

Ängste schüren, Gegner diffamieren, auf einen Sündenbock einschlagen, Demokratie mit ihren eigenen Mitteln aushebeln und für komplexe Probleme einfache Lösungen anbieten. So funktioniert Faschismus, meine Damen und Herren. Und es funktioniert immer noch beängstigend gut. Eigentlich war ich der Naive, denn ich hatte gedacht, dass diese Gesellschaft einmal eine wichtige Lektion gelernt hat.

Wieder geschah mir nichts. Im Gegenteil: Weil man nicht so recht wusste, wie man mit mir umgehen sollte, bekam ich zum Dank einen Vorstandssitz bei der Bundesbank. So viel zu dem Thema, dass Unbequeme in diesem Land von einem linken Mainstream unbarmherzig verfolgt und diskriminiert werden! Da beschloss ich, das Spiel auf die Spitze zu treiben und ein Buch zu schreiben. Ein Verleger war schnell gefunden, weil ich zum einen bereits eine gewisse Prominenz erlangt hatte und zum anderen glaubhaft machen konnte, dass kein finanzielles Risiko drohte. Es kam schlimmer als erwartet: Mein Machwerk landete sofort ganz oben auf den Bestsellerlisten und die Zustimmung wuchs und wuchs. Keine Meinungsumfrage, bei der ich nicht 80 oder 90 Prozent Zustimmung erhalten hätte.

In das Buch habe ich übrigens absichtlich ein paar schwere Widersprüche eingebaut. So zum Beispiel die Bemerkung weiter hinten, dass es eigentlich unmöglich sei, die weitere Zukunft mithilfe einer hoch gerechneten Gegenwart vorauszusagen. Das ist Statistik erstes Semester und stellt eigentlich alles, was ich bis dahin geschrieben habe, in Frage. Oder denken Sie an das Interview in der Süddeutschen Zeitung, in dem ich offen eingeräumt habe, mir die Studien und Statistiken, auf die ich mich berufe, teilweise ausgedacht zu haben. Einige wenige wiesen darauf hin, wurden aber sofort niedergebrüllt. Sogar an meinen unverhohlenen Rückgriffen auf und Spenglers Der Untergang des Abendlandes und sogar auf Mein Kampf nahm die Mehrzahl der Feuilletonisten kaum Anstoss. Ganz zu schweigen davon, dass ich im Buch ein Menschenbild vertrete, das den Menschen allein auf seine ökonomische Verwertbarkeit reduziert.

Ich fürchte, die Bild am Sonntag hat recht: Würde ich jetzt, im September 2010, aus der SPD austreten und eine Partei gründen, dann würde diese Partei bei den nächsten Wahlen aus dem Stand wohl 15 bis 20 Prozent erreichen und wir hätten bald auch im Deutschland ein rechtspopulistisches Lager im Bundestag. Was mich an all dem so erschrickt, ist nicht der Beifall aus den Reihen der NPD und ihr mehr oder minder nahestehenden Kreisen. Damit war zu rechnen. Schlimm ist, dass mir inzwischen Menschen aus beinahe dem gesamten politischen und gesellschaftlichen Spektrum zuzujubeln scheinen. Daher beende ich mein Experiment jetzt, bevor noch Schlimmeres passiert.

Meine Damen und Herren, Deutschland scheint tatsächlich dümmer zu werden. Aber nicht wegen der Unterschicht oder der Migranten, sondern wegen Kleingeistern und Spießbürgern wie Ihnen und Ihren Ängsten. Wegen derjenigen selbst ernannten Bürgerlichen, die meinen, sie seien schon gebildet, weil sie ein paar Halbwahrheiten im Kopf haben und öffentlich-rechtliches anstatt privates Fernsehen schauen. In der Tat, es gibt Grund zur Sorge um dieses Land.

Das wäre es, was ich zu sagen habe. Gestatten Sie mir bitte zum Schluss noch einige Bemerkungen in eigener Sache:

Dass die Bundesbank mich so schnell wie möglich meines Postens entheben will, halte ich für selbstverständlich und richtig. Wäre ich in verantwortlicher Position, ich hätte jemanden wie mich schon längst aus dem Amt entfernt. Daher werde ich morgen dem Präsidenten der Bundesbank mein Rücktrittsgesuch überreichen.

Dann möchte ich mich von Herzen bei allen entschuldigen, die während der letzten Jahre provoziert oder auch beleidigt habe. Es tut mir leid. Aber ich hoffe, Sie sehen, wie es gemeint war und verzeihen mir. Schließlich teile ich mit, dass ich die absurd hohen Honorare aus dem Verkauf meines Buches für einen wohltätigen Zweck spenden werde, den ich in Kürze bekannt geben werde.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Geduld.“

Mit diesen Worten verlässt Sarrazin ohne ein weiteres Wort den Raum, in dem es mucksmäuschenstill ist, und schließt leise die Tür hinter sich. Und da geschieht das Wunder: Einige derer, die ihm noch zu Beginn der Veranstaltung applaudiert und zugejubelt haben, wirken sehr nachdenklich. Einige wenige scheinen sich sogar zu schämen. Dann setzt, zaghaft erst, Applaus ein, der sich immer weiter steigert.

Aber das ist natürlich nur ein Traum.


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