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mcnep, am 3.5. 2005 um 04:21:54 Uhr
DerSagenumwobeneKelchderKotze305

D***, am 3.05.05

Lieber Herr P.,

guten Abend oder was es gleich gar wieder werden mag - nein, seien Sie unbesorgt, so uferlos wie letztes Mal soll es nicht werden. Ich wollte nur als kleinen Zwischenstand einen Vorfall des heutigen Tages erzählen, der Ihnen vielleicht illustrieren kann, wie vielfältig die Möglichkeiten des Trostes sind, die mir gereicht werden oder auch selber zu Gebote stehen: Momente stiller Wehmut oder Freude. Ein altes, aber nicht zu altes, mir bisher unbekanntes Foto, auf dem er mit langsam beginnenden Griesebart und einer Haarlänge, wie ich sie nie bei ihm gesehen habe (fast ein wenig zum Fürchten sieht er aus, ein sanfter Grusel, Maximilian Schell in einem B-Movie, ein angedeuteter Anflug von Verruchtheit, wie ihn ein Komödiant in einer Bösewichtsrolle vermitteln würde), einem damals noch jungen Mann mit zeittypischem Minipli recht unverhohlen nachschaut. Im gleichen Schuhkarton, vermutlich alles zum Zeitpunkt der letzten Einfüllungen 2001 verräumt und vergessen, fand ich auch eine Schuldanerkenntnis nebst vielsagenden Handwerkerschriftwechseln, die sich um den Fall des Herrn A., eines glücklosen Trinkers, drehten, der die erste eigene Wohnung seit Jahren, die ihm vom Sozialamt bei Konrad beschafft worden war, derartig hatte verkommen lassen, daß flugs eine Schuld von über 11 .000 Mark aufgelaufen war, die er seither von der Stütze in 50 MarksRaten, inzwischen natürlich 25 Euro, abstotterte, so wie ich es schon zu Konrads Lebzeiten mal mitleidig, aber hilflos erfahren und seine noch zu zahlende Restschuld etwa bis 2020 veranschlagt hatte. Wobei 25 Euro etwa ein Viertel des monatlichen Taschengelds dieses Herrn sind. In den Unterlagen fand ich die Nummer seines Vormunds, ein zunächst etwas mißtrauischer Mann, der mich nach kurzer Schilderung des Sachverhaltes zunächst fragte, was genau ich denn nun damit zu tun habe, worauf ich erwiderte, daß Herr J., der Gläubiger, verstorben sei und von meiner erbberechtigten Seite an Herrn A. keine weiteren Forderungen bestünden. Der Herr am anderen Ende, vermutlich ein bärtiger Revalraucher im kurzärmeligen Karohemd, war überaus erfreut, befragte mich noch mit einem Restmißtrauen nach dem weiteren Verlauf, worauf ich ihm erklärte, daß er die Akte vom heutigen Tage an als gelöscht zu betrachten könne, ich sie Herrn A. zum ewigen Angedenken zustellen würde und dieser um Himmels Willen keinen auf den seligen Herrn J* trinken möge, womit ich für heute meinem Mütterlein über die Straße geholfen habe. Heilige Allmacht, dieses Glück per Federstrich, das ist schon wirklich recht nah am Perrudja... Spaß beiseite, lieber Herr P., natürlich erzähle ich Ihnen das nicht, um mir meinen großen konfuzianischen Hosenbandorden einzufordern, dazu bräuchte es schon einiges mehr; aber wenngleich ich solche Begebenheiten schon mit Rücksicht auf die Nerven von Konrads Familie und meiner Verwandtschaft zumeist verschweigen werde, da die sicher fürchten würden, ich sei auf dem Weg, ein Wittgenstein oder Tom König im Sparkassenformat zu werden - Ihnen sei es erzählt, einfach deshalb, weil ich überzeugt bin, daß ich Ihnen einen wichtigen Teil meiner Sicht auf die soziale Wirklichkeit verdanke. Oder schnoddriger gesagt: Ich wäre sicher auch ohne Sie irgendwann ein guter Mensch geworden, hoffe ich, aber mit Ihnen ist es dank meiner Bockigkeit zwar nicht schneller, aber doch amüsanter vonstatten gegangen. Wenn man einem Menschen etwas gutes tut, den man noch nie zuvor gesehen hat, mit den einem nichts verbindet, der einem gleichgültig ist, wie man nur in Zeiten der Abstumpfung gleichgültig gegen Mitmenschen werden kann, der nicht einmal schuldlos ist in jenem bürgerlichen Sinne, wenn man so einem Menschen etwas Gutes tut, so hat man das zwar sicher keinem Christus getan, doch man hat auch die Chance, dadurch lebenden und verstorbenen Erziehern an der Ausbildung der eigenen Menschlichkeit (und auch Konrad war dies in einer gleichsam nebensächlichen Art & Weise im allergrößten Maße) Danke zu sagen. Durch Almosen lädt man sich keinen Segen aufs Haupt, aber man reinigt gewissermaßen den Dachstuhl.
Ach, ein zweites noch, obwohl ich befürchte, daß es jetzt doch alles wieder ziemlich geschwätzig wird. Ich muß ohnehin und schon seit Jahren fast gezwungen schreibend reden, sicher hat das meiner Partnerschaft auch so etliche gemeinsame Stunden geraubt, aber wir brauchten einander nicht im Wort, nicht einmal im Blick, meist reichte es, einander gelegentlich durch die Zimmer eine Nettigkeit oder einen Wunsch zuzurufen. Die Wohnung ist so furchtbar still, und das, obwohl ich sonst immer gerne Stille um mich habe. Oft bin ich hundemüde, aber gerade nachts finde ich kaum ins Bett, das auf mich zu warten scheint wie eine gespannte Venusfalle. Nein, ich bin da noch nicht aus allem raus. Gestern praktisch zum ersten Mal im Leben eine fürchterliche, weil grundlose und deshalb unstillbare Angstattacke, das ging bis zu physischen Symptomen und der Angst, irgendwann, jetzt oder in 40 Jahren wie Konrad zu ersticken, aber allein. Puh, das war sehr hart. Etwa fünf Minuten lang. Da ich mich inzwischen an diese Kurzfristigkeit der meisten meiner überpegligen Gemütszustände gewöhnt habe, gehe ich sogar innerhalb dieser Krisen recht gelassen damit um.
Jedenfalls, ich gebe es ja gerne zu, lenkt mich das Schreiben gerade in diesen Nachtstunden angenehm von solchen und anderen Mikrokrisen ab. Adressaten für mein Schreiben habe ich eigentlich immer erst nachträglich gehabt, einfachste Neujahrswünsche und Geburtstagskarten mißraten mir, wenn ich zunächst den Anlass und dann den Text finden soll. Aber Sie verkörpern eine sehr wichtige Nahtstelle zwischen verschiedenen Stücken meines Lebens - die großen schulisch-entwicklungspsychologischen Sprünge so mit 9, 14, 19 rum, dieses ewig erfreuliche, für mich so überraschende Zusammentreffen auf dem Standesamt, die Jahre dazwischen, in denen ich mich oft gefragt habe, ob mein bis dahin abgearbeitetes Leben eine briefliche Zwischenbilanz an Sie wert sei (so erschien es mir nicht), all das untermischt sich für mich in solchen Nächten in meiner, Pathosalarmstufe rot, aufgewühlten Seele, so daß ich, wie Sie sich aber wohl gedacht haben, zugleich sehr ausdrücklich an Sie als einen Menschen von, uhm, erweiterter Schau, als auch an den berühmten Here Cometh Everybody vielleicht gar mit einem unklaren peccavi auf den Lippen, schreibe. Wäre es mir nicht so wichtig, betont zu wissen, daß ich Sie dennoch nie als Gesprächspartner aus dem bewußt unscharf gestellten Blick verliere, ich hätte mir diese Auslassung gespart.
Jetzt aber noch schnell das zweite Schöne des heutigen Tages, zumal ich mit Erleichterung eine beginnende Müdigkeit verspüre; ich hätte zwar Schlafpillen, noch von meiner verstorbenen Mutter, wenn die noch wirksam wären, im Haus, doch diese lange Zeit ihrer unberührten Erhaltung sagt schon alles, ich fürchte Downer wie der Teufel das Weihwasser. Ich habe heute eine Reise nach Jerusalem gebucht. An seinem Geburtstag am 24. Mai will ich dort sein, irgendwo in dieser gottgewollten und menschenentzweienden Mauer wird wohl noch eine Ritze für meinen Zettel sein, ich hab ja Arme wie ein Aff. Ich hatte mir das eigentlich mehr als eine Art Hit&Run-Aktion vorgestellt, 23. nachmittags angereist, 25. morgens wieder geflogen (oder ist dieses Yad Vashem auch für Kurzreisende Pflicht? Dann hätte ich ja noch einen halben Tag einplanen müssen. Gott, ich hasse Museen... Entschuldigung) aber wissen Sie, was da der Flug gekostet hätte? 2300 Euro, ich möchte es fast schreien. Jetzt mache ich was über das ganze Wochenende und O Wunder, die Sache kostet nur noch 900. Keine Ahnung, was ich fünf Tage in Jerusalem soll. Konrad war mindestens dreimal dort gewesen, inklusive einer diplomierten Pilgerreise, was ihm aber immer etwas schenant war, nach Mutters Tod verschwand die gerahmte Urkunde flugs aus dem Boudoir der alten Dame und ward nie mehr gesehen. Aber das war ohnehin der Konrad vor 1987 gewesen, einer, der gegen den §218 auf die Straße gegangen ist, aber nicht gegen den §175. Er hat mich nie mit Reiseanekdoten überfrachtet, was ihm ein leichtes gewesen wäre, schade um jede ungehört versunkene Geschichte, aber beim Jerusalemkomplex lauschte ich doch weniger den Geschichten von Ölberg und Via Dolorosa als jenen von arabischen Bauarbeitern und jemenitischen Schuhputzerjungen. Ich stelle mir Jerusalem nicht besonders, hm, lieblich vor. Ich habe fast schon wieder ein wenig Angst, nein, nicht vor den überzeugungsirren Rucksackträgern in den Bussen und Cafes, mehr vor der zwischen Assmannshausen und Valparaiso allgegenwärtigen Langeweile, dem Ennui, dem Taedium, der Leere, der Einsamkeit, was weiß denn ich, dem ganzen Zivilisationsballast und seinem Ekelreflex eben, die ich eben beide nicht abzuwerfen gedenke, mir ist ein Restmaß Bodenhaftung bei allen dionysischen Zügen stets sehr wichtig. Ich werde gewiß nicht fromm werden, das weiß ich seit gestern: Eine Woche nach dem Trauergottesdienst bin ich noch einmal in die Abendmesse gegangen, zum Gefühlsabgleich, sag ich mal. Es war Beginn des marianischen Monats, der Kirchenchor schmetterte, die Gemeinde, recht zahlreich anwesend, bekam Hymnus auf Hymnus aufgebürdet, die Predigt ging eigenartigerweise ausgerechnet über meinen Konfirmationsspruch einen relativ seltenen kleinen Propheten, Haggai, Sacharja oder Zephanja, ich weiß es nicht einmal mehr und meine diesbezügliche psychotische Quest ist ein für allemal ausgestanden, ich bin lebenslang säkular schluckgeimpft, sozusagen. Das ganze Zeremoniell an jenem so sonderbaren ersten Mai, und ich hatte mir immerhin sogar die dritte Hostie meines Lebens abgeholt, die zweite in der Woche zuvor ging ja ohnehin ganz klar an Konrad, ließ mich diesmal sonderbar kalt, ähnlich wie der Anblick von Konrads Leiche am zweiten Tag seiner Aufbahrung in der Kapelle des Bestatters. Nein, keine Kälte im Sinne einer überwundenen Schmerzhitze, auch keine erzwungene Ratio, nur einfach die Ahnung, das dieser Teil des Weges schon begangen worden war und in der Wiederholung kein Makel, aber eben auch kein Heil läge. Bi, Zeichen 49, glaube ich. »Macht seinen Kinnbart anmutigDas Ding ziehe ich laufend. Und jetzt, wo ich irgendwann im nächsten Jahr zu den Na-Xi fahren werde, ist das mit der latenten Oberflächlichkeit, die in diesem Urteil kritisiert wird, gar nicht mehr so schlimm, der lange Bart wird mir dort hoffentlich ein wenig die Türen öffnen. Obwohl das eine Gratwanderung ist mit der Mimikry, dazu gleich noch mal. Das ist so ähnlich wie mit dem Chinesisch kochen: Ein konventionell gemachtes Chinakochbuch kann rasch zum Wechselbalg geraten. Vier Mu-Err-Pilze, 3 Spritzer Sojasauce, zwei Schalotten, 350 Gramm Rindoder Schweinefleisch? Angaben wie diese, vor allem, wenn sie uneingeleitet in solchen Büchern stehen, haben mich als Buchhändler mit Liebe zum Kochbuch (ich hatte ja auch einen dankbaren Testleser an der Hand) stets von einer Empfehlung des Titels Abstand nehmen lassen. Abgesehen davon, daß die chinesische Küche, aus Gründen, die niederzulegen ich mir aufgrund der ohnehin erneut überbordenden Länge des bisher Gesagten versagen will, eine der überschätztesten der Erde ist (neben der indischen), es geht beim Kochen in vielen asiatischen Ländern wohl eher um einen gewissen Geist der Ausgewogenheit denn um ein konkretes Geschmacksideal. Und ähnlich will ich das auch bei all meinen Reisen im Leben halten. Mich sozusagen vom Dao leiten lassen. Das eben auch in Jerusalem. Und Konrad wird seinen Kaddish bekommen, in aller Ehrfurcht vor all jenen, die schon an dieser Mauer gestanden haben und tausend mal mehr Gründe für ihre Tränen gehabt haben. Sagen Sie, wissen Sie es? Brauche ich in der Altstadt, im Tempelbezirk etc. eine Kippa? Beziehungsweise, da ich die ohnehin in fünf Tagen irgendwo brauchen werde (ob es koschere Herrensaunas gibt in Jerusalem? Haifa oder Tel Aviv sähe ich ja glatt dafür an...), macht man am ehesten nichts verkehrt, wenn man das Ding die ganze Zeit (also vielleicht außer beim Essen etc.) aufbehält? Oder wäre das umgekehrt nicht für einen Deutschen das allerpeinlichste? Ach, eben sagte ich es noch: Das Dao wird's schon richten.
Doch noch ein letztes, lieber Herr P. und dann ist es schon wieder nach drei:
Konrad und seine Familie haben immer behauptet, der Name J. sei eigentlich mit Noel-e zu sprechen und sei hugenottischen Ursprungs. Ich habe hugenottische Namensverzeichnisse bis ins 16te Jahrhundert studiert und diesen Namen nicht gefunden. Dafür findet sich in den ruhmreichen Annalen der unglücklichen polnischen Armee, zurück bis in pruzzischste Zeiten, manch braver Soldat dieses Namens. Und eine Frau J. hat sogar schon für Polen eine Olympiamedaille geholt, Hürdenlaufen, glaube ich. Was mir die Herzen der älteren Verwandtschaft Konrads öffnen geholfen hat, war die Tatsache, daß mein Vater und der von Konrad aus zwei benachbarten Orten kamen: Trembatschau und Namyslow, Trautweiler und Namslau. Die berühmte Wasserpolackenlinie, so habe ich zumindest den Ausdruck aus meiner schlesischen Verwandtschaft gehört, trennte praktisch genau diese beiden vermutlich nicht sehr strahlenden Metropolen der Zivilisation voneinander. Vielleicht hat Konrads Vater als Kind bei Opa Julius im Kolonialwarenladen mal eine Süßigkeit gekauft? Namslau war für Trembatschau immerhin schon Stadt wie ungleich berechtigter die Namslauer Breslau für eine Metropole angesehen haben werden. Mir war es immer sonderbar vorgekommen, daß eine hugenottische Familie ausgerechnet nach Polen fliehen sollte (gut, mag sein, daß diese schlesische Ecke unter Friedrich preußischer war, da kennen Sie sich tausendmal besser aus) und dann auch noch den für sie so unterdrückerischen katholischen Glauben annehmen sollte? J., das scheint mir eher eine Form von Jakob zu sein, wie Jokel, Yokel oder Yakuv. Konrads väterliche Linie hat seit unzähligen Generationen Metzger hervorgebracht, erst seit den 30ern in Düsseldorf, zuvor in dieser gottverlassenen, rückständigen Gegend ganz weit da hinten, wo es mich nicht im mindesten ahnenwärts hin zieht. Auch Konrad hatte nichts für Vertriebenentourismus übrig, obwohl seine Familie seit Jahren gen Slask ausschwärmt, er war auch nie etwas anderes als ein, wie er gerne sagte, mit Hafenwasser getaufter Düsseldorfer Jong. Da bin ich noch mal bei der Sanftmütigkeit, er war Jahrgang 1936, einer der sogenannten weißen Jahrgänge vor Einführung der Wehrmacht, sein fünf Jahre jüngerer Bruder, bereits Rekrut gewesen, ist ein ganz anderer Mensch als er. Meine Familie, right or wrong, klar, aber leider sehr, sehr schwierig. Bewahre mich Derdaoben vor Konfliktpunkten mit diesem Mann und einer Ausnahme von der für uns so unglücklichen Faustregel des Versterbens männlicher J.s vor dem 70sten Jahr, pardon. ('s ist wirklich fast wie ein Fluch, wenn ich die Stammbücher so durchgehe.) Sie müßten etwa genau so alt sein wie Konrad, schätze ich mal - ist ihnen der Bund auch erspart geblieben? Jedenfalls nehme ich mal an, daß Konrads Familie ursprünglich jüdischer Konfession war, wie so viele Metzger im deutsch-polnischen Raum. Katzofs nennen sie sich ja auch bis heute untereinander und überhaupt hat die Metzgersprache zahlreiche jiddische Ausdrücke bewahrt. Ich fand diesen Aspekt immer sehr spannen und habe auf meiner Homepage http://www.mcnep.de seit längerem den Platz für ein zu erstellendes Fleischerblog reserviert. Ich werde es entweder jetzt oder nie mehr richtig beginnen können.

Auf ein gesundes Zusammentreffen irgendwann

M.


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