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heini, am 5.3. 2006 um 23:01:18 Uhr
Der-Wind-singt-leis-Dein-Lied-Marie

Lass' die Maus aus, Marie!

Sie ist geboren 1898
Zwei Weltkriege erlebt, ein Leben lang geschuftet
Der Mann vor 30, 40 Jahren schon ins Gras gebissen
Die Kinder weg, Karriere machen oder was
die Enkel auch, und sie ganz einfach abgeschoben
ins Altersheim, Pensionistenheim Amstetten
Das Ende eines Lebens, in einem Heim am Arsch der Welt
In Ketten mit Tabletten in Amstetten
Ein leeres altes Gesicht
spiegelt sich wirr im Bildschirm einer virtuellen Welt
Traurige Gichtfinger tappen furchtsam über Tasten
matte, müde Augen müh'n sich blinzelnd durch die Zeilen
einer viel zu neuen Welt

Maria Koppendorf, wenn Du uns hörst, du Seele eines Menschen
aus alt mach neu?
Das geht nicht. Aus neu wird alt, aus warm wird kalt, Marie.

Soll der Cyberspace Dir jetzt den lieben Enkelsohn ersetzen?
Da werden Tränen tropfen auf die Tatstatur
Wo sind die Menschen, wo die Freunde?
Die dir dein Leben fröhlich machten

Marie, du brauchst doch zwitschernde Vögel
Du brauchst aufgehende Sonnen
Einen kühlenden Regenguss wenn heiss dir ist
in deiner Haut
für die du ja nichts kannst
aus der du ja nicht fahren kannst
die Tür im Altersheim Amstetten
an die nie wer klopft
einz einmal der Herr von Microsoft
zum Installieren und Abkassieren
dann fällt sie zu
und über allen Rollstuhlkissen ist dann Ruh
zahnlos im Internet, schwerhörig trotz Real Audio
Darf ich vorstellen:
Maria Koppendorf, Pensionistenheim Amstetten
Mach das Licht aus, wenn du gehst, Marie
Wer stürzt zuerst ab?
Der Computer oder die Menschlichkeit?
Nächstenliebe oder Datei Marie verloren?

Codewort: Einsamkeit
Zimmer an Zimmer, neben Maria Olga
Neben Olga Anna
Neben Anna Paul
Neben Paul Adolf
Und wenn Marie dann für immer den Chatroom verlässt
Dann dreht Adolf noch seine bizarren Runden durch die Neonaziseiten
als altes, irres, virtuelles Oberarschloch
Und Marie sagt Adieu und mfG
Die Schwester drückt das Kissen immer fester
Dir aufs Gesicht, vielleicht, ich hoffe nicht,
ich will nichts unterstellen
Klick auf Hilfe,
Klick auf Hilfe, Marie!
Error, Exit, aus der Traum
Weggeworfen
Druckerstau im Papierkorb der Gefühle
Im Amstetten Pensionistenheim
Wo das Surren des Computers einzig Lebenszeichen ist
Ein Leben seit 1889

Klick auf Dokument
Keine Links zu irgendwem
Suchprogramm hat nichts gefunden
Suche erweitern sinnlos, zwecklos
Klick, Diskettensarg
Kalte Festplatte, an der niemand sitzt
Webmaster Good bye
Marie! Marie, hörst Du uns?
Marie
Stermann und Grissemann betreten betreten den Raum
Wir sind echt, nicht Lara Grissemann und Dirki Croft
Echte Menschen, weisst DU
Fleisch und Blut
Dein eigen vielleicht, ich weiss es nicht
ich will nichts unterstellen
1889 viel ist passiert seither:
Zwei Jahre warst Du alt, als das Jahrhundert sich gewendet
102 beim zweiten Mal
Lass die Maus aus, Marie
Leg dich her, erzähl uns:
erzähl uns von kuk, von FKK
von Brjeschnew und Thomas Mann
von Schnitzler, Zweig und Alma Mahler
DIe Geschichten sind Geschichte
Lass die Maus aus
ein Blick in der Vergangenheit
in die Verfanhenheit
Wer war's der sich verfing in deinem Lachen
Der Kinder dir geschenkt?
die heut zu dir wie Blinde sind
du denkst manchmal an sie
doch Alzheimer sei dank
erinnerst du dich nie
Mach dir's bequem Marie
Nimm die Zähne raus und lausche
deinen eigenen Gedanken
für die du kein Gebiss mehr brauchst

1889
Zeit der Ritter und der Handwerksleut'
Zeit der Huren, Diebe, Räuber
Der Allmacht der Fürsten und der Industrie
mittendrin: Marie
Zeugin einer Welt aus Lug und Trug
Aus Wahrheit, Mut und Handgepäck
Wie oft fuhrst du im Zug, Marie töfftöff
von Danzig bis nach Posen?
von Warschau bis nach Prag?
von Wien nach Salzburg?


Der hübsche Kellner mit dem schönen Knie
Er stiess mit diesem Knie an Deins
Ihr wurdet Mann und Frau
1921, Spätherbst, Vollmond, Liebestaumelei
vielleicht, ich mein: wir wissens nicht
Lass die Maus aus
Datenbanken sind in dir
Hol die heraus, aus deinem Herzen
Sag: wo hielt der Zeit, Maria Koppendorf
Wo hielt der Zug, der Zug der Zeit
Das Internet kann dich nicht retten

Nimm die Perücke ab, Marie
und hol aus uns'rer Manteltasche ein Fläschchen Gin
Den Tee schütt' ins Klosett und auch das Scheiss-Internet
Ein Stückchen Scholoade? EIn Zug von Stermanns Zigarette?
Wie war das, 1941, fünf Buchstaben: NSDAP
Warst Du dabei, dafür, dagegen?
Was dachtest Du, erzähl es uns!
Warst du im Widerstand, oder,
wie die meisten damals, nicht bei Verstand?
Und dann, als alles abgebrannt? Hast Du gelöscht?
Mit Wasser oder Tränen?
Erzähl es uns, ich deck dich zu
und Stermann macht die Kerze an.
Komm, wir trinken auf dein Wohl, Marie.

Kino: das bewegte Bild
Und du: eine bewegte Frau
in bewegten Zeiten
Komm Marie, lach noch einmal über Charlie Chaplin, Buster Keaton
Was sagst du, die Hindenburg?
Du warst dabei, im Zeppelin über New York
Neu Amsterdam, du Trümmerfrau
Und zur Musik von Johann Strauss gabs Karotten unterm Weihnachtsbaum
Die Zeit war schwer dein Leben lang
Und dann die Kinder: Johann, Albert, Clara
ohne Kreisssaal auf dem Land
im Kindbett starb dir Albert weg
suchst du ihn jetzt im Internet?

Stichwort: Alter, Suche negativ
Lass die Maus aus, Marie
Lass die Maus aus
Erzähl uns weiter

Koch doch für uns Marie
Koch für uns noch einmal Sauerkraut und Eisbein
Wie damals einst für deinen Mann
Eisbein für den Einbein sagtest du im Scherz
weil er im Krieg ein Bein verloren
im Weltkrieg Nummer eins
in Nummer zwei verlorst du ihn dann ganz
nicht nur das Bein
du fortan ganz allein
Haushalt, Kinder, Mühsal, Elend
die Münchner Republik
Revolution war damals schick
Victor Adler und der Doppeladler
Radler sah man auf den Strassen
Autos manchmal auch
Und die Pferde, sagst du,
zogen immer seltener durch die Stadt
dafür in Fleischhauerein
weil auch von Gäulen wird man satt


Steig auf, Marie, ein letztes Mal
und reite mit uns durch die Datenautobahn
logg dich ein in deine eigene Vergangenheit
1962
Du wurdest grosse Mutter
Johann schenkte dir den Enkelsohn
Den Edi, du weisst schon, den
der dich ins ALtersheim und um dein Geld gebracht
der heute in der Metallverarbeitende Industrie
den Vizechef gibt
Sag mal, Marie, wann hast du dich verliebt?

Laß die Maus aus, Marie, hast es selbst gehört.
Laß sie aus und denk an früher.
Denk daran, wie es war. Weist du noch?
Wann hast du dich verliebt, ein zweites Mal,
du stolze lustige Witwe, du?
1951 in Graz, die Hochzeit '52, Mai, und im August,
da war er tot.
Ein Blitzschlag hinter der Garage.
Das Auto war schon drin, nur er, der Gilbert, biss ins Gras. Du natürlich wieder allein, kummervoll, neue Falten.
Wer sollt' es dir verdenken, Marie?
Und dann die neue Hüfte und der erste Aufenthalt im Krankenhaus, da war's wie heut', Marie.
In deinem Zimmer, Nummer 14, roch's nach Aniskraut,
von dir selber angebaut,
du Gärtnerin deines Geschicks!
Statt deiner Hüfte hattest du
Tomaten, Bohnen und das Zwiebelkraut.
Mit künstlicher Hüfte zurück zur Natur!
Der Drahtesel war dir Begleiter, über Wiesen, über Stock und Stein, durch Wälder, Äcker, Ländereien!
Marie, was ist?
Wach auf, Marie.
Marie, wach auf und reib dir deine Augen,
die der Bildschirm ruiniert.
Du bist ja ganz downgeloadet, Marie! Musik, Marie, Musik!
Wir wollen tanzen! Stermann ist ein Galan und tanzt mit dir den Cha Cha Cha rund ums Krankenbett, cha cha cha...

Jetzt ruh dich aus, Marie, mein Schatz.
Ich hol ein Glas mit Wasser dir.
Paß auf, trink dein Gebiß nicht mit.
Grissemann, was sagt sie? Wie hieß Marias beste Freundin?

Friederike, Dirk, so hieß sie.
Friederike, gell Marie, du weist es gut, durch dick und dünn und Pferdestehlen, und weisst du noch, die gemeinsamen zwei Tage in Venedig?
Nicht mit Gilbert oder Edi, nein, der Freundin!
Zwei Tage Urlaub in 100 Jahren, das ist nicht viel, Marie.
Du weist vielleicht, Marie, heutzutage bucht man zack zack im Internetz, Dom. Rep., all inclusive, alles inklusive, auch das Schlimme.
Das ist nicht mehr deine Welt, Maria,
in solchem Chatroom kannst du nur verlieren.
Was du erzählst wird niemand interessieren.
Dort mußt du sprechen über Modernes, während du doch moderst.
Verzeih, Marie, doch ich mein's gut.

Sieh nur, Marie, Stermann wäscht sich die Hände. Wie du damals in Unschuld 1972, als Friederike, bei dir zu Besuch, kopfüber von der Terrasse flog. Hinter der Garage kam sie auf, genau dort, wo Gilbert einst der Blitzschlag traf!
Marie, gabst du ihr einen Stoß?
Nein, Marie, wir wissen, nein.
Doch das Jahr in Untersuchungshaft hinterließ Spuren.
Deine Warzen wurden mehr, du, 74 Jahre alt, in U-Haft.
»Im Zweifel für die Angeklagte«, sagte der Richter.
Du kamst frei und feiertest den 75ten allein, die Nase plattgedrückt am Glas deines Terrariums,
ein Geschenk von Edi. Das zeigte dir sofort wie wenig er dich kennt, du hast doch Angst vor Krokodilen! Wie nanntest du sie?
Fressende Handtaschen.
Mein Gott, dein Sinn für Humor, Marie,
ein eigenes Kapitel wert.
Friederike, kurz vor ihrem Tod, sie schwitzte, weil ihr war so warm, sie sagte: »Puh, im Schatten 30 Grad!«, und du dann drauf die Pointe: »Dann geh doch aus dem Schatten raus
Was haben wir gelacht, Marie.
100 Jahre haben wir mit dir gelacht, Marie, geweint, Marie, geliebt, Marie.
O Marie, sieh nur, Stermann weint!

Es ist, weil, Marie du weist es selbst, seit du 80 Jahre alt geworden bist, da fing es an, die Altersbosheit. Du hast das Krokodil vergiftet. Warum? Das Röcheln des gepanzerten Tiers drang bis auf die Straße, Marie.
Man dachte, du bist es.
»Die stirbt
Und der Notarzt fand das verendete Krokodil, während du schallend lachend im Ohrensessel saßt.
Aber dann, Marie, du erinnerst dich,
die Jahre in der Psychiatrie,
bis 95, 15 Jahre, eineinhalb Jahrzehnte.
Das war der Preis, Marie.
Medikamente stellten dich ruhig, du wurdest leise.
Komm sing, Marie! Sing, Marie!
Sing für mich noch einmal ein Lied, aus längst vergangener Zeit, Paulchen Kuhn, oder das Grüner-Kaktus-Lied!
Mit Schalmeien werd ich dich begleiten,
Marie, laß die Maus aus,
Marie, und denk an all die Freunde aus der Psychiatrie!
Da war der Knut, der Hermann und der Manfred, die Else und die Ruth, ach wie gut das tut, das Denken an Früher, Marie!
An deinem 100sten Geburtstag, Marie, gab dir der Bürgermeister seine Hand. Du hast ihn nicht erkannt, hast einfach aus dem Mund getropft.
Hast einfach aus dem Mund getropft.
Hast einfach aus dem Mund getropft.
Wir gehen jetzt, Marie.
Wir gehen jetzt, Marie.
Lassen 100 Jahre 100 Jahre sein.
Faß die Maus an, Marie!
Faß die Maus an, Marie!
Schalt den Computer ein, Marie!
Kennwort: Einsamkeit.
Bei so viel Ruhe möcht' man schreien, Marie.
Marie. Schrei's durchs ganze Internet: world wide weg.
Marie tut alles weh weh weh.
Maria.aus-schluss.ad. Ade.

© Christoph Grissemann/Dirk Stermann


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