Kolumbien
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Brief von AmnestyInternational
An
Álvaro Uribe Vélez
Präsident der Republik Kolumbien
London 7. August 2002
Sehr geehrter Herr Präsident
Anlässlich Ihres heutigen Amtsantritts möchte ich im Namen von AmnestyInternational (AI) meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass die Menschenrechte aller Kolumbianerinnen und Kolumbianer im Zentrum Ihres politischen Programms stehen werden.
Seit etwa 30 Jahren beobachtet AI die andauernde Menschenrechtskrise in Kolumbien. Die Organisation hat während dieser Zeit zahlreiche Aktionen unternommen und Ergebnisse ihrer Untersuchungen vor Ort veröffentlicht. In diesen Dokumenten wies AI auf die vielfachen Verletzungen der Menschenrechte und des internationalen Völkerrechtes hin, die Sicherheitskräfte oder paramilitärische Truppen verübten. Die Paramilitärs handelten oft in gemeinsamen Aktionen mit der Armee oder mit ihrer Zustimmung. AmnestyInternational dokumentierte ausserdem Menschenrechtsverletzungen, welche die bewaffneten Oppositionsgruppen verübten. Während ihres andauernden Dialogs mit den früheren kolumbianischen Regierungen in den letzten drei Jahrzehnten hat die Organisation wiederholt die Verantwortung des kolumbianischen Staates gegenüber nationalen und internationalen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte betont.
Die Menschenrechte und das internationale Völkerrecht werden von den bewaffneten Konfliktparteien immer mehr missachtet. Darunter leidet vor allem die Zivilbevölkerung, welche von allen Seiten zur Zielscheibe der Angriffe wird. Die Konfliktparteien wollen so verhindern, dass sich die ZivilistInnen jeweils auf die Gegnerseite stellen. Für das Jahr 2001 veröffentlichte AI eine alarmierende Statistik: So «verschwanden» laut der Organisation über 300 Menschen und mehr als 4‘000 ZivilistInnen wurden getötet – die meisten Ermordungen gehen auf das Konto der paramilitärischen Gruppen, die von der Armee unterstützt werden. Zehntausende Zivilpersonen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, über 1‘700 Menschen entführt – die meisten von ihnen durch die Guerillagruppen. Das erste Datenmaterial für das laufende Jahr lässt vermuten, dass sich die Lage in Kolumbien weiter verschärft hat.
AmnestyInternational ist sehr besorgt, dass sich die dauerhafte Krise der Menschenrechte noch weiter verschlimmern wird, nachdem der Friedensprozess mit den Fuerzas Armadas Revolucionarios de Colombia (FARC) im Februar 2002 scheiterte. Zudem befürchtet die Organisation, dass die von ihrer Regierung zu erwartende Politik eine Verschärfung dieser Krise zur Folge haben könnte.
Die bewaffneten Oppositionsgruppen, die zahlreiche und wiederholte Verletzungen des internationalen Völkerrechts begangen haben, tragen Verantwortung für den sich verschärfenden Teufelskreis der Gewalt. Amnesty International verurteilt die absichtlichen und willkürlichen Tötungen, Entführungen und Geiselnahme von ZivilistInnen sowie die wahllosen und unangemessenen Angriffe auf militärische Ziele, die Zivilpersonen getötet und verwundet haben. Die FARC verwendet oft mit Gas gefüllte Zylinder: So wurden im Mai 2002 in Bojayá, in der Provinz Chocó, zahlreiche Menschen getötet. Amnesty fordert, dass die Mitglieder der Guerilla für die schwerwiegenden Verstösse gegen das internationale Völkerrecht zur Verantwortung gezogen werden. Die kolumbianische Regierung darf solche Vorfälle nicht als Ausrede benützen, um keine politischen Massnahmen zur Beendigung der Menschenrechtskrise zu ergreifen.
AmnestyInternational ist überzeugt, dass Kolumbien erst dann in einer dauerhaften und tatsächlichen Sicherheit leben kann, wenn die Menschenrechte eingehalten werden. Die Regierung muss deshalb die Verantwortung für die Lösung des Menschenrechtsproblems übernehmen. Amnesty International fordert Sie darum auf, eine umfassende und einheitliche Menschenrechtspolitik zu entwickeln, die mit Kolumbiens internationalen Verpflichtungen und den Empfehlungen der Uno übereinstimmt. Eine solche Politik muss vordringlich die Straffreiheit beenden; die paramilitärischen Gruppen entwaffnen und gefährdete Gruppen wie MenschenrechtsverteidigerInnen, GewerkschaftlerInnen, die indigene und afro-kolumbianische Bevölkerung und intern Vertriebene schützen.
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AmnestyInternational ist sehr besorgt um die Sicherheit der GerichtsermittlerInnen, von denen viele wegen ihrer Untersuchungen der Menschenrechtsverletzungen bedroht und sogar getötet wurden. Amnesty International fordert, dass alle Fälle, die in einem Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen stehen, von der Rechtsprechung des Militärgerichts ausgeschlossen werden. Alle Mitglieder der Sicherheitskräfte, die durch richterliche oder disziplinäre Ermittlungen wegen Menschenrechtsverletzungen belastet werden, sollen ihrer Aufgaben entbunden werden, bis ihre Verantwortung und Unschuld von einem Gericht bewiesen wird. Die Sicherheitskräfte müssen die Generalstaatsanwaltschaft voll und ganz unterstützen, um die Ermittlungen zu Menschenrechtsverletzungen voranzutreiben. Es müssen ausserdem die nötigen Schritte eingeleitet werden, ErmittlerInnen dieser Fälle Sicherheit zu garantieren.
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Die neue Regierung muss sich entschieden für eine Aufdeckung der Verbindungen zwischen den Paramilitärs und den Sicherheitskräften einsetzen. Die Personen, welche die Ausbildung der paramilitärischen Gruppen, ihre Unterstützung und die Zusammenarbeit mit ihnen fördern, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Paramilitärische Gruppen müssen unverzüglich aufgelöst und ihre für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Mitglieder vor Gericht gestellt werden.
Obwohl sich Ihr Vorgänger um den Schutz der MenschenrechtsverteidigerInnen bemühte, werden diese nach wie vor massiv bedroht. MenschenrechtsaktivistInnen erlangen auf internationaler Ebene wegen ihres Kampfes für die Menschenrechte grosse Beachtung. Sie gewährleisten, dass durch den Staat verübte Menschenrechtsverletzungen an die Öffentlichkeit gelangen und die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Die Uno und die Organisation amerikanischer Staaten erkennt diese Arbeit an und unterstreicht ihre Bedeutung in Krisensituationen. Um die Arbeit von MenschenrechtsaktivistInnen in Kolumbien sicherzustellen, fordert Amnesty International von Ihrer Regierung, mit den AktivistInnen auf höchster staatlicher Ebenen in einen Dialog zu treten, um eine Politik zu deren Schutz zu entwickeln.
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AmnestyInternational möchte auch ihre Besorgnis über Ihre Ankündigung ausdrücken, die kolumbianische Verfassung von 1991 und den darin verankerten Schutz wichtiger Menschenrechte zu ändern. Die internationale Gemeinschaft und vor allem die Menschenrechtsorganisationen begrüssten die Einführung strenger Schutzbestimmungen für Menschenrechte in Kolumbiens Verfassung (Magna Carta), welche die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte als die fortschrittlichste Verfassung Lateinamerikas bezeichnete. Diese Schutzvorkehrungen sowie die Unabhängigkeit staatlicher Institutionen, die eine wichtige Rolle beim Schutz der Menschenrechte spielen, müssen geschützt und gestärkt werden. Nur so kann die Menschenrechtskrise gelöst werden.
Amnesty International fordert zudem, dass die neue Regierung ihre Ankündigung noch einmal überdenkt, dem Präsidenten eine Vollmacht zu erteilen, mit der dieser den nationalen Notstand ausrufen kann. Eine solche Vollmacht würde gegen die Verfassung verstossen, da judikative und legislative Kompetenzen im Falle eines Ausnahmezustandes beseitigt würden. Es gibt jedoch fundamentale Rechte, die nach internationalem Recht nicht aufgehoben werden können und die auch im nationalen Notstand respektiert werden müssen. [...] Nach internationalem Recht sind das Recht auf Leben, Freiheit vor Folter, Misshandlung und Gefangenschaft, Freiheit vor willkürlicher Festnahme, das Recht auf einen gerechten Prozess, Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung auch in Zeiten nationalen Notstandes unumstössliche Grundrechte. In diesem Zusammenhang ist die Äusserung Ihres designierten Ministers für Inneres und Justiz, im Namen der Sicherheit Bürgerrechte und –freiheiten einzuschränken, ein trauriges Zeichen.
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AmnestyInternational zeigt sich zusammen mit kolumbianischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen besorgt, dass Teile der Sicherheitspolizei die Menschenrechtskrise forcieren. Wir sind sehr alarmiert über den Vorschlag, eine zivile Miliz mit Millionen von InformantInnen aufzubauen, die dem aufgelösten Programm Convivir unter der Regierung von Präsident Ernesto Samper Pizarro ähnlich sein sollte. Diese Miliz würde sicherlich die Spirale der politischen Gewalt weiter drehen. Solch eine Strategie drängt die zivile Bevölkerung immer mehr in den Konflikt hinein und liefert sie Racheangriffen beider Seiten des bewaffneten Konflikts aus. Obwohl Sie immer wieder betonen, dass diese Miliz nicht bewaffnet sein wird, sind wir nach den Rundtischgesprächen mit den Präsidentschaftskandidaten vom 6. Mai dieses Jahres über Ihre Äusserung besorgt, dass Ihre Regierung nicht vorsieht, Entwaffnungen vorzunehmen. Da Kolumbien ein von Waffen überschwemmtes Land ist, befürchten wir, dass die neue Miliz eine de facto bewaffnete Miliz sein wird. Zudem vermuten wir, dass die neue Miliz die paramilitärischen Kräfte stärken und somit die Grenzen zwischen legalen und illegalen BürgerInnenwehren verwischen wird. Die ehemaligen Convivir-Gruppen waren für Massaker und Menschenrechtsverletzungen an ZivilistInnen verantwortlich, die sie in Koordination mit paramilitärischen Kräften und kolumbianischen Streitkräften verübten. 1999 verkündeten knapp 40 der Convivir-Gruppen, sich paramilitärischen Gruppen anzuschliessen, nachdem die Regierung ihren Waffengebrauch reglementieren wollte. Herr Präsident, es gibt keine Garantie, dass sich eine solche Entwicklung nicht noch einmal wiederholt.
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AmnestyInternational fordert Ihre Regierung auf, einen Aktionsplan für einen wirksamen Menschenrechtsschutz zu entwerfen und sicherzustellen, dass Menschenrechtsorganisationen eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielen werden.
Ich hoffe, dass Sie und Ihre Regierung unser Angebot akzeptieren, in einen Dialog mit Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen zu treten, um über diese wichtigen Themen zu diskutieren. In diesem Prozess spielt die internationale Gemeinschaft eine wichtige Rolle und Amnesty International wird natürlich andere Regierungen und Staaten dazu veranlassen, Kolumbien in seinen Bemühungen um die Beendigung der Menschenrechtskrise zu unterstützen.
Mit freundlichen Grüssen
Irene Khan
Generalsekretärin
AmnestyInternational