Durchschnittsmenschen
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Meistens verachte ich sie. Verachte sie für ihr unreflektiertes Dahinleben zwischen Angestelltenjob, RTL und Mallorca, für ihren prolligen Top-40-Musikgeschmack, für ihre VW Golfs, die dank »Sound Engineering« mittlerweile längst ab Werk röhren wie Porsches. Verachte sie für ihre schwachsinnigen Wahlpräferenzen, die uns zuverlässig alle vier Jahre dieselben Gurkentruppen bescheren, für ihre Gier nach Sülzwurst, Bier und Autobahnkilometern, die den Planeten in das verwandelt hat, was er ist: einen höchst unsicheren Ort (Matthias Horx: Die wilden Achtziger, Kapitel »Endstation Bebra«, München 1987). Verachte sie für ihre dummdreisten Ressentiments gegen alle, die irgendwie anders sind, Ressentiments, die sich tagtäglich terabyteweise in Millionen von Internetforen ausrülpsen.
Aber halt... woher weiß ich denn überhaupt, wie so ein Durchschnittsmensch tickt? Von gelegentlichen Besuchen bei meiner Verwandtschaft (ja, es stimmt, dort läuft meistens RTL im Fernseher)? Von dem, was etablierte Medien in Veröffentlichungen über sogenannte »Studien« über Ottonormalverbraucher verlauten lassen? Vom Auspuffgeröhre und Motorrollergeknatter in jener Kölner Vorstadtstraße, wo sich mein Wohnklo befindet? Von den zehntausenden Stunden, die ich seit 1995 im Internet verbracht habe?
Meine Verachtung der Durchschnittsmenschen speist sich aus der Annahme, ihnen sowohl intellektuell als auch moralisch überlegen zu sein. Aber ist intellektuelle Überlegenheit ein Verdienst? Habe ich selbst mir jene Gene geschaffen, die seit früher Kindheit meine Hirnchemie ausreichend in Schwung brachten, um heutzutage ein C++-Programm oder einen Kommentar zur Apokalypse des Johannes halbwegs verstehen, eine Beethoven-Symphonie mit Genuss hören zu können?
Und die Moral? Ich habe mit 18 Jahren aus ökologischer Überzeugung auf den Besuch einer Fahrschule verzichtet und lebe bis heute auto- und führerscheinlos (weshalb sich meine Verachtung der »Normalos« so gerne an ihren Fortbewegungsmitteln festmacht). Meine Ökobilanz ist schon aufgrund mangelnden Einkommens nicht die schlimmste (auch wenn ich mein Wohnklo elektrisch heize und mich bis jetzt nicht zum Vegetarismus durchringen konnte) - aber bliebe das auch mit, sagen wir mal, 1500 Euro netto im Monat so? Würde ich dann immer noch auf meinem elitären Postulat von Fahrradreisen als einzig legitimer Form des Ferntourismus (rauf auf den Chinazischer und ab nach Afghanistan...) beharren - oder nicht viel mehr jedes Jahr nach Indien, Marokko, Griechenland, Patagonien, Neuseeland, Georgien, New Mexico, British Columbia, Tristan da Cunha und sonstige Sehnsuchtsorte jetten, schließlich wird man nicht jünger und hat eh nur vier Wochen Urlaub im Jahr?
Und dann die Verachtung der Massen prinzipiell - in letzter Konsequenz liefe sie auf eine physische Ausrottung der Durchschnittsmenschen hinaus: Prolocaust. Bis die Welt nur noch von solchen... (ich muss mich zusammennehmen, nicht das eklige G-Wort zu benutzen) ...wie mir bewohnt wird und endlich ökologisch, spirituell und menschlich (!) gesunden kann...
Ein Nietzscheaner oder Anhänger diverser Esofaschismen mag sich an solchen Aussichten berauschen... ich bin zu sehr von der Ethik der Aufklärung mit ihren Grundlagen in Humanismus und Christentum geprägt, als dass ich diesen logisch konsequenten Schritt gehen könnte.
Und abgesehen davon merke ich doch Tag für Tag, dass mir mein Hass auf die Normalos selbst nicht gut tut - es ist einfach seelisch furchtbar aufreibend, sich außerhalb meines Wohnklos nur wie in Feindesland zu bewegen, ständig abgetörnt von Privatfernseh-Reklame und sonnenbankgegerbten Muskeltürken mit Handy am Ohr. Sollte ich das alles nicht endlich mal anfangen zu ignorieren oder wenigstens in seiner tatsächlichen Relevanz für mich selbst und den Rest der Welt zu sehen?