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Sven, am 23.9. 2000 um 23:06:52 Uhr
Stichwort

Man tippt in einem Buch auf ein Wort und befindet sich augenblicklich in einem anderen Buch, welches über genau das handelt, was das zuvor angetippte Wort umschrieb. So könnte man einem Menschen, der vom Internet keine Ahnung hat erklären, wie Links funktionieren. Gleichzeitig macht dieses Bild klar, wie sehr die Erfindung des Links dem assoziativen Wesen des Menschen mehr entgegenkommt, als jedes gedruckte Medium. Und damit kommen wir einfach noch nicht klar. Weil niemand alles lebt, was er denkt.

Die Art, wie wir Links im Internet folgen können entspricht der Art, wie die Gedanken in unserem Kopf von einer Assoziation zur anderen wandern, das bekommt normalerweise niemand vom anderen mit, denn das Gedankenlesen ist noch nicht erfunden. Wir erhalten wir im Gespräch mit Mitmenschen immer nur die Informationen, die per Sprache kommuniziert werden - und das nachdem vorher unzählige oft abstruse Assoziationsreihen in Sekundenbruchteilen passiert und im Kopf gewertet wurden. Was zwischen den Worten unserer Gegenübers liegt, das können wir an Mimik und Gestik nur erahnen; Die Kellnerin hinter der Theke hört von mir ein freundlich nebenher gesagtes: »Machst Du mir noch ein Bier- »Klar«, sagt sie, die mich erst Minuten zuvor als sympathischen Mann kennengelernt hat. Sie wird nie wissen, daß ich, als ich das Bier bestellte, an ausufernden Sex mit ihr dachte, daß ihr Parfum mich an eine andere Frau erinnerte und mir Bilder ins Gedächtnis rief, wie diese andere Frau mir vor Jahren einen blies, und daß mir das Lust machte, mit der Kellnerin zu schlafen - und das vielleicht auch nur um dabei mal wieder an die Frau aus vergangenen Tagen zu denken.
Im Internet funktioniert das alles anders mit den Menschen und ihren Assoziationen. Da geht die Kellnerin nachts nach Hause, gibt meinen Namen in eine Suchmaschine ein, findet meine Homepage, liest meinen Text über das Parfum, das sie trägt - dieser ist verlinkt zu der Seite der Frau, die mir mal einen blies, die ist zufällig eine stadtbekannte Exhibitionistin und hat ohne mein Wissen unsere sexuellen Eskapaden gefilmt und ins Internet gestellt. Und dann sieht die Kellnerin in Real-Video-Qualität, daß ich direkt einschlief, nachdem ich gekommen war.
Indem wir in unseren Web-Arbeiten Links setzen, geben wir unsere Assoziationsreihen preis und andere können in uns forschen. Würde man, was so möglich wird, auf das wirkliche Leben übertragen, dann würden alle beispielsweise in Kneipen ohne Pause alles herausplapperten, was ihnen gerade durch den Kopf schießt und alle, die bereits einmal miteinander zu tun hatten wären mit deutlich sichtbaren Lichtfäden wie mit Leuchtspuren von Lichtschranken für jeden sichtbar miteinander verbunden.
Im Linkleben des Internets sind die Zustände schon fast so - Folgendes wäre denkbar: man findet heraus, daß ein schwuler Industrieller nicht nur Millionen für ein staatlich gefördertes die AIDS-Forschungsprojekt spendet sondern auch, daß sein Lebensgefährte (dessen Homepage der schwule Industrielle verlinkt hat) auf die Seite eines Saunaclubs verweist, die wiederum auf die Seite eines anderen Saunaclubs linkt, in dessen Gästebuch sich ein Callboyclub eingetragen hat, der Sex mit Minderjährigen anbietet. Der Industrielle hat nur seinen geliebten Lebensgefährten verlinkt, aber so kann es passieren, daß eine akribische Aufsichtsbehörde stur und wild assoziativ ein paar Links folgt und willkürlich assoziiert: der Hauptsponsor des AIDS-Forschungsprojekts steht in Zusammenhang mit Kindersex. Und solche Szenarien spielen sich tatsächlich ab. Auf ähnliche Weise wird heute achtbaren Menschen die Würde genommen und ambitionierten Projekten die Förderung entzogen.
Das Problem liegt auf der Hand: Der menschliche Verhaltenskodex ist auf Zensur ausgerichtet. Wir leben nicht alles, was wir denken. Wir sagen nicht alles, was wir assoziieren. Alles wird erst mit unserem von uns selbst festgelegten Bild unserer selbst im Verhältnis zu denen, mit denen wir umgehen abgeglichen. Deswegen erzähle ich der Kellnerin nicht gleich beim ersten Treffen, daß ich sie in Gedanken ausgezogen und gevögelt habe (ob das im jeweils konkreten Fall nun richtig oder unangebracht ist, das ist ein anderes Thema), und kein Mensch weiß, wie das wäre, wenn wir alle immer eins zu eins kommunizierten, was in unseren Köpfen vorgeht - und ergo können wir damit nicht umgehen, niemand kann das. Das kollektive Experiment, das nötig wäre, um das herauszufinden wagt niemand.
Nirgends wird die kollektive offene Assoziation gewagt - nirgends außer im Internet. So sorgsam wir im realen Leben abwägen, was wir wann preisgeben, so unbefangen setzen wir Links in unseren Internetpräsenzen. Uns so kommt es, daß letztlich alle Informationen zu allen Themen allen, die mit ein wenig assoziativer Energie den omnipräsenten Links folgen, verfügbar sind. Im Internet fehlt sie halt, die zwischenmenschliche Selbstzensur. Natürlich denke ich an Sex mit der Kellnerin, aber niemand erfährt das. Und vielleicht macht das auch Sinn, vielleicht denkt andersrum der Freund der obenbeschriebenen Kellnerin schon bei der Art, wie ich sie anschaue daran, meinen Schwanz mit Benzin zu übergießen und anzuzünden, tut es aber auch nicht, weil er denkt »Reiß Dich zusammen, Idiot - Du wirst niemandes Schwanz grillen, der nichts anderes getan hat, als freundlich ein Bier zu bestellen«. Und letztlich wird nicht gevögelt und es gibt auch keine Barbecue.
Nie wurde es offenbarer als heute, da immer mehr »drin« sind im Internet: Wir Menschen sind nicht die Meister unserer mächtigsten Fähigkeit: der Assoziation. Im realen Leben haben wir uns bestenfalls mit diesem Zustand arrangiert, im Internet kämpfen wir mit derselben Unbill wie Drogensüchtige auf Entzug. Unsere Droge heißt Selbstzensur. Der Entzug ist das Web. Im Web erfahren wir, wann der Papst Sex hatte. Im Web steht, wer John F. Kennedy umbrachte. Das Web bietet die Zusammenhänge - per Link, für jeden nachvollziehbar - nicht unbedingt als offenbaren Kausalzusammenhang, aber immer so wie das, was in unseren Köpfen stattfindet; Jede Information ist da, jederzeit abrufbar und wie ein mutierendes Puzzle: jedes Teil läßt sich an jedes andere Teil anlegen. Die offenbar werdenen potentiellen Wahrheiten sind unfaßbar in ihrer Zahl. Wir tippen in einem beliebigen Buch auf ein beliebiges Wort und vor unseren Augen erscheint konkret und greifbar, was bisher nur in unserem Kopf sichtbar war.
Das Internet ist der digitale Frankenstein - und der Golem sind wir.


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