borges
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»Ist mir mîn leben getroumet?«
Jorge Luis Borges verschollene Poetik-Vorlesungen
erscheinen unter dem Titel »Das Handwerk des Dichters«
Den Herbst und den Winter 1967/68 verbrachte
der argentinische Schriftsteller Jorge Luis
Borges in Harvard. Er hielt dort Vorlesungen:
über die Metapher, das epische Erzählen, die
Übersetzung, sein eigenes OEuvre. Zwar wurden
die Vorlesungen mitgeschnitten, doch die Bänder
lagerten ungenutzt im Keller der
Universitätsbibliothek. Erst vor einigen Jahren
wurden sie entdeckt. Der schmale Band "This
Craft of Verse" erschien 2000, vierzehn Jahre
nach Borges Tod. Nachdem Gisbert Haefs ihn
souverän übertragen hat, liegt nun die deutsche
Fassung vor: »Das Handwerk des Dichters«.
Vermutlich hätte Borges der Weg dieses Buches
gefallen: fast ein Vierteljahrhundert verschollen
zu sein, im Keller einer Bibliothek, im
labyrinthischen Lieblingsraum seiner Fiktionen.
In unmittelbarer Nachbarschaft, stellt man sich
gerne vor, lagern die Werke derer, die "Das
Handwerk des Dichters" bewohnen: Homers
»Odyssee« und »Ilias«, Shakespeares Sonette,
Cervantes »Don Quichotte«, die Märchen aus
tausendundeiner Nacht, Verse von Coleridge,
Whitman, Lugones und anderen. "Das Handwerk
des Dichters" ist ein Buch, das sich aus anderen
Büchern nährt. »Ich glaube«, sagt Borges,
"Emerson hat irgendwo geschrieben, eine
Bibliothek sei so etwas wie eine Zauberhöhle
voll von Toten. Und diese Toten können neu
geboren, wieder zum Leben gebracht werden,
wenn man ihre Seiten öffnet."
Das tut Borges, indem er Motiven nachspürt,
Konnotationen erschließt, die Wörter dreht und
wendet, bis sie ihre Herkunft und ihre Schönheit
preisgeben. Mal spricht er von wiederkehrenden
Metaphern, von den Sternen zum Beispiel, die
für Augen stehen, oder vom Schlafen, das den
Tod meint. Mal fragt er mit Walther von der
Vogelweide: "Ist mir mîn leben getroumet, oder
ist ez wâr?" Und geht im nächsten Schritt zu dem
chinesichen Philosophen Tschuang-Tse, der ein
ähnliches Motiv anschlug: Ein Mann träumte, er
sei ein Schmetterling. Nach dem Aufwachen
wusste er nicht mehr, "ob er ein Mensch war, der
geträumt hatte, ein Schmetterling zu sein, oder ein
Schmetterling, der nun gerade träumte, er sei ein
Mensch."
Es ist dies eine Fabel ganz nach Borges
Geschmack, und er hätte sich an dieser Stelle
selbst zitieren können, seine Erzählung "Die
kreisförmigen Ruinen» aus dem Band «Fiktionen"
zum Beispiel. Darin träumt ein Mann einen
anderen und setzt im Anschluss alles daran,
diesem Geschöpf gegenüber zu verbergen, dass
der nur Produkt eines Traumes ist. Am Ende
wartet eine böse Pointe: Der Träumer muss
feststellen, dass auch er nur der Traum eines
anderen ist. Doch Borges zitiert nicht sich selbst,
und es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen,
woran das liegt: an der Bescheidenheit eines
alten Mannes oder an dessen Hang zur
Koketterie: "Denn man liest das, was man mag -
aber man schreibt nicht, was man schreiben
möchte, sondern was man zu schreiben fähig ist."
Ein treffender Satz, denkt man an die Kluft, die
sich zwischen der Vorstellung eines Textes und
dessen Gestalt auf dem Papier regelmäßig auftut.
Und ein merkwürdiger Satz, denkt man an das
Glück, das einem die Lektüre von Borges
OEuvre bereitet.
"CRISTINA NORD
Jorge Luis Borges: "Das Handwerk des
Dichters". Aus dem Spanischen von Gisbert
Haefs. Hanser Verlag, München, Wien 2002, 108
S., 12,90 €