Einige überdurchschnittlich positiv bewertete
Assoziationen zu »Urteil«
sumpi schrieb am 7.2. 2005 um 11:06:01 Uhr zu
Bewertung: 1 Punkt(e)
"Die Anmessung des Urteils
Viele jubeln über Erfahrungen. Manche verzichten. Manche würden gern verzichten, aber sie machen trotzdem ihre Erfahrungen. Alle erschrecken. Manche erschrecken mehr als andre, oft vor etwas, das sie im Grunde verzärtelt, sie erschrecken nicht nur vor ihren, sondern vor allen Erfahrungen. Die meisten sehnen sich nach dem, was alle ersehnen, etliche achten das, was andre außer acht lassen. Dieser hier legt sich hin, der dort steht auf. Viele gehen. Sie gehen hinaus und kommen nicht mehr herein zu uns. Sie wollen zwar gern dabeisein und sich, schon ermüdet vor lauter Selbstkontrolle, einmal von andren kontrollieren lassen und nicht nur Reisepaß und Wagenpapiere. Sie wollen sich aus der Hand geben, notfalls in die Hand von anderen, und wenn sie sich hergeben, dann merken sie erst, daß sie je schon in der Hand von anderen waren, die sie nicht benennen können. Sie können ihr Haustier beim Namen benennen, das Denken, das neben ihnen herläuft, egal, wo man seiner Wege geht. Man ruft das Denken beim Namen, und es gehorcht oder nicht. Wo das Äußerste beginnt, in das man sein Denken äußerln führt, bleibt es mit seinen Ausscheidungen nicht in seinem Bereich. Sogar dort will es über sich hinaus, aber es kommt doch immer (weiß der Denker sich in der Umwelt auch nur halbwegs zu orientieren) in einen unbeschrifteten Plastikbeutel und dann in den Müll. Dieses Paket ist weg von der Straße, aber immer noch da. Die anderen, die ganz anders denken, egal wie anders sie sein mögen und wie anders ihr Denken ausfällt, sogar ausfällig wird, werden sich und ihrer Natur immer fremder, und sie werden immer mißtrauischer dort, wo sie aufhören und Nachbarschaft anfängt, die man mit Denken ja stört. Die Natur versucht behutsam, sich mit ihnen anzufreunden, doch diejenigen, die mit Denken stören, bleiben trotzdem in ihrer eigenen Natur stecken. Da kommen sie nicht mehr raus. Sie erkennen nichts. Sie sehen den Mistkübel nicht, in dem sie sich und ihr geäußertes Denken ent-sorgen müßten, folgten sie der festgeschriebenen Vorschrift..."
Elfriede Jelinek: Dankesrede zum Prager Franz-Kafka-Literaturpreis 2004.
Kandarus schrieb am 9.2. 2014 um 11:42:24 Uhr zu
Bewertung: 2 Punkt(e)
Es gab keinen Zweifel, wie der Prozess ausgehen würde. Für Widerstandskämpfer gab es keine Gnade.
Wärter hatten ihm geraten, sich während der kurzen und seltenen Besuchszeit von den Eltern eine Turn- oder Badehose mitbringen zu lassen. So saß er jetzt im Gefängniswagen, anstelle der Unterhose trug er unter der Prozesskleidung einen schwarzen Badeslip. Im Falle eines Todesurteils würde er nicht mehr ins Gefängnis zurückgebracht, sondern direkt zur Hinrichtungsstätte gefahren. Die Badehose würde ihm wenigstens ersparen, den letzten Gang in Unterhose anzutreten.
Die Hinrichtungen fanden öffentlich statt – in einer Diktatur ein beliebtes Spektakel. Die Verurteilten wurden bis auf Slip oder Shorts entkleidet und gehängt. Widerstandskämpfern war ein soldatischer Tod durch Erschießen versagt. Die Entkleidung sollte die Verurteilten zusätzlich entwürdigen. Die Zuschauer sahen die spastischen Zuckungen der nackten Körper, wie der Speichel aus dem Mund lief, während Urin auf den Boden plätscherte und sich die Hose mit dem Inhalt des Darms füllte. Besonders die Exekutionen weiblicher Delinquenten, meist jüngerer Widerstandskämpferinnen, waren beliebt, weniger wegen des Todesvorgangs, sondern wegen der getragenen Bikinis, Badeanzüge oder knappen Shorts.
Jetzt wurde er in den Gerichtssaal geführt. Der Staatsanwalt höhnte im Vorbeigehen: „Ihre Hinrichtung wurde bereits angekündigt. Um 14:00 Uhr wird bereits das Höschen voll!“
Er kam sich komisch vor, mit der Badehose als Unterhose in einem Gerichtssaal zu stehen. Die an der Seite aus dem Hosenbund herausschauenden weißen Streifen erinnerten an das Schulschwimmen, bei dem die pubertierenden Klassenkameraden mit der Badehose unter der Hose kamen, um sich nicht nackt ausziehen zu müssen.
Der Prozess ließe wenig Zweifel an dem zu erwartenden Urteil. Er blieb standhaft, gab nichts zu, legte die Sicht der Freiheitskämpfer dar. Dann musste er aufstehen.
„Der Angeklagte ist wegen Hochverrats und Sabotage ehrlos geworden. Er soll bis auf den Schambereich entkleidet am Strang aus dem Leben befördert und im beschmutzten Höschen an einem nicht bekannt zu gebenden Ort begraben werden. Abführen !“
In der Zelle im Gerichtsgebäude musste er sich bis auf das ebenfalls schwarze T-Shirt, Slip und Schuhe ausziehen. Er erhielt eine rote Armeesporthose zum Überziehen für die Fahrt zur Richtstätte. So saß er jetzt in der Zelle und wartete auf den Priester. Er versuchte, Blase und Darm weitgehend auf der Toilette zu entleeren, um nicht vor den Zuschauern in den Slip zu machen.
Dann kam das Ende. Der Gefängniswagen hielt am Fuße des Galgens. Wie immer waren viele Zuschauer gekommen. Nach dem Aussteigen zogen Wärter die Shorts herunter und führten ihn die Treppe zur Galgenplattform hinauf. Nachdem er sich die Hose noch einmal fest zugebunden hatte – es hatte schon Fälle gegeben, in denen die Hose im Todeskampf aufgrund der Kotfüllung heruntergerutscht war- wurde ihm das T-Shirt über den Kopf gezogen, die Hände wurden auf dem Rücken gefesselt.
Seine letzten Worte sprach er im Slip mit weißen Socken und Turnschuhen, ein eigenartiger Anblick.
Schuhe und Socken wurden abgestreift, die Augenbinde angelegt. Man drängte ihn über die Falltür, legte die Schlinge um seinen Hals. Dumpf klackend öffnete sich die Klappe, der Strang ruckte an und spannte sich. Sein Körper baumelte und zuckte. Dann füllte sich der Slip doch. Urin floss die Beine herunter. Der Unrechtsstaat hatte gewonnen. Vorerst.
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