Lektorat
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Abschied von den Stätten des Grübelns?
Die Mentalität des Ex-und-hopp, die sich seit den sechziger Jahren ausbreitete, ist keineswegs überwunden, sondern hat in Bereichen Fuß gefaßt, wo sie kaum mehr wegzubekommen ist. Auch wenn man heute zu manchen alten Sachen zurückkehrt — sei es aus Einsicht oder aus Nostalgie — , wir leben in einer rasanten Zeit, in der alles immer weiter beschleunigt wird, um existent zu bleiben. Eine genaue, bädächtige Prüfung dessen, was getan wird, findet nicht mehr statt. Man muß nur irgendeine Tageszeitung aufschlagen, um des Zusammenhangs zwischen dem gesteigerten Tempo der Informationsgesellschaft und dem Niedergang redaktioneller Kultur gewahr zu werden. Stellvertretend sei eine Überschrift zitiert, die als momentaner guter Durchschnitt angesehen werden kann: „Die Entdeckung des Kaffee“ — in den meisten Publikationen achtet man nicht mehr darauf, ob die Rechtschreibung stimmt.
Der Grund kann zumindest bei den Tageszeitungen in den immer weiter verkürzten Produktionszyklen zwischen Niederschrift der Texte und Auslieferung der fertigen Zeitung sehen. In den Werbefilmen, die im Kino die Aktualität, Rasanz und Kompetenz der großen österreichischen Tageszeitungen darstellen sollen, werden denn auch nur hochtourige Rotationsdruckmaschinen gezeigt, nie jedoch ein Lektor. Allein schon aufgrund der herrschenden Eile auf der Jagd nach Aktualität können die Verlage es sich nicht mehr leisten, einen Text einem Korrekturdurchlauf zu unterziehen: Alles würde verzögert, und schon jetzt ist die Zeitplanung wegen des Vorsprungs neuer Medien wie Radio und Fernsehen äußerst knapp. Hinzu kommt, daß durch diese Nachbearbeitung Kosten verursacht werden, die man heute lieber in eine geschickte Marketingstrategie investiert. Bereits ein gutes Jahrzehnt liegt es zurück, daß man bei manchen überregionalen Tageszeitungen den Posten des Lektors einfach strich, und zwar fast ausschließlich aus Kostengründen.
Obwohl seither die Redakteure die Texte ihrer Kollegen gegenlesen, wie sich ja auch die Friseure gegenseitig die Haare schneiden, wurde das Quantum an Fehlern größer. Es ist kein Qualitätskriterium eines Redaktionsaspiranten, die Rechtschreibung zu beherrschen, sondern es wird von ihm erwartet, solide Allgemeinbildung und gewisse Kenntnisse des Tagesgeschehens mitzubringen. Die logische Folge wäre, daß heutige Zeitungsberichte bei manchem Fehler doch inhaltlich exzellent sein müßten — was jedoch ebenfalls selten geworden ist. Ausgeklügelte Werbesprüche, die sich heute für jede ambitionierte Zeitung stark machen („Die neue Qualität des Lesens“, „Die Zeitung für Leser“, „Die bessere Zeitung“), sind oft nur noch der marktstrategische Putz, unter dem die Fehler, Stilblüten und Unordentlichkeiten nur so wuchern. Aber davon abgesehen: Es herrscht bei Zeitungen die Auffassung, daß man so einen kleinen Fehler nicht überbewerten darf, weil er sich ja nur während eines Tages zeigt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Wenn in der Zeitung jeden Tag aufs neue eine niedrige grammatische Kultur gepflegt wird, so wird der Leser doch permanent mit Fehlern konfrontiert, die letztlich auch auf sein eigenes Sprachgefühl wirken. Die Folge: Fehler in Tageszeitungen fallen den meisten Menschen überhaupt nicht mehr auf.
Seit man mit der Vervielfältigung von Texten anfing, gab es immer jemanden, der in irgendeiner Weise auf die Richtigkeit des Textes achtete. Schon im dreizehnten Jahrhundert schrieb Richard de Bury in seinem Philobiblon: „Indem die Schüler in einem ständig erneuerten Ofen die Lehren ihrer Lehrmeister einschmelzen, lösen sie die zuvor vernachlässigten Schlacken auf, bis sie das reinere Gold frei von Erde und aller falschen und zweifelhaften Zutat befreit haben.“ Dies ist die bildhafteste Formel für wissenschaftliche Rezeption und zugleich ein Bekenntnis zur Arbeit am Text. In mittelalterlichen Klosterschreibereien wurden Bücher zur Abschrift noch vorgelesen, was nicht nur durch undeutliche Aussprache oder schlechtes Gehör eine Fehlerquelle war, sondern auch durch das versehentliche Überblättern einer Doppelseite; während die humanistischen Büchersammler nicht lange danach sehr genau auf Vorlagentreue und korrekte Wiedergabe der Texte achteten. Wie ernst man es seinerzeit damit nahm, zeigen die langen, um den eigentlichen Text herumgeschriebenen Kommentare in alten Manuskripten.
Durch die Errungenschaft des Buchdrucks begriff sich der Lektor aus der Notwendigkeit heraus, daß ein Text, der in einer Auflage von fünfhundert bis zweitausend Exemplaren verbreitet wurde, möglichst einwandfrei sein sollte. In einem Lehrbuch des Buchdrucks und der Schriftgießerei aus dem achtzehnten Jahrhundert findet sich deshalb auch folgender Anhang: „Der bey Buchdruckerey wohl unterwiesene Corrector, oder: Kurtzer Unterricht für diejenigen, die Wercke, so gedruckt werden, corrigiren wollen, wie auch eine nützliche und nothwendige Erinnerung für diejenigen, welche ihre Schrifften oder verfertigte Wercke ausgehen lassen.“ In diesem ersten Fachbuch für Lektoren heißt es unter anderem: „Jedoch solt du heutiges Tages wohl wenig finden, die diese von Gott verliehene Wohlthat recht erkennen, sonderlich unter denjenigen, welche damit täglich umzugehen pflegen, nemlich die Buchdrucker selbsten, deren etlichen besser anstünde, wenn sie Schuster und Schneider worden wären, als daß sie einer solchen edlen Kunst obliegen: Die nur Gewinsts halben alles thun, und dasjenige, so ihnen zu drucken gegeben wird, offt ärger ausgehen lassen, mit so stumpffen und abgenützten Schrifften, daß derselben geringe rudimenta und Abbildung auf dem halb faulen, und der schwartzen Erde gleichenden Papir, auch der allerscharffsichtigste kaum erkennen kan. Und dieses könnte noch bisweilen verschluckt, oder doch zurück geworffen und vergessen werden, wenn sie nur nicht über diß mit so vielfältigen schändlichen mendis und Erraten die Materien und Werck befleckten, daß man auch kein einiges blat von solchen kan frey und ledig finden…“ Mittlerweile ist der einem Buch beigelegte Errata- oder Corrigenda-Zettel nicht mehr ein Mängelindiz, sondern zum echten Qualitätskriterium sorgfältiger Verlagsarbeit geworden.
Aus der Notwendigkeit, fehlerfreie Bücher herzustellen, entstand der Beruf des Lektors, und diese Bezeichnung tauchte zunächst im fünfzehnten Jahrhundert mit der Bedeutung eines akademischen Lehrers auf. Nach gängiger Definition ist ein Lektor ein wissenschaftlicher Verlagsmitarbeiter und kontrolliert Aufbau, Qualität, Inhalt und Stil einer Publikation. Er überprüft das Werk auf mögliche inhaltliche Fehler und begutachtet das Inhaltsverzeichnis, die Urheberrechtsvermerke und das Impressum. Darüber hinaus befaßt er sich mit der Kalkulation eines Projektes und mit der Planung geeigneter Werbemaßnahmen. Das sind Tätigkeitsfelder, die keineswegs unzeitgemäß oder leichtfertig einzusparen sind. Den neuen Aufgaben entspricht es, wenn manche Verlage ihre Lektorate in Planungsabteilungen umbenannt haben, denn an diesem Punkt müssen die verschiedenen Interessen im Verlag koordiniert werden: Der Autor erwartet vom Verlag ein schön gebundenes Buch, am besten ohne Druckkostenzuschuß; der Hersteller konfrontiert den Lektor mit der Undurchführbarkeit der Vorstellungen des Autors; die Marketingstrategen aus der Verlagsleitung erwarten sich eine Verbesserung der Marktposition durch neue Programmschwerpunkte. Hinzu kommen noch eine Zusammenarbeit mit der Pressestelle und die Beobachtung anderer Verlagsprogramme.
Aus dem am Bleistift nagenden Grübler, der nur für die Erschaffung eines neuen Standardwerkes lebte, wurde ein Universaltalent, das nicht nur den Autor begleitet und fördert, sondern auch dem Verlag Profil und Identität gibt und dabei die Kunst des Machbaren beherrscht. Einerseits ist also der hochkarätige Germanist nicht mehr gefragt, andererseits setzen sich junge, elastische Allrounder, die über ökonomische Kenntnisse verfügen, immer mehr durch. Bei wissenschaftlichen Publikationen, einer einstigen Domäne des Lektorats, werden eingreifende Dienste sogar von den Initiatoren des jeweiligen Buchprojektes nicht mehr gewünscht. Hier übernimmt ein Assistent des jeweiligen Gelehrten die Durchsicht oder in aller Regel sogar die Abfassung des Manuskripts. In einem kleinen geisteswissenschaftlichen Verlag, der in Wien ansässig ist und trotz der Inanspruchnahme hoher Subventionen die Geschäftsjahre konstant mit 800.000 öS Verlust abschließt, kann indessen auch gar keine lektorierende Betreuung geboten werden, weil die meisten Mitarbeiter Studenten sind. in den Verlagen Lektoren am Werk sind, aber dennoch Fehler in den fertigen Büchern stecken, kann das daran liegen, daß man im Lektorat systematisch Stellen abbaut, Korrekturarbeiten auslagert oder vernachlässigt oder sogar die Autoren allein über die Rechtschreibung verfügen läßt. War früher die Qualität der Verlagserzeugnisse entscheidend, so geht es heute hauptsächlich um die schnelle Reaktion auf gewandelte Marktsituationen — und genau das sieht man den meisten Büchern an.
In Weitra betreibt Richard Pils einen ambitionierten Kleinverlag mit dem Namen „Bibliothek der Provinz“. Dieses Unternehmen wird zwar als Kleinverlag bezeichnet, aber es ist eigentlich gar kein Verlag, wenn man zumindest den anspruchsvollen Maßstab anlegt, den sein Inhaber postuliert. Zu einem Verlag gehören nach seiner Ansicht ein Name, ein Programm, eine gewisse Verantwortung und insbesondere ein Lektorat. An letzterem aber haben mittlerweile fast alle „Verlage“ Österreichs den Rotstift angesetzt, und das trotz staatlicher Förderungen, die eine Beibehaltung dieser Instanz durchaus ermöglichen. Die eigentliche Bedeutung des Lektorats sieht Pils nicht im Korrigieren oder in der Schriftauswahl, sondern zunächst in der Betreuung der Autoren, in der Unterstützung bei der schwierigen Aufgabe, Profil zu gewinnen. Statt in den Genuß dieses Coachings zu kommen, sind Autoren in Österreich in der Regel auf sich gestellt. Die pessimistische Bilanz: Es gibt keine klassischen Verlage mehr. Dieser hohe Anspruch verrät, daß Pils sich über seine Arbeiten Gedanken macht. Der Verleger ist für ihn nicht einfach nur der Inhaber einer Firma, die in irgendeiner Weise Bücher produziert, sondern ein Förderer geistiger Welten, ein Kristallisationspunkt für Ideen. Das Engagement, welches Verlegern und Katalysatoren noch vor dem Zweiten Weltkrieg zueigen war, ist heute längst nicht mehr üblich — nur noch wenige Verlage erschaffen Bücher, die auf Jahrzehnte bedeutsam sein werden. Man muß hingegen nicht lange suchen, um unter den Büchern vergangener Zeiten Großleistungen des Lektorats zu finden: Die volkskundlichen Klassiker der Brüder Grimm, der „Deutsche Liederhort“ von Ludwig Erk und Franz M. Böhme oder auch die alten kritischen Ausgaben antiker Klassiker sind gute Beispiele dafür, daß man mit umsichtiger Arbeit zum guten Erzeugnis gelangen kann. Heute gehört beispielsweise das „Gutenberg-Jahrbuch“ zu den wenigen vorbildlichen Lektoratsbeispielen, schöpft jedoch aus Gestaltungsprinzipien, die vor über siebzig Jahren entwickelt wurden und seither dieses Jahrbuch prägen.
Wenn bei den Zeitungen ein Wertewandel von der Qualität hin zum marktwirtschaftlichen Erfolg in einer schnellebigen Welt spürbar ist, so kann man darin eine Parallele zu der Buchproduktion sehen; andererseits ist eine Tageszeitung prinzipiell vom Mangel äußerer Qualität geschlagen, während ein Buch langsamer entstehen und daher besser sein kann. Eine Zeitung erscheint auf dem denkbar schlechtesten Papier, wurde durch Epochen hindurch mit Bleiformen gedruckt, die im Matritzenguß hergestellt und schon deshalb minderwertig waren, und ist in vielen Gegenden noch heute dafür vorgesehen, nach beendeter Lektüre Gurken, Fisch oder anderes aufzunehmen. Der Zeitung wurde niemals der Wert beigemessen, den sie für die Dokumentation des Tagesgeschehens eigentlich hat, und darin liegt der Grund dafür, daß man sich mit weiteren qualitativen Abstrichen sehr leicht tut. In einer in Wien erscheinenden überregionalen Tageszeitung gibt es immerhin noch ein Lektorat, doch besteht es aus zwei Lektoren und einer Studentin, in Hinblick auf den ständig steigenden Umfang dieser Zeitung schon jetzt eine regelrechte Unterbesetzung; denn wenn einer ausfällt, beschränkt sich der andere nur noch auf das Lesen von Überschriften und Bildlegenden. Die Beilage, mithin das sammelnswerte Filetstück einer Zeitung, wird aufgrund dieser Überforderung überhaupt nicht betreut. Wenn die beiden Lektoren in Kürze das Pensionsalter erreichen, werden ihre Stellen allem Anschein nach eingespart. Eine andere große Tageszeitung, die ebenfalls in Wien erscheint, hat bereits seit zehn Jahren keine Lektoren mehr und tröstet sich damit, daß es ja eigentlich ein Ansporn für die Redakteure sein könnte, sich nicht auf eine prüfende Instanz verlassen zu können. Dort liest man dann eben gegenseitig. Als wichtige Ursache für den Niedergang des Lektorats werden auch die gewandelten Produktionsabläufe verantwortlich gemacht. Aktuelle Berichte haben Vorrang, dadurch bleiben auch Kommentare und Hintergrundberichte länger liegen, bevor sie von irgendwem durchgesehen werden. Die Folge ist, daß — wenn es überhaupt noch einen Lektoren gibt — alles im letzten Moment über ihn hereinbricht und er für das Lesen einer voluminösen Freitagszeitung nur noch zwei Stunden Zeit hat.
Abgesehen davon verläßt man sich mittlerweile weitgehend auf die automatischen Rechtschreibprüfungsprogramme der Computer. So gut und bequem das auch seim mag, es verleitet zum Abschied von der eigenen Qualität. Eine automatische Rechtschreibprüfung würde nur dann zu besseren Redakteuren führen, wenn alle Fehler ersatzlos aus dem Text gelöscht würden — das hätte Lerneffekt. Bis dahin wird man sich damit trösten müssen, daß Qualität eben auch nicht alles ist und man ja einen fehlerhaften Text auch als Prüfung der eigenen Kenntnisse verstehen kann. Wenn es sich aus dem Abschied vom Lektorat wirklich ergeben sollte, daß Redakteure zukünftig mehr Wert auf gute und fehlerfreie Texte legen, wäre das ein schöner Ausblick in die Zukunft. Dem heutigen Zeitgeist entsprechend, kommt es darauf jedoch nicht mehr an. Jemand recherchiert, setzt sich an einen Computer und schrebt seinen Text, der dann in der Regel in dieser Form zum Abdruck gelangt. Eine gewissenhafte und gründliche Prüfung, ein Nachschlagen in Zweifelsfällen oder überhaupt die eigene Befähigung zum fehlerfreien Schreiben sind als Reste einer journalistischen Auffassung, die heute nicht mehr zweckmäßig ist, zu den Akten zu legen.