Augenblick
Bewertung: 5 Punkt(e)
Geschichte vom kleinen Gedicht, das ein großer Roman sein wollte
Das kleine Gedicht war unzufrieden. Es war kaum eine Seite lang, und so sehr es sich auch dehnte, spreizte und mit seinen ausschweifenden Lettern klimperte, es gelang ihm nicht, ein zweites Blatt Papier für sich einzunehmen. Zu allem Übel bestand es nur aus solch federleichten Worten wie Wolke, Flieder, Orangenbaum und Sonnenschirm, unter denen das Papier sich angenehm räkelte. Und: es war von vorne bis hinten ausschließlich mit kleinen Buchstaben geschrieben! Neidisch betrachtete es die großen As und Os, die von den Schutzumschlägen dicker Bücher herunterlächelten. Obendrein klafften zwischen seinen Zeilen gewaltige Lücken, in denen sich die Bedeutungen der Worte verloren. Kurzum, die Situation war untragbar, und das kleine Gedicht überlegte, wie es zu einem stattlichen Roman heranwachsen könnte.
Zunächst - soviel war klar - mußte es tüchtig essen. Denn fette Speisen machen schwer und wichtig. Das kleine Gedicht stellte sich vor, wie man es dereinst in der Hand wiegen und anerkennend nicken würde, wenn es erst einmal genug gegessen hatte: oh, was für ein schweres Epos! Begierig schielte das kleine Gedicht zu dem Regal mit den russischen Romanen hin, allesamt in Leder gebunden, unter denen sich das Bücherregal verbog. Aber diese lagen zu weit weg, auch waren sie so kräftig, daß sie bestimmt nichts von sich preisgeben würden. Hm. Zur Not mußte eben herhalten, was in nächster Umgebung herumstand: Geschichte des Ackerbaus von 1845 bis 1878.
Das kleine Gedicht pirschte sich vorsichtig an die zweihundert dichtbedruckten Seiten heran. Diese waren gerade eingedöst, und bis sie durch das unangenehme Pieksen wach wurden, welches die spitzfindigen Zähnchen des kleinen Gedichts verursachten, hatten sie auch schon das Vorwort des Herausgebers und die Einleitung zum ersten Kapitel verloren. Die Geschichte des Ackerbaus von 1845 bis 1878 schüttelte sich ein paar Mal, wunderte sich eine Weile, wo denn ihr Anfang geblieben war, zuckte dann kurz mit dem Leineneinband und versank wieder in tiefem Schlaf.
Das kleine Gedicht war ganz aufgeregt über die vielen neuen Wörter und Zeichen, die es verschlungen hatte, vor allem über einige ausgesprochen hübsche Großbuchstaben (darunter sogar ein elegantes Q), und stolz betrachtete sich im Spiegel: ja, wirklich, es war schon ein wenig angewachsen; allerdings fehlte es doch noch sehr an Rückgrat und Spannkraft. So sehr es sich auch mühte, es sank vor dem Spiegel immer wieder in sich zusammen, so daß dieser leise zu kichern begann.
Das kleine Gedicht sah sich um. Es brauchte mehr Nahrung. Jetzt mußte es seinen Weg gehen, erbarmungslos und ohne Mitleid für die anderen Schriften! Auf dem Schreibtisch lag ein Comicheft. Brrr! Bilder! Nein, damit wollte es nichts zu tun haben. Eher schon die Tageszeitung, die aufgeblättert auf dem Fußboden lag; zwar waren die Artikel ohnehin nie sehr lebendig gewesen, aber als Ballaststoffe waren sie dennoch wunderbar geeignet. Das kleine Gedicht stürzte sich auf die großen Blätter und verleibte sie sich ohne den geringsten Widerstand ein. Dann wurde es gierig. Die Fernsehbedienung war immerhin mehrsprachig gehalten, das würde dem kleinen Gedicht internationales Flair verleihen. Nur rasch verschlingen, ehe sich die norwegischen oder die spanischen Seiten wehren könnten!
Ja, das kleine Gedicht konnte jetzt bereits aufrecht stehen. Es sah zwar etwas merkwürdig aus - holländische Worte und landwirtschaftliche Fachausdrücke fransten es an den Rändern aus -, aber es hatte nun schon mehr Gewicht als die Duineser Elegien von Rilke, die vor langer Zeit unter den Tisch gefallen waren und nun schon beinahe froh waren, daß das kleine Gedicht sich ihrer annahm. Es zerrte sie hervor, befreite sie vom Wohnzimmerstaub und fraß sie auf. O ihr sperrigen Sentenzen, welch ein Genuß ihr doch seid! Höchste Zeit wurde es nun freilich für etwas Prosa: auf dem Sesselrand balancierte Omas Groschenroman, leicht verdaulich und reichlich mit Tuwörtern versehen; nicht lange überlegen, sondern rasch hineinstopfen!
Das kleine Gedicht fühlte sich nach dieser Tat stark genug, die Bibliothek deutscher Klassiker anzugreifen. Schließlich war diese schon reichlich alt, und diverse Prothesen hatten damit begonnen, ihre lebendigen Organe zu ersetzen: der Zauberberg beispielsweise war ohnehin schon immer etwas schwindsüchtig gewesen, aber das kleine Gedicht befürchtete, dieser könne es mit seltenen Krankheiten anstecken, und so warf es sich lieber auf Effie Briest; um so mehr erschrak es, als diese sich heftig wehrte und ihrerseits begann, das kleine Gedicht anzugreifen: einige Sätze des Groschenromans gingen so auf Effie Briest über, und das kleine Gedicht verzog sich ängstlich unter dem Wohnzimmersessel.
Es überlegte hin und her, und schließlich faßte es einen Entschluß: es mußte raffinierter handeln, sich erst einmal an den Kanon des Wissens heranarbeiten. Auf Zehenspitzen schlich es zu Meyers Enzyklopädie, strich liebevoll über die schwarzen Lederrücken, umgarnte es mit seiner ungestümen Jugend, machte ihm schöne Augen, bis sich das schwere Werk schließlich erhitzt hingab und genußvoll Seite für Seite seine Buchstaben an das kleine Gedicht übertrug. Nachdem es sich derart entleert hatte, stand es blind, stumm und taub im Regal, und kein kluger Gedanke blitzte je mehr über seine Goldrandseiten.
Das kleine Gedicht hingegen jubilierte. Nun hatte es sich das Rüstzeug angeeignet, das ein großer epochaler Roman benötigte: von A wie Aachen bis Z wie Zytologie trug es alles in sich, und das bißchen, was es jetzt noch benötigte, war etwas Spannung und Sentiment. Wie der Zufall es wollte, lag auf dem Regal das Drehbuch einer hundertteiligen Fernsehserie, das nun vom kleinen Gedicht geräuschvoll in appetitliche Häppchen zerkleinert und sodann schmatzend aufgegessen wurde.
Nach diesem Husarenstück konnten ihm auch die großen russischen Romane keinen Widerstand mehr leisten. Das kleine Gedicht fraß alles, was es nur fressen konnte, einzig der Zauberberg blieb verschont, vor allem, weil dieser sich allmählich gallig grün zu verfärben begann, wohl das Endstadium einer literarischen Krankheit.
Das kleine Gedicht aber wurde groß und stark wie kein anderes Buch. -
Plötzlich wurde die Türe geöffnet. Der Poet trat herein, gekleidet in einen Morgenmantel aus roten Samt, in der Hand einen halb gegessenen Apfel. Er blieb erschrocken auf der Schwelle stehen. Der Apfel fiel zu Boden. Dann stürzte sich das riesenhafte Gedicht auf ihn und verzehrte ihn mit Haut und Haaren, wobei es sich tatsächlich leicht verwegen vorkam. Nach getaner Arbeit rieb es sich den Pansen. Endlich war es satt. Wolke, Flieder, Orangenbaum und Sonnenschirm waren geplättet. Ihm summte der Kopf. Ja, es lebte nun wahrhaftig, das Gedicht, aber was sollte es jetzt nur tun?
Nach einigen Tagen der Ratlosigkeit verließ es reumütig die Wohnung des Poeten und lieferte sich der Nationalbibliothek aus. Dort wurde es indiziert und katalogisiert und schlußendlich in ein finsteres Kellerverlies gesperrt, wo es noch oft daran dachte, wie fein ziseliert es einmal gewesen war, als kleines Gedicht aus federleichten Worten und liebevoll geschwungenen Kleinbuchstaben.