unentschlossenheit
Bewertung: 2 Punkt(e)Ich würde mir nur selbst schmeicheln, wollte ich glauben, meine zögernde Haltung zum Schicksal und Ansehen der Hühner sei Unentschlossenheit. In Wirklichkeit handelt es sich um eine gemeine träge Gleichgültigkeit, und es wäre empörend zu denken, es ginge ja schließlich nur um Hühner. Dennoch kann ich das kalt-warme Buffet aus Worten, mit denen Goethe dem Huhn ein episches Denkmal gesetzt hat und damit über das Desinteresse am Huhn hinausgewachsen ist, nur verabscheuen und dem Huhn wieder eine friedliche Versenkung im Niemandsland außerhalb der Literatur wünschen. Da schrieb er nämlich folgendes von einer Frau, die nach dem Brand ihres Dorfes ihr Haus zu sehen wünscht: »Es trieb mich, die Stätte zu sehen, wo die Wohnung gestanden, und ob sich die Hühner gerettet, die ich besonders geliebt; denn kindisch war mein Gemüt noch.« Der letzte Satz, der auch noch als Begründung, man muss fast sagen, als Entschuldigung für die Liebe zum Huhne herhält, ist allerdings skandalös, auch dann noch, wenn »kindisch« im Weimar des 18. Jahrhunderts im Sinne von »kindlich« zu verstehen gewesen wäre. Denn im einen Fall wäre die Huhnesliebe ein Zeichen von beschränkter Idiotie, im anderen Fall von jugendlicher Unreife, als ob sich nur Idioten und Kinder um jämmerlich in Not geratene und von der Verbrennung bedrohte Hühner sorgen würden. Es ist möglich, dass es sich bei dieser poetischen Geringschätzung des Huhns weder um dichterische Eitelkeit noch um die Arroganz der Vernunft gegen den scheinbar aus Dümmlichkeit bescheidenen Körnerpicker handelt, sondern um die differenzierte Nüchternheit, welche die unterschiedlichen Gewichte von menschlichem und hühnlichem Gehirn abzuschätzen und zu bewerten weiß. Zu ahnen ist aber auch, dass diese Bewertung eine menschlich zwanghafte ist, welche die Lächerlichkeit vermeiden will, die sie in der entschlossenen und ungebrochenen Liebe zum Huhn fürchtet. Das alles ist ebenso verwerflich wie die Tatsache, dass ich nicht eine Minute meines Lebens mit Transparenten für die Freiheit und das Huhnesrecht der Hühner mir in den Fussgängerzonen der Städte die Kehle aus dem Hals geschrien habe, ein Kampf, in dem es nicht nur gegen die hühnische Misshandlung durch die Industrialisierung des Eierlegens geht, sondern um die Würde des Huhns als ein Gedanke und eine Leidenschaft, die jeder zu begreifen aufgefordert werden muss. Gerade jetzt wäre die richtige Zeit, für das Huhn zu fechten, mitten in den Friedensdemonstrationen die ungleiche Unterdrückung des Huhns durch den Menschen anzuprangern und allen möglichen Beschimpfungen standzuhalten, wie jemand nur um das Huhn sich kümmern könne, wo anderswo noch der Mensch bedroht sei. Aber eben die Gleichgültigkeit und bestenfalls Unentschlossenheit lässt mich nicht handeln, der Zweifel einerseits, ob nicht zwischen Mensch und Huhn doch ein wesentlicher Unterschied bestehen könnte, den ich übersehen haben und den alle so deutlich zu sehen glauben, und andererseits, ob es nicht der eigentliche Gipfel der Schande und Lächerlichkeit ist, dem Huhn das Ei zu stehlen und es auch noch anzumalen, bevor man es verschlingt.