Siemens
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Rudolph von Siemens hatte von der ewigen Büroarbeit schon 1965 die Nase voll - acht Telefone auf dem Schreibtisch, ständig labberiger Kaffee, Zwölfstundentage und fett machende Geschäftsessen - und da er genug Geld hatte, veschwand er Richtung Südwesten ein paar zehntausend Kilometer an das Ufer des río Carrao, oberhalb der Wasserfälle des Salto Hacha an der laguna de Canaima in der Gran Sabana, dem von Tafelbergen, verrückten Gold- und Diamantwäschern, eisen- und huminsäurehaltigen klaren braunen Flüssen und viel unberührter Natur gekennzeichneten Südwesten Venezuelas. Hier, in der Nähe des 1800 m hohen Auyan Tepui mit seinem fast 1000 m senkrecht über den Salto Angel zu Tal stürzenden río Churúm, war er endlich so richtig alleine. Er bastelt sich eine primitive, aber gemütliche Behausung, freundete sich mit den indios der Nachbarschaft an und unternahm ausgedehnte Streifzüge über das Flußsystem und auf den Auyan Tepui, in denen er sich bald auskannte wie kein Zweiter. In der Lagune unterhalb des Salto Hacha konnte er schwimmen, an manchen Abschnitten des Ufers der ríos Carrao und Caroni konnte er aus Jux Diamanten waschen, ernähren konnte er sich von Erjagtem und Gesammeltem.
Es begab sich aber, dass mit dem venezolanischen Erdöl-Boom und der Entdeckung des schönen Südens ihres Landes die Venezolaner sowie eine Menge Expatriates der Ölindustrie, die in Caracas residierten, Lust bekamen mal was Anderes zu tun als jeden Samstag an die übervölkerten Strände zwischen Catía la mar und Los Caracas zu fahren oder ihre Zeit in den überteuerten »clubes« zu verbringen. So eröffnete die nationale Fluglinie Avensa ein kleines Camp mit ein paar Blockhütten, einem Restaurant und einer staubigen Landepiste mitten in der Gran Sabana, direkt neben der Laguna de Canaima. Die Leute kamen in kleinen Scharen, machten Bootstouren mit einheimischen »guías«, begeisterten sich an dem in Caracas völlig unbekannten klaren Wasser und der fast unberührten Natur der Galeriewälder; einige zahlten und genossen Flüge und anstrengende Touren zum Salto Angel - und passierten jedes Mal die Bude von Rudolph von Siemens, inzwischen bekannt als »Dschungel-Rudi«.
Eines Tages kam ein Trupp sonnenbebrillter Wochenend-Abenteurer zu seiner Hütte hinaufgelaufen. Mit einer gewissen Ehrfurcht musterten sie den sehnigen, schon grauhaarigen Waldläufer, der sich geschmeichelt und geneigt zeigte, dem Ansinnen seiner Besucher zu entsprechen und mit ihnen eine einfache Tour Richtung Auyan Tepui zu gehen. Was sie restlos begeisterte und sich in Windeseile bei Reisenden, Avensa-Managern und aficionados in Caracas herumsprach. Schnell hatte man Rudi, der stolz darauf war, »sein« Land anderen Begeisterten zu zeigen, die Erlaubnis abgerungen, ein kleines festes Langhaus für Tourteilnehmer neben seiner Bude zu errichten. Nicht lange danach wurde das Touri-Führen zum Zeitfüller, es wurden weitere guías angestellt, es entstand ein Reiseunternehmen...
... und bald darauf saß Rudi in einem Hochhaus in Caracas auf einem Ledersessel, hatte vor sich eine blankpolierte, zwei Quadratmeter große Mahagoni-Platte mit acht Telefonen darauf und trank schalen Instant-Kaffee, der sich - seltsam aber wahr - auch im Anbauland Venezuela in den Büros mit aire acondicionado nicht lange frisch halten ließ.