Nagetier
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Ich hatte es mir in meinem Sessel gemütlich gemacht und schaltete gerade das Rasterelektronenmikroskop, das ich mir von meinem Bruder übers Wochenende geliehen hatte, an, als ich durch das Klingeln meines Telefons unterbrochen wurde. Am Apparat war Hannes. Ich legte gleich wieder auf. Dieser Nervbolzen tyrannisierte mich schon den ganzen Tag. Soll er doch seine Nagetierzeitschrift alleine verkaufen! Ich machte mich daran, erneut mein Lieblingsmolekül, das ich zärtlich „Doris“ nannte – es war eine entzückende ionisierte gelbe Schwefelwasserstoffverbindung - unter das Mikroskop zu legen. Ich hatte eine Vision: Wenn alle Menschen auf der Welt nur für einen Tag so um die Mittagszeit herum und jeder für sich alleine ohne groß nachzudenken und ganz spontan mit den Füßen... , doch da wurde ich unterbrochen. Die Türglocke schellte. Es war Hannes. Er hatte seine ausklappbare Taschenratte dabei und hielt sie mir anklagend unter die Nase. „Siehst Du, was Du angerichtet hast? Sie ist seit zwei Stunden im Hungerstreik und ihr Zahnfleisch ist ganz porös! Du kommst besser sofort mit nach Wiesbaden auf den Kongreß. Jede Stimme zählt!“
Hannes hatte es doch tatsächlich geschafft, mich auf die vage Zusage festzunageln, die ich ihm neulich gegeben hatte. Da saß ich nun also in Wiesbaden. Dabei hatte ich Nagetiere doch schon immer verabscheut. „...Punkt 27: Zuschüsse für Hamsterbackentaschen en gros und en détail. Wie die Zülpicher Delegation schon im Vorfeld schriftlich beantragte, hat es in diesem Punkt seit drei Jahren keine nennenswerte Stagnation gegeben. Das ist skandalös! Wir drängen darauf, daß es in dieser Frage ...“ so ging das jetzt seit vier Stunden. Außerdem mußte ich ständig darauf aufpassen, daß mir nicht eine der mitgebrachten Beutelratten den Velourstrenchcoat zernagte. Plötzlich sprengte ein zwanzigköpfiger mit Maschinengewehren, Panzerfäusten, Handgranaten, Sprengstoffgürteln, Hellebarden, Flugabwehrgeschützen, Mittelstreckenraketen, Wurfbeilen, Flammenwerfern, Armbrüsten, Vorderladern, Stalinorgeln, Morgensternen, Molotowcocktails, Katapulten, Schlachtschiffen, Belagerungstürmen, Rammböcken, Spähpanzern, Wasserwerfern, Krummsäbeln, Feldhaubitzen und Entermessern bewaffneter Trupp durch die Flügeltüren. Ihr offensichtlicher Anführer, ein über Meter großer vierschrötiger vollbärtiger rothaariger einbeiniger Geselle, der auf einem Auge leicht schielte und neben der großen Narbe zwei markante Warzen im Gesicht hatte ergriff mit leichtem italienischen Akzent das Wort: „Die erste internationale Nagetierbefreiungsfront, Brigade ‚Lütt Matten’(B) hat einen Verbesserungsvorschlag zu Punkt 14b). Statt ‚sollte den sich in Auflösung befindlichen Kaninchenbauten Steuererleichterung in vollem Umfang’ muß es heißen: ‚hat sich den in unrechtmäßiger Auflösung befindlichen Kaninchenbauten Steuerbefreiung in vollem Umfang’ und wir sind bereit, dies mit der Waffe zu verteidigen!“.
Da sprang der Vorsitzende von seinem Alpakafell auf und schrie: „Linksabweichler! Renegaten! Ich erteile Ihnen hiermit eine strenge Rüge und verfüge die sofortige Räumung des Saales, ansonsten ...“ Mehr konnte ich nicht verstehen, denn die Brigade „Lütt Matten“(B) eröffnete wortlos das Feuer. „Frauen und Nagetiere zuerst!“ schrie ich und kaperte einen der Spähpanzer, um damit über die Dachluke zu entkommen. Leider blieb ich im ersten Stock hängen, wo gerade eine Tagung der Deutschen Gesellschaft zur Legalisierung von Sachbeschädigung / Maniac Death Riders MC in vollem Gange war. Mein Auftritt schien die Veranstaltungsteilnehmer nicht weiter zu stören, nur der Redner blickte kurz auf und nickte mir zu „... ein weiteres vorbildliches Beispiel für den Anklang, auf den die Interessen unserer Gesellschaft auch in der Normalbevölkerung stoßen. Lassen Sie uns oder laßt mich Euch, meine Brüder und Schwestern, eine Schweigeminute zu Ehren der vielen tausend unterschwelligen Sympathisantinnen und Mitstreitern unserer Sache ...“. Standing Ovations und Ohrenbetäubender Beifall waren die Antwort. Doch mittlerweile hatte die Brigade „Lütt Matten“(B) bereits das Geschoß erreicht und verbrüderte sich unter Hochrufen mit den Anwesenden. Die Gründung eines gemeinsamen „Maniac Death Nagetierfront- Befreiungskommitees“(B) wurde beschlossen. Man beschloß ferner, das Kongreßzentrum in Schutt und Asche zu legen und dann den Abend gemütlich in der Kneipe „Zum durstigen Uwe“ ausklingen zu lassen . Da ich nichts weiter vorhatte, schloß ich mich an. Hannes hatte inzwischen eine charmante blonde Ägyptologin aus Dresden kennengelernt, mit der er den Rest seines Lebens zufrieden und glücklich verbrachte. Gemeinsam lernten sie die ägyptische Hieroglyphensprache, die sie bald fließend sprechen konnten, und ihren bald gezeugten zahllosen Kindern beibrachten, auf daß niemand verstand, was diese sagten.