Großmaul
Bewertung: 1 Punkt(e)»Im Frieden können schlimmere Dinge geschehen als in jedem Krieg.« Manfred war zu unsicher, um Clea dabei anzuschauen. »Wie platt, Manfred, das ist das Standardargument jedes Angriffskrieges«, erwiderte Clea kopfschüttelnd. »Ja, das ist es, aber es stimmt nicht immer, manchmal ist es purer Vorwand, dann ist der Krieg wirklich ein Verbrechen. Manchmal ist es aber wirklich ein Motiv«, flüsterte Manfred. »Was?« Clea sprach absichtlich sehr laut. »Das glaubst Du doch selbst nicht. Ein Großmaul hier, ein Großmaul dort, und dazwischen Worte von Befreiung, Menschenrechten und Erlösung von Terror. Wer es damit ernst meint, redet anders und hat Furcht vor den Opfern.« »Die Sprache ist nur ein Teil der Spielregeln. Mich ekelt auch davor, aber entscheidend ist, was am Ende rauskommt.« »Das ist zynisch, Manfred«, empörte sich Clea, »zunächst einmal kommen Tote dabei heraus.« »Und wenn keine Bomben fallen? Glaubst Du, es gäbe dann keine Toten? Das ist kurzsichtig, Clea. Nur weil die Journalisten ihre Kamera nicht mehr drauf halten, weil es in Folterkellern geschieht, weil die Leichen in unsichtbaren Massengräbern verschwinden? Unsichtbare Tote sind trotzdem Tote.« »Woher willst Du das alles wissen?«, entgegnete Clea, »wenn es so ist - und es mag tatsächlich so sein - müssten Beweise auf dem Tisch sein, Beweise, Manfred, die Gerechtigkeit ist eine Logik, die zwingende Prämissen braucht, um ihre Schlüsse ziehen zu dürfen. Und je radikaler der Schluss ist, desto eindeutiger und zweifelsfreier müssen die Voraussetzungen sein.« »Die Logik kostet zuviel Zeit, Zeit, die nur noch mehr Leben kostet«, sagte Manfred zögernd, »außerdem glaube ich, dass die Beweise reichen.« Clea schüttelte wieder heftig den Kopf. »An Beweise zu glauben, das ist ein Widerspruch in sich. Wärst Du wirklich überzeugt, müsstest Du nicht glauben, und niemand hätte es mehr nötig, als Großmaul aufzutreten, wenn er Beweise hätte.« Manfred verzog sein Gesicht. »Beweis, Widerspruch, Logik, Deine kalte Kasuistik nervt, Clea. Es geht um Menschenrechte, Willkür, Unterdrückung, Gewalt.« Clea lachte auf. »Puh, Manfred, Du könntest Regierungssprecher oder Informationsminister werden.« Manfred brauste plötzlich auf: »Sag doch gleich 'Propagandaminister'. Für wen hältst Du mich?« Manfred blickte zu Boden, aber wandte sich aufgebracht sofort wieder Clea zu. »Ich setze noch einen drauf, wenn Du willst: Gewalt ist zulässig, wenn sie hilft, einen höheren Wert zu erlangen.« Clea blickte Manfred ernst an und antwortete ruhig: »Und wer beurteilt, was ein höherer Wert ist? Meine 'kalten' Regeln des Rechts mögen bitter sein, aber sie sind notwendig, wenn es nicht untergehen soll.« »Jeder Wert ist höher, der Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung verhindert«, antwortete Manfred. »Und Du glaubst wirklich, das wären die Motive und das wird das Ergebnis sein?«, schaute ihn Clea fragend an. »Ich weiß nicht, ob es die Motive sind, das ist auch egal, aber es wird das Ergebnis sein.« Manfred stützte den Kopf in seine Hände und schaute wieder auf den Boden der U-Bahn. Leise murmelte er: »Ach, ich weiß auch nicht.« »Ich aber«, sagte Clea. Manfred blickte auf, schaute Clea ernst an und schwieg. Clea drehte sich weg und sah hinaus in das Dunkel des Tunnels. Sie legte ihr Kinn in die Hand und stützte nachdenklich den Ellenbogen auf die Fensterkante. Sie schwieg ebenfalls.