RADIO ALICE @ Zündfunk 14. Mai 2004 vom DesillusionismusKmbH
TIQQUN
Heute:
“Den Bloom haben” – oder: Tiqqun und die Theorie vom Bloom
»Hier stehen wir also, Waisenkinder alles Großen, einer Welt aus Eis ausgeliefert, an deren Horizont kein Signalfeuer aufleuchtet. Und die Alten versichern uns, unsere Fragen müßten ohne Antworten bleiben, um dann gleichwohl zuzugestehen: “Nie war die Nacht von undurchdringlicherem Dunkel für die Intelligenz.”
Karl Marx – tot. Guy Debord – tot. Gilles Deleuze – tot. Einsam und verlassen von den “großen Wachenden” sind wir in eine trostlose Gegenwart geworfen: Unsere Zeit, das ist das traurig Zeitalter der Frauenzeitschriften mit ihren hirnlosen Inhalten. Wir sind verdammt dazu banale Handytelefonate in der Öffentlichkeit zu bezeugen oder primitive Fernsehshows vorgesetzt zu bekommen. Und auf dem endlosen anonymen Bahnsteigen oder hypermodernen ICE-Abteilen packt uns plötzlich das blanke Entsetzen. Als Großstadtbewohner und Szenegänger versuchen wir uns über die Leere hinwegzutäuschen und in dieser kaputten Welt einzurichten. Cool!
Wer jedoch in der Provinz lebt und das alles nicht mehr erträgt, der schreitet zu surrealistischen Tat des Highschool-Massakers. Siehe Littleton. Tödliche Sinnlosigkeit, nicht mehr begangen von Menschen sondern von “Blooms”. Denn wir sind alle keine Menschen mehr. Wir sind “Blooms”. Das behauptet zumindest das Pariser Kollektiv Tiqqun in ihrem kleinen Bändchen radikaler Kritik. Tief hat Tiqqun in den Archiven des Geistes gewühlt. Aus Zitaten von Kafka bis Heraklit, von Guy Debord über Michel Foucault bis Giorgio Agamben haben sie ihre “Theorie vom Bloom” gezimmert:
»Bloom [blum], der, um 1914; unbekannter Herkunft, vielleicht vom russischen >Oblomov<, vom deutschen >Anna Blume< oder vom englischen >Ulysses<. –
1. Endzeitstimmung einer ans Sterbebett gefesselten Zivilisation, die sich von ihrem Untergang nur mehr abzulenken vermag, indem sie zwischen kurzen Phasen technophiler Hysterie und langen Abschnitten beschaulicher Kraftlosigkeit abwechselt. Es war, als lebte die blutleere Masse der Gehaltsempfänger im Bloom. 2. In übertragene Bedeutung: Unter den sonderbaren Menschen einer Welt autoritärer Warenwirtschaft weit verbreitet Lebens-Form des Dämmerns und der Beliebigkeit -> >bloomig, Bloomität, Bloomifizierung<«
Tiqqun, Klappentext der “Theorie vom Bloom”
Was uns Blooms heute dämmert angesichts von Starsearch und Max Mutzke beim Grande Prix , weiß die Literatur schon lange: Alles Spektakel und dahinter keine Welt. Denn wahre Literatur legt den Finger auf die Wunde. Niemand weiß besser als die Literatur: Dem Bloom ist spätestens seit dem 1. Weltkrieg die Wirklichkeit abhanden gekommen. Diese Welt ist nicht mehr unsere Welt:
»Er sah keine Zukunft mehr vor sich, und die Vergangenheit glich, wie sehr er sich auch bemühte, sie erklärlich zu finden, etwas Unverständlichem. Reisen und Wanderungen, ehemals geheimnisvolle Freuden, waren ihm seltsam zu wider geworden. Er hätte so gern ein Orgelmann oder ein Bettler oder ein Krüppel sein mögen, damit er Ursache hätte, um das Almosen der Menschen zu flehen, aber noch inbrünstiger wünschte er zu sterben. Er war nicht tot und doch tot, nicht bettelarm und doch solch ein Bettler, aber er bettelte nicht, er trug sich auch jetzt noch elegant, macht auch jetzt noch, ähnlich einer langweiligen Maschine, seine Verbeugungen und machte Phrasen und entrüstete und entsetzte sich darüber. Wie qualvoll kam ihm sein eigenes Leben vor, wie lügenhaft seine Seele, wie tot sein elender Körper, wie fremd die Welt, wie leer die Bewegungen, Dinge und Geschehnisse, die ihn umgaben. «
Robert Walser, Aufsätze
»Der Bloom ist das maskierte Nichts.«
“Die Theorie vom Bloom” ist ein Text, der sich zu lesen lohnt. Denn im Unterschied zu all dem Schrott, der sonst so veröffentlicht wird, bildet Tiqqun nicht nur Plattensammlungen oder Autos ab. Tiqqun bestätigt nicht das, was sowieso schon jeder kennt. Tiqqun versucht die Stimmung unserer Endzeit einzufangen, damit wir uns von ihr lösen können. Tiqqun ist hebräisch und bedeutet “Erlösung”.
»Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen. Denn was ist das ganze Bildungsgut wert, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet? (...) Ja, gestehen wir es ein: Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrung überhaupt. Und damit eine neue Art von Barbarentum. Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen positiven Begriff des Barbarentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken.«
Walter Benjamin, Erfahrung und Armut
Der “Bloom” ist nicht nur das Ende sondern auch der Neuanfang. Und so gesteht Tiqqun:
»Unser einziges Anliegen ist der Kommunismus. Kommunismus nicht als gesellschaftliches oder politisches System, sondern als ein Experiment, als Experiment des Teilens.«
Ein kommunistisches Experiment in Form eines gemeinsam geschrieben Textes. Denn Tiqqun geht es vor allem um Theorie als Vorstufe zur Praxis. Selbstverwaltete Bauernhöfe und der “schwarze Block” mögen Beispiele für neue Anfänge sein, wie Tiqqun im Nachwort zur deutschen Ausgabe der “Theorie vom Bloom” schreibt. Wichtiger aber ist: Jeder guter Text, jeder neuer Leser, jeder kritischer Gedanke, jeder weitere Deserteur.
»Dieser Text ist eine vorläufige Abmachung.
Das Protokoll eines Experiments, das unter Deserteuren seinen Anfang nimmt. Treten Sie unauffällig aus der Reihe.
Jetzt«
Zur Kontaktaufnahme schreiben Sie an:
Tiqqun
18, rue Saint-Ambroise
F-75011 Paris
Oder:
Tiqqun: http://perso.wanadoo.fr/marxiens/politic/tiqqun.htm
Tiqqun: “Die Theorie vom Bloom”, 114 Seiten, 16,80 Euro, erschienen bei diaphanes – www.diaphanes.net
|