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wuming schrieb am 9.7. 2007 um 22:16:39 Uhr über

Kontrollgesellschaft

Kontrollgesellschaft


Die Disziplinargesellschaft basierte auf feststehenden Institutionen: der Fabrik, der Schule, der Armee, der psychiatrischen Anstalt und dem Gefängnis. Heutzutage befinden sich all diese »Einschließungsmilieus« (Deleuze) mehr oder weniger in der Krise und gewähren Auslauf. Da die Strafanstalten in den USA und Großbritannien dem DelinquentInnen-Andrang nicht mehr gewachsen waren, beschlossen die Justizbehörden, die Häftlinge per elektronischer Fußfessel in ihren eigenen vier Wänden an die digitale Kette zu legen. In Hessen ist gerade ein entsprechender Modellversuch angelaufen. Mit dieser »Ausgliederung« ändert sich auch die Bestimmung des Strafens. Wollten die Gefängnisse noch bis ins Innere der ÜbertäterInnen vordringen, sie zur Besinnung bringen und resozialisieren, so lässt ihnen das virtuelle Gefängnis nur eine rein äußerliche Behandlung angedeihen. Pragmatisch, technologisch und unbarmherzig binär besteht es praktisch nur aus der Drohung: »Keine falsche Bewegung!«. Und schließt diese eigentlich präventiv schon aus, denn sobald der Häftling sich nicht gemäß seinem ins Gerät einprogrammierten Tagesablauf verhält und sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhält, schlägt es an.

Die allgegenwärtigen Videoüberwachungsanlagen unterwerfen die StadtbewohnerInnen genauso einer elektronischen Erziehungsdiktatur. Als »Bildübertragung mit präventivem Charakter« beschrieb sie deshalb ein bildschirmdiensttuender Dresdner Polizeibeamter zutreffend. Macht die elektronische Fußfessel die Wohnung zum Knast, so wandeln die Überwachungskameras den gesamten öffentlichen Raum in einen Gefängnishof um. In der Kontrollgesellschaft haben sich die Institutionen aufgelöst, sind aber nicht verschwunden, sondern universell geworden. Das Gefängnis ist jetzt überall und nirgends, und jeder ein Verdächtiger. Das mussten auch die VerkäuferInnen eines großen Pariser Kaufhauses erfahren, als neben potenziellen Ladendieben auch sie ins Visier der Überwachungskameras gerieten. Die Direktion hatte in der Anlage ein Mittel zur Kontrolle von Arbeitsleistungen erkannt und sprach prompt auch Kündigungsentscheidungen nach Videobeweis aus. »Es ist eine Welt, in der es kein Versteck mehr gibt und auch nichts mehr, was sich verstecken ließe«, zitiert Mike Davis eine Beschreibung dieses Szenarios aus dem »New Scientist«.

Aber ein »Big Brother« sitzt in diesem »Videotopia« nicht mehr am Regie-Pult. Die Kontrollgesellschaft ist kein hierarchisch geordnetes, homogen-totalitäres Ganzes mit starrer Ideologie. Sie versteht sich nicht als moralische Anstalt; der Wertezerfall hat auch sie erfasst. Ihr ist es im Prinzip egal, ob Menschen illegale Drogen konsumieren. Nicht egal ist ihr aber, wo das geschieht. »Du sollst vor Einkaufszentren und Bahnhöfen kein Heroin spritzen!«, lautet das Gebot der Stunde. Aus diesem Werterelativismus ist dann auch keine Strafe mehr ableitbar. Der Staat verzichtet auf seine Sanktionsmacht und begnügt sich mit Umsiedlungsaktionen bzw. Vertreibungen. Er kann wegen dieser pragmatischen Grundhaltung sogar Teile des Gewalt-Monopols auf private Sicherheitsdienste übertragen, die Ordnung als Dienstleistung anbieten. So bevölkern die verschiedensten Akteure des »Ruhe und Ordnung«-Businesses - Polizei, Bundesgrenzschutz, private Wachdienste, kommunale Ordnungsdienste, Sicherheitsbeamte der Verkehrsbetriebe - öffentliche und private Räume abgestufter Normgültigkeit - gefährliche Orte, Einkaufszentren, Bahnhöfe, Sicherheitsenklaven, private Hochsicherheitstrakte - und lassen dabei noch Platz für ordnungspolitische Niemandsländer. Nach Michael Lindenberg entsteht so eine eigentümlich amoralische Mischung aus Ausschließung und Tolerierung, eine Welt, in der es »nur noch Abgrenzungen, keine Grenzen, nur noch Übergänge, keine Schranken« mehr gibt.

Der neue Fetisch heißt Sicherheit. Und die wird weniger aufrechterhalten als vielmehr erst produziert, punktgenau für ausgewählte Schauplätze vermittels technologischer Lösungen. Und wenn es das ins Kraut schießende »subjektive Sicherheitsgefühl« des Bürgers verlangt, kommt es sogar zur Überproduktion. Rolf Gössner spricht deshalb vom »präventiven Sicherheitsstaat«, vielleicht auch ein geeigneterer Begriff als »Kontrollgesellschaft«. Dieser ist geradezu besessen von der »Gefahrenabwehr«. Der betreffende juristische Passus musste in den jüngsten Gesetzesnovellen als Legitimation der Videoüber-wachung und des Großen Lauschangriffs herhalten, der die Eingriffsschwelle weit in das Vorfeld von Gefahren verlegt. Wobei es unter JuristInnen noch sehr umstritten ist, ob das Gebot der Gefahrenabwehr überhaupt eine »generalpräventive« Ausrichtung polizeilicher Maßnahmen erlaubt.

Der Umgang mit Law and Order in der postfordistischen, neoliberalen Gesellschaft ist also pragmatisch, präventiv, technoid, privatisiert und moralisch indifferent. Es braucht keine Überzeugungstäter mit SS-Visage wie Manfred Kanther mehr als Repräsentanten, ein Mann wie Otto Schily erledigt den Job effektiver.




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