"Die Tatsache der Überfüllung
Es gibt eine Tatsache, die das öffentliche Leben Europas in der gegenwärtigen Stunde - sei es zum Guten, sei es zum Bösen - entscheidend bestimmt: das Heraufkommen der Massen als grosse, ja volle, und alles und fast jeden füllende, soziale Macht. Da die Massen, aufgrund ihres Wesens das wir nicht immmer am Outfit, und auch nicht immer am Image, aber fast immer am Habitus, der Einzelnen und/oder Vereinzelten dieser Massen, erkennen können, ihr eigenes Dasein nicht lenken können, und auch nicht dürfen, weil sie nicht die Fähigkeit besitzen, die Gemeinschaft regieren zu können, ist damit gesagt, dass Europäer heute in einer der schwersten Krisen stehen, die über Völker, Nationen, Kulturen hinwegwehen, oder die nicht Standhaften hinwegfegen können. Krisen solcher Art schon mehr als einmal (von einem noch würfelnden Gott? Oder von den Naturgesetzen?) in die Geschichte geworfen. Ihre Kennzeichen und Folgen sind mir und auch einigen meiner Leserinnen und Leser bekannt. Sie heißen die Aufstände der Massen.
Zum Verständnis eines so ungeheuren Falls uns noch unbekannter Würfel ist gut, dass wir, vom Anfang an, vermeiden, in die Worte »Aufstand«, »Massen«, »soziale Macht«, einen ausschließend oder vorrangig politischen Sinn hineinzulegen. Das öffentliche Leben ist, wie jetzt, hier und heute, schon fast jedes Bauernmädel, und fast jeder Bauernjunge weiss, nicht nur politisch, es ist zugleich, ja oft schon zuvor geistig, sittlich, wirtschaftlich, religiös; es umfaßt alle Kollektivbräuche und die Art der Kleidung und des Genießens. Und noch mehr.
Wir nähern uns daher dieser historischen und/oder politischen Erscheinung am schnellsten, wenn wir nicht in den nächstbesten Zug einsteigen, der, wahrscheinlich, schon total überfüllt ist, sondern, in Ruhe und Muse, Tee trinkend jetzt, hier, am Computer sitzen bleiben, und danach das tun, was wir machen. Wer dabei auch Züge betrachtet, egal ob bummelnde Vorortzüge, oder Fernzüge, die in rasender Geschwindigkeit an ihm vorbeirauschenen, sollte sich, vielleicht, auf das konzentrieren, das mit »mit den Augen zu sehen« ist.
Es ist leicht zu sehen, aber leider noch allzuoft nicht leicht zu analysieren; die Tatsache der Anhäufungen, der Überfüllung. Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, und/oder Besuchern; auf den Strassen sind zu viel Passanten, in den Hotels zu viel Gäste, in den Zügen und U-Bahnen und auf den Fähren und Ausflugdampfern zu viel Passagiere, in den Warteräumen fast aller Ärzte zu viel Patienten; in den Theatern und Kinos, die nicht unzeitgemäss sind, sehen wir, wenn wir den Fehler machten, dorthin zu fahren, oder zu gehen, zu viel Besucher. In den Badeorten sind zu viel Sommerfrischler. Was früher kein Problem war, ist es jetzt leider allzuoft: einen Platz zu finden."
Josef Ortega y Gasset: »Der Aufstand der Massen«; Deutsche Verlags-Anstalt München; 2. Auflage 2007, Seite 5, Seite 6
Ich war schon lang nicht mehr in Ansbach.
Ist die Stadt jetzt, im Sommerloch, auch so überfüllt wie London, oder Berlin?
Amenokal
Friedrich
|