Verzweiflung
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Wenn die Sonne aufgeht, begebe ich mich meist zu Bett. Denn nichts erscheint mir widerlicher und erschreckender als der Tag. Ich ziehe meine Vorhänge vor die Fenster, sodass mein Zimmer völlig im Dunkeln liegt und ich nichts gewahre ausser einiger schemenhafter, schattenhafter Formen. Diese aber können mich nicht berühren. Sie sind zu unkonkret, zu wenig definiert um mir Angst einzujagen. Die Helligkeit des Tages beleuchtet die Gegenstände meines Abscheus: die Menschen und das, was sie geschaffen haben. Die Helligkeit macht sie sichtbar.
Wenn ich nachts mein Zimmer verlasse, mache ich oft Spaziergänge. Verschiedenste Wege bin ich gegangen, habe jahrelang erprobt, wo die geringste Gefahr besteht, eines jener Wesen zu treffen, vor denen mir so sehr graut. Es geschieht durchaus noch von Zeit zu Zeit, dass sich ein einsamer Wanderer denselben Weg gesucht hat, den ich wähle. Sobald ich ihn wahrnehme, drücke ich mich in einen Hauseingang oder stelle mich hinter eine Mauer, bis er vorüber ist. Mein Herz schlägt dann immer sehr schnell, und das Atmen fällt mir schwer. Diese Spaziergänge sind sehr gefährlich. Ich habe schon des öfteren daran gedacht, sie ganz zu beenden und gar nicht mehr vor die Tür zu gehen.
Also: ich lege mich zu Bett, sobald das ‚Leben‘ beginnt, die Straßen auszufüllen. Ich kann nicht schlafen. Aber ich schließe die Augen und versuche, nicht daran zu denken, was dort draußen passiert. Nach einiger Zeit, wenn sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, und ich sie kurz öffne, erkenne ich einen breiten Riss, der sich von meinem Türrahmen schräg durch die Zimmerdecke zieht und beim gegenüberliegenden Fenster endet. Jedesmal, wenn ich ihn betrachte, scheint es, er sei wieder größer geworden seit dem letztenmal. Und dann wünsche ich mir, er wäre endlich breit genug, um das ganze Haus, das auf meinem Zimmer lastet, zum Einsturz zu bringen. Dann könnte ich sterben, zerquetscht in der staubigen Dunkelheit gebrochenen Betons. --- Ewige Dunkelheit, das ist mein Wunsch, das wünsche ich Euch allen dort draussen. Kein Sonnenlicht soll mehr Euer schäbiges Angesicht erhellen, Eure mickrigen Gedanken erleuchten, Ihr sollt in der Dunkelheit krepieren! ---
Aber ich fange mich wieder. Schließe meine Augen. Und wende meine Gedanken anderen Dingen zu. Es kostet zuviel Kraft, an Menschen zu denken. Ich schütte Gedankengebirge auf, wenn ich erst einmal damit beginne, die Fehler zu suchen, die dort draussen passieren. Und diese Gebirge sind unbezwingbar, sie wachsen und wachsen...
Ich habe aufgegeben, eine Antwort zu finden. Schon vor langer Zeit. So vergeht Nacht um Nacht, und ich warte. Worauf? Wie gesagt: ich weiss es nicht...