Sichtungsstichwort
Bewertung: 1 Punkt(e)»Erst kam Gesehenes, daraus ward Tastbares« (Ezra Pound, Pisaner Cantos) - Mögen Geruchs– und Tastsinn auch die archaischsten der Körpersinne sein, die Annäherung an das Außen, an das Du, erfolgt schon Sinneswelten zuvor über das Sehen - wer kommt da über den Hügel? Trägt er einen Faustkeil oder einen Pilz? Wieviele Öffnungen hat es? Beim Näherkommen konstituiert sich das Urteil, und erst, wenn wir einander auf Augenhöhe gegenüberstehen, können wir entscheiden, ob wir einander die Hände reichen oder die Zähne ausschlagen. Und was gesehen wird, das will, ja muss mitgeteilt werden. Überlebenswichtig kann das sein, zum Schutz oder als Ventil, um nicht vor Freude oder Hass zu vergehen. Und so ritzt der Steinzeitmensch in die Wände seiner Höhlen und heiligen Orte die Dinge, die er sieht, gesehen hat, und die er sehen will: Bison und Hirsch, Mammute und anderes jagdbares Wild, Frauen mit ausladenden Becken, die ihm ein Dutzend Nachkommen schenken kann, auf dass eines oder zwei den nächsten Frost überstehen mögen, ritzt den Schamanen, der ihm Fernsprecher zu den Geistern der Natur ist und, mit freudig erregtem oder zornzitterndem Strich ritzt er Feinde ein, Hekatomben toter Feinde, gefangener Feinde, fliehender Feinde... Vielleicht waren die ersten Künstler selbst Erwählte, Mittler zwischen den Welten, vielleicht war die Geburt des Künstlers der Augenblick, als ein Stammeshäuptling zu einem schon nicht mehr ganz erectus wirkenden zartgliedrigen Höhlenmitbewohner sagte: »Mal mir mal Mammuts, dann bring ich dir beim nächsten Mal ein Stück mit.« Diese Art magisches Denken hat die Kunst durch alle Zeiten und Schichtungen bis heute nicht gänzlich abgelegt - male, was war, was sein wird, male, was ich sehen, was ich berühren will, ein Schöpfungsakt, der die flüchtigen Bilder des Auges , inneres wie äußeres, dauerhaft fixiert. Von Cimabues Apokalypse bis zu Hasszeichnungen von Friedhöfen mit toten Feinden, mit Edding auf das Schulklo eines Robert-Steinhäuser-Gymnasiums geschmiert, es bleibt schamanische Kündung, magische Schöpfung, Sehnsucht vor allem, unstillbare Sehnsucht nach Schau.