06. c) Erklärung und Anwendung des Bildes
Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon, mußt du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das Gesicht uns
erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne; und
wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Region der
Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch dieses zu wissen begehrst. Gott mag wissen, ob er
richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten
erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen
und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als
Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es sei nun in
eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten. - Auch ich, sprach er, teile die Meinung so gut ich eben kann. -
Komm denn, sprach ich, teile auch diese mit mir und wundere dich nicht, wenn diejenigen, die bis hierher gekommen sind, nicht
Lust haben, menschliche Dinge zu betreiben, sondern ihre Seelen immer nach dem Aufenthalt oben trachten; denn so ist es ja
natürlich, wenn sich dies nach dem vorher aufgestellten Bilde verhält. – Natürlich freilich, sagte er. - Und wie? Kommt dir das
wunderbar vor, fuhr ich fort, daß, von göttlichen Anschauungen unter das menschliche Elend versetzt, einer sich übel gebärdet
und gar lächerlich erscheint, wenn er, solange er noch trübe sieht und ehe er sich an die dortige Finsternis hinreichend gewöhnt
hat, schon genötigt wird, vor Gericht oder anderwärts zu streiten über die Schatten des Gerechten oder die Bilder, zu denen sie
gehören, und dieses auszufechten, wie es sich die etwa vorstellen, welche die Gerechtigkeit selbst niemals gesehen haben? -
Nicht im mindesten zu verwundern! sagte er. - Sondern, wenn einer Vernunft hätte, fuhr ich fort, so würde er bedenken, daß
durch zweierlei und auf zwiefache Weise das Gesicht gestört sein kann, wenn man aus dem Licht in die Dunkelheit versetzt
wird, und wenn aus der Dunkelheit in das Licht. Und ebenso, würde er denken, gehe es auch mit der Seele, und würde, wenn
er eine verwirrt findet und unfähig zu sehen, nicht unüberlegt lachen, sondern erst zusehen, ob sie wohl von einem lichtvolleren
Leben herkommend aus Ungewohnheit verfinstert ist oder ob sie, aus größerem Unverstande ins Hellere gekommen, durch die
Fülle des Glanzes geblendet wird; und so würde er dann die eine wegen ihres Zustandes und ihrer Lebensweise glücklich
preisen, die andere aber bedauern; oder, wenn er über diese lachen wollte, wäre sein Lachen nicht so lächerlich als das über
die, welche von oben her aus dem Licht kommt. - Sehr richtig gesprochen, sagte er. -
106. d) Folgerung, daß die Erziehung nur als Umlenkung der ganzen Seele möglich ist
Wir müssen daher, sprach ich, so hierüber denken, wenn das Bisherige richtig ist, daß die Unterweisung nicht das sei, wofür
einige sich vermessen sie auszugeben. Nämlich sie behaupten, wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr
einsetzen, wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten. - Das behaupten sie freilich, sagte er. - Die jetzige Rede aber,
sprach ich, deutet an, daß dieses der Seele eines jeden einwohnende Vermögen und das Organ, womit jeder begreift, wie
wenn ein Auge nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich sich aus dem Finstern ans Helle wenden könnte, so auch
dieses nur mit der gesamten Seele zugleich von dem Werdenden abgeführt werden muß, bis es das Anschauen des Seienden
und des glänzendsten unter dem Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei das Gute; nicht wahr? - ja. - Hiervon nun
eben, sprach ich, mag sie wohl die Kunst sein, die Kunst der Umlenkung, auf welche Weise wohl am leichtesten und
wirksamsten dieses Vermögen kann umgewendet werden, nicht die Kunst, ihm das Sehen erst einzubilden, sondern als ob es
dies schon habe und nur nicht recht gestellt sei und nicht sehe, wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern. - Das leuchtet ein, sagte
er. - Die andern Tugenden der Seele nun, wie man sie zu nennen pflegt, mögen wohl sehr nahe liegen denen des Leibes; denn
als in Wahrheit früher nicht vorhanden scheinen sie erst hernach angebildet zu werden durch Gewöhnungen und Übung; die des
Erkennens aber mag wohl vielmehr einem Göttlicheren angehören, wie es scheint, welches seine Kraft wohl niemals verliert,
aber durch Umlenkung nützlich und heilbringend oder auch unnütz und verderblich wird. Oder hast du noch nicht auf die
geachtet, die man böse, aber klug nennt, wie scharf ihr Seelchen sieht und wie genau es dasjenige erkennt, worauf es sich
richtet, daß es also kein schlechtes Gesicht hat, aber dem Bösen dienen muß und daher, je schärfer es sieht, um desto mehr
Böses tut. - Allerdings, sagte er. - Ebendieses indes an einer solchen Natur, wenn sie von Kindheit an gehörig beschnitten und
das dem Werden und der Zeitlichkeit Verwandte ihr ausgeschnitten worden wäre, was sich wie Bleikugeln an die Gaumenlust
und andere Lüste und Weichlichkeiten anhängt und das Gesicht der Seele nach unten wendet, würde dann, hiervon befreit, sich
zu dem Wahren hinwenden und dann bei denselben Menschen auch dieses auf das schärfste sehen, eben wie das, dem es jetzt
zugewendet ist. - Natürlich, sagte er. -
Und wie, sprach ich, ist nicht auch dies natürlich und nach dem bisher Gesagten notwendig, daß weder die Ungebildeten und
der Wahrheit Unkundigen dem Staat gehörig vorstehen werden noch auch die, welche man sich immerwährend mit den
Wissenschaften beschäftigen läßt? Die einen, weil sie nicht einen Zweck im Leben haben, auf welchen zielend sie alles täten,
was sie tun für sich und öffentlich, die andern, weil sie gutwillig gar nicht Geschäfte werden betreiben wollen, in der Meinung,
daß sie auf die Insel der Seligen noch lebend versetzt worden sind. - Richtig, sagte er. - Uns also, als den Gründern der Stadt,
sprach ich, liegt ob, die trefflichsten Naturen unter unsern Bewohnern zu nötigen, daß sie zu jener Kenntnis zu gelangen suchen,
welche wir im vorigen als die größte aufstellten, nämlich das Gute zu sehen und die Reise aufwärts dahin anzutreten; aber wenn
sie dort oben zur Genüge geschaut haben, darf man ihnen nicht erlauben, was ihnen jetzt erlaubt wird. - Welches meinst du? -
Dort zu bleiben, sprach ich, und nicht wieder zurückkehren zu wollen zu jenen Gefangenen, noch Anteil zu nehmen an ihren
Mühseligkeiten und Ehrenbezeugungen, mögen diese nun geringfügig sein oder bedeutend. - Also, sagte er, wollen wir ihnen
Unrecht zufügen und schuld daran sein, daß sie schlechter leben, obwohl sie es besser könnten? -
106. e) Die vollkommen ausgebildeten Philosophen müssen gegen ihre Neigung zum Regieren genötigt werden
Du hast wieder vergessen, Freund, sprach ich, daß das Gesetz sich nicht dieses angelegen sein läßt, daß ein Geschlecht im
Staat sich ausgezeichnet wohl befinde, sondern daß es im ganzen Staate Wohlsein muß hervorzubringen suchen, indem es die
Bürger ineinanderfügt und sie teils überredet, teils nötigt, einander mitzuteilen von dem Nutzen, den jeder dem allgemeinen
Wesen leisten kann, und indem es Männer dieser Art dem Staate selbst zuzieht, nicht um sie hernach gehen zu lassen, wohin
jeder will, sondern um sich selbst ihrer für den Verein des Staates zu bedienen. - Richtig, sagte er; das hatte ich freilich
vergessen. - Betrachte nun, o Glaukon, fuhr ich fort, daß wir den bei uns sich bildenden Philosophen auch kein Unrecht tun
werden, sondern ganz Gerechtes gegen sie aussprechen, wenn wir ihnen zumuten, für die andern Sorge zu tragen und sie in
Obhut zu halten. Wir werden ihnen nämlich sagen, daß, die in andern Staaten Philosophen werden, natürlicherweise an den
Arbeiten in denselben keinen Teil nehmen; denn sie bilden sich zu solchen aus freien Stücken wider Willen der jedesmaligen
Verfassung, und das sei ganz billig, daß, was von selbst gewachsen ist, da es niemandem für seine Kost verpflichtet ist, auch
nicht Lust hat, jemandem Kostgeld zu bezahlen. Euch aber haben wir zu eurem und des übrigen Staates Besten wie in den
Bienenstöcken die Weisel und Könige erzogen und besser und vollständiger als die übrigen ausgebildet, so daß ihr tüchtiger
seid, an beidem teilzunehmen. Ihr müßt also nun wieder herabsteigen, jeder in seiner Ordnung, zu der Wohnung der übrigen und
euch mit ihnen gewöhnen, das Dunkle zu schauen. Denn gewöhnt ihr euch hinein: so werdet ihr tausendmal besser als die
dortigen sehen und jedes Schattenbild erkennen, was es ist und wovon, weil ihr das Schöne, Gute und Gerechte selbst in der
Wahrheit gesehen habt. Und so wird uns und euch der Staat wachend verwaltet werden und nicht träumend, wie jetzt die
meisten von solchen verwaltet werden, welche Schattengefechte miteinander treiben und sich entzweien um die Obergewalt, als
ob sie ein gar großes Gut wäre. Das Wahre daran ist aber dieses: der Staat, in welchem die zur Regierung Berufenen am
wenigsten Lust haben zu regieren, wird notwendig am besten und ruhigsten verwaltet werden, der aber entgegengesetzte
Regenten bekommen hat, auch entgegengesetzt. - Ganz gewiß, sagte er. - Meinst du nun, daß unsere Zöglinge uns ungehorsam
sein werden, wenn sie dies hören, und sich nicht jeder an seinem Teil im Staate werden mitplagen wollen, die übrige Zeit aber
miteinander im Reinen wohnen? - Unmöglich! antwortete er; denn nur Gerechtes fordern wir ja von Gerechten.
Auf alle Weise jedoch werden sie nur recht wie zu etwas Notwendigem jeder zu seiner Amtsführung gehen, ganz das Gegenteil
von denen, die jetzt in den Staaten regieren. - Denn so verhält es sich, Freund, sprach ich. Wenn du denen, welche regieren
sollen, eine Lebensweise ausfindest, welche besser ist als das Regieren, dann kannst du es dahin bringen, daß der Staat wohl
verwaltet werde; denn in einem solchen allein werden die wahrhaft Reichen regieren, die es nicht an Golde sind, sondern woran
der Glückselige reich sein soll, an tüchtigem und vernunftmäßigem Leben. Wenn aber Hungerleider und Arme an eigenem Gut
an die öffentlichen Angelegenheiten gehen, in der Meinung, von dort her Gutes an sich reißen zu müssen: so geht es nicht. Denn
wird die Verwaltung etwas, worum man sich reißt und schlägt: so muß ein solcher einheimischer und innerer Krieg die
Kriegführenden selbst und den übrigen Staat verderben. - Vollkommen richtig, sagte er. - Kennst du nun, sprach ich, eine
andere Lebensweise, welche aus der bürgerlichen Gewalt wenig macht, als die der echten Philosophie? - Keine beim Zeus,
sprach er. - Nun aber sollen ja nicht Liebhaber des Regierens dazu gelangen, weil sie sonst als Mitbewerber darum streiten
werden. - Freilich. - Welche anderen also willst du nötigen, mit der Fürsorge für den Staat sich zu befassen, als welche sowohl
dessen am kundigsten sind, wodurch ein Staat gut verwaltet wird, als auch welche zugleich andere Belohnungen kennen und
eine andere Lebensweise als die staatsmännische? - Keine anderen, sagte er. -
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