durchschaubar zu machen, die Masken sozialen Verhaltens zu lüften, die die gesellschaftlichen Rollen und Normen dem einzelnen überstülpen.
Schlußfolgerung: »Zuschauer- - welch ei'ne Beleidigung
Der Zuschauer, das passive Wesen par excellence, ist weniger als ein Mensch. Es tut not, ihn wieder zum Menschen zu machen, ihm seine Handlungsfähigkeit zurückzugeben. Er muß Subjekt, Protagonist werden.
Alle Volkstheater-Techniken haben das gleiche Ziel: die Befreiung des Zuschauers, dem das Theater fertige Weltanschauungen vorzuschreiben gewohnt ist. Wer Theater macht, ist direkt oder indirekt an die herrschenden Klassen gebunden. Die fertigen Bilder sind die Bilder der Herrschenden. Der Zuschauer des Volkstheaters - das Volk - darf nicht länger das Opfer dieser Bilder sein.
Die Poetik des Aristoteles ist eine Poetik der Unterdrückung: Die Welt wird als festgefügt vorausgesetzt, als vollkommen oder auf dem Weg zur Vollkommenheit begriffen, und ihre Leitwerte allein werden dem Zuschauer vorgestellt. Die Zuschauer ermächtigen durch ihre Passivität die Figuren, für sie zu denken und zu handeln. Dadurch werden sie von ihrer tragischen Schuld gereinigt - von der Fähigkeit, die Gesellschaft zu verändern. Bewirkt wird dze Katharsis vom revolutionären Verlangen. Die Handlug im Theater ist Ersatz für wirkliche Handlu"g.
Brechts Poetik ist die Poetik der Bewußtmachung: Die Welt erscheint als veränderbar und die Veränderung beginnt im Theater selbst. Der Zuschauer ermächtigt keine Figur mehr, für ihn zu denken, obwohl er sie weiterhin ermächtigt, für ihn zu handeln. Erfahrung wird auf der Bewußtseinsebene gemacht, nicht auf der Handlungsebene.
Die dramatische Handlung wirft Licht auf die reale Handlung. Theater ist Wirklichkeitsprobe.
Die Poetik der Unterdrückten ist eine Poetik der Befreiung. Der Zuschauer ermächtigt keine Figur mehr, für ihn zu denken noch zu handeln. Der Zuschauer befreit sich: er denkt und handelt selbst.
Theater ist Aktion. Vielleicht ist Theater nicht selbst revolutionär, aber Theater probt die Revolution.
II. Theater der Unterdrückten
in Europa
Für ein Theater der Befreiung
Vor einem Jahr kam ch in Europa an, aus Argentinien, meinem zweiten Exil. Gleich bei meiner Ankunft hat man mich gefragt: Glauben Sie, daß die in Lateinamerika entwickelten Techniken des Theaters der Unterdrückten auch in Europa angewandt werden können und daß sie auch hier etwas auszurichten vermögen? Ich habe diese Frage spontan bejaht. Heute, nach gut einem Jahr, weiß ich es mit Bestimmtheit: Das Theater der Unterdrückten hat auch für Europa Gültigkeit und kann sich hier weiterentwickeln.
Das Theater der Unterdrückten und seine Formen - Unsichtbares Theater, Forumtheater, Statuentheat'er, Mythostheater, Fotoroman-Theater, Zeitungstheater - entstanden als Antwort auf die Repression in Lateinamerika, wo täglich Menschen auf offener Straße niedergeknüppelt werden, wo die Organisationen der Arbeiter, Bauern, Studenten und Künstler systematisch zerschlagen, ihre Leiter verhaftet, gefoltert, ermordet oder ins Exil gezwungen werden. Dort ist das Theater der Unterdrückten
entstanden.
Ein Mann wurde auf dem Dorfplatz kastriert. Das geschah in Otusco, Peru. Einem Komponisten wurden im Nationalstadion von Chile beide Hände abgehackt. Einem Bauern wurden am ganzen Körper Messerstiche zugefügt, dann wurde er mit Honig beschmiert und auf einen Ameisenhaufen gelegt. Das geschah in Pernambuco, Brasilien.
Studenten der Universität La Paz, Bolivien, wurden auf einen großen Platz zusammengetrieben und von Tieffliegern mit Maschinengewehren niedergemäht.
Auf der Plaza de las Tres Culturas, in Mexiko, wurden 300 Studenten von Panzern niedergewalzt. Die Soldaten hatte man unter Drogen gesetzt.
Dort ist das Theater der Unterdrückten entstanden.
Chile: 5 o ooo Tote in i 5 Tagen. Argentinien: 5o oco Tote in I 5
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