alternativ
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Was kann »alternativ« heute heißen? Und vor allem, alternativ zu was, anders als was? In meiner pubertären Sturm-und-Drang-Zeit vor nunmehr bald 25 Jahren war die Sache klar: alternativ, das war der radikale Gegenentwurf zum ängstlich-verklemmten Konformismus meines kleinbürgerlichen Elternhauses, das hieß weg von all dem Bloß-nicht-Auffallen, Was-sollen-denn-die-Leute-denken und Wir-sind-doch -hier-nicht-bei-den-Asozialen, das mir meine Altvorderen regelmäßig um die Ohren hauten, wenn ich aus der Reihe zu tanzen drohte. Alternativ, das war etwas Großes, Wildes, Berauschendes mit langen Haaren, Landkommunen, Friedensdemos, Straßenmusik, Volkszählungsboykott, Zottelbärten, buntbemalten VW-Bussen, monate- und jahrelangen Globetrottertrips nicht zuletzt auch nach und durch Afghanistan, Krautrock und über allem die grandiose Verheißung einer endlich befreiten Welt ohne Hierarchien, Anpassungszwänge und Gewalt.
Der politische Mainstream jener Jahre in Gestalt des frisch zum Bundeskanzler gewählten Helmut Kohl hingegen verkündete die »geistig-moralische Wende«, zurück zum bleiernen Spießermief der Jahre vor 1968. Das blieb glücklicherweise weitestgehend Theaterdonner, stattdessen wurde das linksalternative Protestmilieu von den regierenden Konservativen Schritt für Schritt eingemeindet, nach dem Motto »uns die Macht, euch die Kultur«. Das Tauwetter in Osteuropa nahm der Friedensbewegung den Wind aus den Segeln, und nach Tschernobyl kam selbst die Kohl-Regierung nicht umhin, erstmals ein eigenes Ministerium für Umweltschutz einzurichten.
Die Grünen, jenes zentrale politische Projekt der Alternativbewegung, beteiligten sich zunehmend erfolgreich auf Landesebene an SPD-Regierungen... und ganz allmählich wandelte sich der Habitus des alternativen Milieus. Der langhaarige Sponti im Norwegerpulli wich dem wohlarrivierten Oberstudienrat mit Burlwood-Pfeife, Staatsekretärsstoppelbart, Volvo und Landhaus in der Toskana. Es zeigte sich zunehmend, dass das politische und gesellschaftliche System der BRD auch Bewegungen und Subkulturen integrieren und tendenziell absorbieren konnte, die ursprünglich in radikaler, »postmaterieller« Opposition zum an Wohlstand und Sicherheit orientierten Wertekonsens der Mehrheitsgesellschaft standen.
Nach dem Zusammenbruch des DDR-Regimes und der anschließenden Wiedervereinigung waren ökologische und »postmaterielle« Themen sehr bald kein Thema mehr, und das, obwohl die Revolution in Ostdeutschland ursprünglich von der dortigen Alternativbewegung angestoßen worden war. Stattdessen verschob sich der politische Diskurs zunehmend in Richtung eines neoliberalen Ökonomismus, »Standort Deutschland« und »Arbeit, Arbeit, Arbeit« hießen jetzt die Parolen.
Als es den Grünen 1998 endlich gelang, als Juniorpartner der SPD unter Bundesautokanzler Schröder 16 Jahre Kohl-Ära zu beenden, hatte sich die ursprüngliche Fundamentalopposition gegen das »Modell Deutschland« längst abgeschliffen, die linken und rechten Dissidenten, von Jutta Ditfurth bis Baldur Springmann aus der Partei vertrieben, auch wollte man schon seit längerem keine Anti-Parteien-Partei mit Abgeordneten-Rotation und Kollektiv-Vorstand mehr sein. Stattdessen dominierte nunmehr Kompromissbereitschaft und das, was man so wohlfeil »Pragmatismus« nennt, war bereit, so ziemlich jede vom größeren Koalitionspartner verabreichte Kröte zu schlucken, um ja das Projekt »Rot-Grün« nicht aufs Spiel zu setzen.
In der ersten Legislaturperiode kamen dabei durchaus noch eine Reihe von wegweisenden Entscheidungen zustande, die genuin grüne Handschrift trugen, allen voran die Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes und die (weitgehende) rechtliche Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften mit Hetero-Ehen und schließlich der Ausstieg aus der Atomenergienutzung... die konservative Opposition war voll und ganz mit der Parteispenden-Affäre und dem daraus resultierenden Zusammenbruchs des »Systems Kohl« beschäftigt, so dass auch Versuche, über Außenminister Fischers militante Sponti-Vergangenheit Rot-Grün zu destabilisieren nicht fruchten konnten. Die dank des Internet-Booms positive Konjunktur mit langsam, aber stetig zurückgehenden Arbeitslosenzahlen tat ihr Übriges.
Aber dann platzte die New-Economy-Spekulationsblase, wenig später rasten drei Flugzeuge ins World Trade Center und ins Pentagon, die Schönwetterphase war jäh beendet und wich einer jahrelangen Rezession mit tiefdepressiver Stimmung. Plötzlich mussten Grüne nicht nur Seite an Seite mit einer neuerlich rechtskonservativen US-Regierung in Afghanistan und anderswo Krieg führen, sondern auch den härtesten Sozialreformen seit Gründung der BRD zustimmen. Der Traum von der postmateriellen Utopie scheint auf unabsehbare Zeit ausgeträumt, im Protest gegen den neoliberalen Sparkurs gewannen zum einen Rechtsextremisten, zum anderen eine kleinbürgerlich-ostdeutsch geprägte autoritäre Traditionslinke nicht ohne populistische und nationalistische Untertöne Aufwind.
Das eigentliche alternative Milieu hatte sich in den 90er Jahren aus den Metropolen zunehmend in die entlegene Provinz zurückgezogen, es fand jetzt vor allem auf Neohippie-Festivals fernab des großstädtischen Mainstreams statt, und es dominierten in ihm auch nicht mehr junge Akademiker, sondern Menschen in handwerklichen oder sozialen Berufen. Eine Reihe von Landkommunen und selbstverwalteten Betrieben haben Niedergang bzw. Verbürgerlichung der Alternativbewegung überlebt, anders als vor einem Vierteljahrhundert macht diese Art des Lebens und Arbeitens aber keine Schlagzeilen mehr.
Dabei bleiben die großen Themen der Alternativen, wie globale Ökologie, eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung und das Verschwinden herkömmlicher Erwerbsarbeit zentrale Themen, die in Zukunft eher noch dominanter werden dürften, mehr als alle Terrorangst und Standort-Deutschland-Hysterie... bleibt nur die Frage, ob es der Alternativbewegung gelingt, sich zu erneuern und wieder zu einem die politische Agenda prägenden Gesellschaftssegment zu werden.
Und ich? Inzwischen habe ich es immerhin zu langen Haaren (60 cm) und Bart (zuletzt 15 cm) gebracht, auch in Sachen Führerschein- und Autoverzicht bin ich bis heute standhaft geblieben, inzwischen habe ich sogar meinen Fernseher verkauft (und bereue es in keinster Weise!)... aber das Versprechen vom großen wilden alternativen Leben ist bis heute uneingelöst geblieben. Ich lebe weder in einer Landkommune, noch bin ich als jahrelang um die Welt vagabundiernder Fahrradnomade unterwegs, und ob ich jemals Afghanistan bereisen werde, steht völlig in den Sternen.
Die bereits erwähnte (Neo-)Alternativszene auf den Festivals hatte ich mir in den 90ern auch mal angesehen, insgesamt erscheint sie mir aber zu sehr fixiert auf Cannabis und Widerstand als symbolisches Ersatzhandeln (Castor-Blockaden etc.), als das sie für mich auf Dauer attraktiv gewesen wäre.
Meine berufliche Zukunft wird vergleichsweise konventionellen Charakter haben - wenngleich natürlich die Situation eines Programmierers oder gar Softwareentwicklers nicht mehr viel mit der Anpassen-und-Maul-halten-Malocherwelt der Wirtschaftswunderjahre gemeinsam hat und durchaus IT-Projekte vorstellbar sind, die sich in einem egalitären Rahmen, etwa als Genossenschaft, abspielen.
Immerhin bin ich seit über einem halben Jahr mit einem liebevollen, sanften Althippie (auch wenn er sich selbst nicht so nennen würde!) zusammen, der auch mit 46 noch viele meiner Sehnsüchte teilt... und daran wird sich wohl auf absehbare Zeit auch nichts ändern, ich kann mir sogar gut vorstellen, mit ihm zusammen zu ziehen!