Waldkindergarten
Bewertung: 3 Punkt(e)Gerade in unserer technisierten Zeit wächst das Bedürfnis der Menschen nach einer Rückwendung zur Natur. Von der Geburtshütte über den Waldkindergarten bis zur Bestattung auf einer Streuwiese oder einem Friedwald gibt es inzwischen ungezählte Angebote zur Neuerdung des zivilisationsgestressten Großstädters. Einen weiteren mutigen Schritt ist das erste hessische Freilufthospiz gegangen: An einem lauschigen Seitenarm des Altrheins bei Ginsheim-Gustavsburg befindet sich das Elysiumsfeld, ein 5 Hektar großes Areal, auf dem sich seit gut einem Jahr Todkranke aus allen Teilen der Republik eingefunden haben, um den Abschied vom Leben in größtmöglicher Nähe mit der Natur zu verbringen. Wie Jürgen Donsbach (56). Der unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte Privatier hat vor einer Woche sein geliebtes Reihenhaus im Süden Frankfurts verlassen und gegen eine kleine Laubhütte am Fuß einer mächtigen Buche eingetauscht. Auf dem Boden seiner Isoliermatte breitet er die wenigen Habseligkeiten aus, die ihn noch umgeben: IPhone, Zwieback und Morphium - viel mehr braucht es nicht, um die Wartezeit im Elysiumsfeld zu überbrücken, erzählt er begeistert: »Angst vor dem Tod? Jetzt nicht mehr. Ich erfahre hier eine Erdverbundenheit, vor allem bei den chthonischen Meditationsübungen, ich nenne sie auch 'Probeliegen', die mich von Zeit zu Zeit eher mit dem Wunsch erfüllt, der Theorie endlich die Praxis folgen zu lassen...« Denn das ist das Herausragende am Konzept des Waldhospizes 'Elysiumsfeld', ausgehend von jener Bemerkung Ludwig Wittgensteins: 'Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.' Hier jedoch, in dem rustikalen Camp in den Altrheinauen, wird allen Austherapierten die Möglichkeit geboten, diese Erfahrungslücke zu schließen. Erdbetten, in denen der Kontakt mit humosem Material geprobt wird finden sich dort ebenso wie dendrologische Erfahrungspfade, auf denen den gehfähigen Teilnehmern die Möglichkeit geboten wird, die verschiedenen Holzarten ihrer letzten Ruhestätte in vivo zu erleben und durch geführte Meditationen ihren 'Totem-Baum' zu finden. Die konservative paliiative Versorgung wird ergänzt durch eine Vielzahl von Heilmitteln, welche unmittelbar der Natur entnommen werden: Ob Zunderschwamm-Pilze gegen Dekubitus oder Bilsenkraut gegen Tumorschmerzen: Eine geschulter Ethnomediziner begleitet alle Behandlungen einfühlsam und kompetent, ohne einzuengen. Ein besonderer Anreiz für die Patienten des Waldhospizes stellt das im Gelände integrierte Friedwäldchen dar, das nach Abschluss des Besuchs für fast alle Gäste die letzte Ruhestätte bietet. Viele der 'Hadestransitcamper' wie sie sich scherzhaft nennen, verbringen ihre letzten Tage bereits auf jenem Fleckchen Erde, auf dem sie anschließend zur letzten Ruhe gebettet werden wollen. Der Aufenthalt auf dem Elysiumfeld dauert, das verrät die nackte Statistik für die Besucher durchschnittlich 27 Tage, im Winter jedoch nur drei Tage. Das hat auch zur Folge, dass die Sommergäste grundsätzlich andere Anforderungen stellen als die Wintergäste. »Bei vier Wochen Verweildauer müssen natürlich auch gewisse kulturelle und spirituelle Angebote zum Tragen kommen«, verrät uns Inge Degras (61). Die frühpensionierte Intensivschwester arbeitet seit Anbeginn ehrenamtlich auf dem Elysiumsfeld. »Herrgottsschnitzer-Kurse zum Beispiel sind ein großer Erfolg. Musik weniger. Die Bongojahre sind halt für die meisten ein für allemal vorbei. Im Winter dagegen sind die meisten froh, wenn sie ein Glas Haschtee und eine warme Decke haben.« Gerade während unseres Gesprächs verfällt Jürgen Donsbach, der neben einem imposanten Adlerfarn auf einem kleinen Mooshügel liegt, in Schnappatmung und ist einige Augenblicke später verstorben. Inge Degras tritt hinzu, überprüft sachkundig die Todeszeichen und räumt Donsbachs letzte Nahrung, ein von ihr zubereitetes Pilzomelett, zur Seite. Jetzt ist es an den übrigen Patienten, die Grube auszuheben, jedesmal ein Augenblick tiefen kollektiven Erlebens, wobei die Anstrengungen des Schaufelns im durchwurzelten Waldboden manchen der Teilnehmer selbst lebensbedrohlich nahe an den Rand seiner Kräfte bringen. Als die Arbeit nach viereinhalb Stunden geschafft ist, erinnert nur noch eine kleine Plakette im Waldboden an den freundlichen Herrn in der Thermohose, mit dem wir noch vor kurzem Spießbrote gegessen haben. Beeindruckt und dankbar verlassen wir das Camp, dessen Teilnehmer nach den Anstrengungen des Tages in einen tiefen, teils komatösen Schlaf gefallen sind. Es bleibt zu hoffen, das dieses Beispiel Schule macht und in Zukunft auch in anderen naturnahen Gebieten in Deutschland und anderswo wieder mehr und in Würde im Freien gestorben wird.