Königinnen
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Es verhält sich so, daß sogar die Ehefrau, die ihm so nahesteht und der Sohn, der ihm so teuer ist, dem Herrscher nicht vertrauenswürdig sein kann, geschweige denn irgend jemand anders könnte als vertrauenswürdig betrachtet werden.
Es ist nebenbei gleichgültig, ob er Herrscher über zehntausend Streitwagen oder Herrscher über tausend Streitwagen ist, die Königin, die Konkubine, selbst der Kronprinz, sei er auch der legitime Erbe, werden auf den frühen Tod des Herrschers hoffen.
Woher ich weiß, daß dies so ist? Es ist so, daß Mann und Frau, da zwischen ihnen keine Blutsverwandtschaft herrscht, miteinander Umgang pflegen wenn sie verliebt sind und sich von einander entfernen, wenn die Liebe abnimmt. Daher das Sprichwort: »Wird die Mutter geliebt, schließt man den Sohn in den Arm.« Ist dem so, so muß das Gegenteil lauten: »Wird die Mutter nicht mehr geliebt, wird der Sohn beiseite geschafft.« Ein Mann von fünfzig begehrt die Frauen wie zuvor, aber Frauen verlieren schon mit dreißig stark an Reiz. Müssen aber Frauen, die ihre Schönheit verloren haben, weiterhin einem Herrn dienen, der den Reizen des weiblichen Geschlechts begehrlich gegenübersteht, werden sie über kurz oder lang verlassen werden und ihre Söhne werden Grund zur Sorge haben, ob sie weiterhin Thronerben sein werden. Aus diesem Grund streben Königinnen, Prinzessinnen und Konkubinen nach dem Tod des Herrschers.
Und nur wenn die Mutter als Königinnenwitwe ihren Sohn zum Regenten einsetzt, kann diese Erbfolge gesichert werden und alle Ränke unentdeckt bleiben. Dann jedoch wird sie soviel fleischliches Vergnügen zwischen Mann und Frau genießen können wie zu Lebzeiten des letzten Herrschers und gänzlich ohne jeden Verdacht kann sie selber die Macht des Lenkers der zehntausend Wagen innehaben. Aus diesem Grund sind das Vergiften und das geheime Erdrosseln eine vielgeübte Methode.
Han Fei–Tzu (ca. 240 v.u.Z.)
'Guarding against the interior'
London 1959 S. 145–146