Bembel
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Als es passierte, hatten sich wilde Schwärme großer Vögel kreischend aus den Baumkronen des Stadtparks erhoben, um, nachdem sie eine Weile lang wie ein schwarzer Heiligenschein über dem Mansardendach der hessichen Staatskanzlei gekreist waren, über der Spielbank Wiesbaden hoch in den Himmel nach Osten hin aufzusteigen. Einigen Hausfrauen, die gerade – denn es war 16 Uhr und die Männer kehrten wohl bald heim zum Abendessen – aus den umliegenden Geschäften kamen, waren die Einkaufstüten aus den Händen gefallen. Der Pförtner sah wenig später einen wutentbrannten Roland Koch auf sich zukommen. Auf Kochs Backe war der Abruck von fünf schmutzigen Fingern zu sehen. 'N'abend' schnautze Koch dem Pförtner zu. Der sah nur verwundert auf seine Uhr.
Als es dann wirklich Abend war, etwa 3 Stunden später, 19 Uhr – die Staatskanzlei war beeits weitgehend verweist – schlich sich Roland Koch hinab ins Erdgeschoss, in die Kantine des Gebäudes. Neben ihm war nur eine Putzfrau im Saal, sowie eine Angestellte des Caterers, die Brezeln und Wecken in Zellophan verpackte und dann in eine große Plastikbox verbrachte. Den Roland Koch störte das nicht. Er war zu sehr in Gedanken. Mit ausdruckslosem, wenn auch leicht bebendem Gesicht ging er auf den fast in der Mitte des Raumes stehenden chrom- und glasglänzenden, mit echten Weinreben verzierten Selbstbedienungsstand zu. Koch achtete nicht auf die liebevoll angerichteten Salate und kleineren Speisen, nur der Chrombaldachin über ihnen interessierte ihn. An dessen vier Seiten hing eine Auswahl der herrlichsten Bembel, die Wiesbaden, ja, Hessen je gesehen haben mochte. Steingut und Glasur mussten in jedem Betrachter und Bembelliebhaber Verzückung hervorrufen. So auch in Roland Koch. Er hatte nie verstanden, wieso diese herrlichen Bembel hier so exponiert, im Grunde öffentlich zugänglich in der Kantine der STaatskanzlei über einem Salatbuffet hingen. Er hatte sich einmal überlegt, ob er nicht vielleicht das Facility Management darauf hinweisen sollte, dass... Er hatte schließlich darauf verzichtet, ahnend, was für einen kleinbürgerlichen Nachgeschmack so etwas hinterlassen könte, wenn weiterkolportiert. Denn sicher konnte man sich nie sein, wer vom Personal nicht vielleicht einen verborgenen Groll gegen ihn hegen mochte: 'Wiesbaden: Roland Koch lässt wertvolle und herrliche Bembel aus der Staatskanzlei wegsperren'. Nein, das ging nicht, das war gar nicht möglich.
Hätte er es nicht dennoch veranlassen sollen? Zitternd zählte Koch die Bembel, 'o ihr herrlichen Bembel!', sagte er still bei sich. Er nahm einen in die Hand, und befühlte ihn, die Struktrur und das Relief waren atemberaubend. Da sah er aus dem Augenwinkel, wie die Frau vom Catering kurz inne gehalten hatte und womöglich ihren Blick auf ihn richtete. Schnell hing er den geliebten Bembel wieder an den dafür vorgesehenen Haken, der vom Baldachinrand über der Salattheke baumelte. Dann ging er einmal komplett um den Stand herum, leise und konzentriert die Bembel zählend. 19, 20, 21... Er wurde kreidebleich. Die schrecklichen Gedanken in seinem Kopf wurden zu einem wilden Kreischen:
»Einer fehlt! EINER FEHLT! 22 MÜSSEN ES SEIN! GOTT! 22 MÜSSEN ES SEIN! BEI GOTT!«
Er schlug sich an die Stirn und ging eilig aus dem Saal. Draußen, denn jetzt musste er nicht mehr an sich halten, rannte er mit zusammengebissenen Zähnen und tiefrotem Kopf hoch in den ersten Stock, wo er krachend die Flügeltüren zu seinem Arbeitszimmer von innen zuwarf, an seinen großen Schreibtisch stürzte, auf den er immer wieder mit seinen zwei großen Fäusten einschug, immer wieder, fester und fester, dabei Dinge schreiend wie 'DER VERBRECHER!', 'DIESER GANGSTER!', 'DER BEMBEL!' und so fort.
Einige Kilometer weiter westlich indessen, ging ein dubios aussehender Mann am Rande des Rhein-Main-Schnellwegs durch die Felder der Abendsonne entgegen. Während linkerhand der Verkehr vorbeirauschte, PKWs, Lieferwagen, riesige Lastwagen, griff er in seinen alten speckigen Rucksack. Er warf eine Weile lang einigen Unrat zu Boden, schien immer mürrischer zu werden, da er wohl nicht fand, was er suchte. Dann plötzlich nahm er ein Einweckglas hervor, betrachtete und schüttelte es. In ihm waren Zigrettenstummel. Er packte es zufrieden wieder weg, bevor er, und nun hellte sich seine Miene ganz außerordentlich auf, ja, er fing leise an zu glucksen, einen kleinen grauen Krug mit blauer Glasur in Händen hielt. Er hielt den Krug am ausgestreckten Arm in die Abendsonne vor ihm: dies war vielleicht der wundervollste Bembel, den er jemals in Händen gehalten, ja, den er je gesehen hatte, oder den er sich auch nur ausmalen, den er sich auch je nur hätte vorstellen können. Er war hochzufrieden, ja, glücklich!
(Fortsetzung folgt)