Artaud
Bewertung: 4 Punkt(e)
Da waren noch die 50 Liter Blut, keine leichte Sache das. Aber der Wille kann scheinbar alles und so wurden auch die beschafft, Schlachthöfe sind großzügige Spender, wenn man keine verwertbare Ware will. Und die zwei waren zähe, sie leiteten diese Theatergruppe nun schon seit Jahren und hatten sich ein Ziel gesetzt, das unter allen Umständen erreicht werden musste.
(Alles war mit »Antonin Artaud« beschriftet, ihr Auto, ihre Kleider, die Wände der Wohnung, die Schuhe ...)
Die Flüssigkeit wurde dann, als der Traum in Erfüllung ging, gekonnt in Szene gesetzt, ganz Showbusiness, mit großer Treppe. Die Treppe vom S-Bahnhof Schöneberg war es, und leise plätschernd floß das Blut die Stufen herab. Die Zuschauer merkten zu Anfang davon nichts, sie waren noch ganz befangen von dem anmutigen Gesang zweier Darstellerinnen, die, zunächst unsichtbar, von ganz oben hinabstiegen, bis sie ein Bündel auf dem Treppenabsatz aufnahmen und man erkennen konnte, daß es eine gefesselte Frau in zerissenen Kleidern war, die nun die Treppen hinabgeschleift wurde. Immer noch rann das Blut (50 Liter sind recht viel), das von einer Gehilfin, unsichtbar für das Publikum, mit einem kleinen Topf aus einer blauen Plastiktonne auf die Treppe geschüttet wurde, und der Körper der gefesselten Frau wurde davon befleckt während er über die Stufen holperte, man ging mit ihr nicht zimperlich um.
Mir war es zugefallen, die ganze Zeit tiefe und bedrohliche Töne mit einer Bassklarinette zu erzeugen, mein Platz war eine der Wandnischen, dort, wo die Treppe beginnt, und in der Nische gegenüber stand ein Kontrabassspieler. Wir hatten uns zwar bei den Vorbesprechungen angehört, was passieren würde, aber da es (aus Prinzip) keine Proben gab, war uns schon etwas seltsam zu Mute... Jetzt bildete das Blut Pfützen am Fuße der Treppe (es sammelte sich auch um meine Schuhe) und die Zuschauer in der Vorhalle wanderten langsam um das Gerüst mit dem Rad, unter dem große Mengen Stroh angerhäuft waren. Diejenigen, die ihre Aufmerksamkeit dem nassen Boden schenkten, rätselten ein wenig ob der Beschaffenheit des »Wassers«. (»Also Wasser ist *das* nicht« bemerkte eie Zuschauerin zu ihrem Begleiter der eher Augen für den kaum verhüllten Körper der Gefangenen hatte...)
Ein Zeremonienmeister stampfte seinen Stab auf die Bodenfliesen als die beiden Frauen ihre Gefangene zu diesem Rad gezerrt hatten und flugs kamen ein paar unscheinbare Gestalten aus den Ecken der Vorhalle gehuscht. In wenigen Momenten war das Opfer auf das Rad gefesselt und das Stroh entzündet. »Bathak« schrie der Zeremonienmeister, zwei dürre Burschen mit nacktem Oberkörper drehten das Rad und der Rest umkreiste die Stätte des Feuers in raschen Schritten, wozu mit dem Zeremonienstab der Takt geschlagen wurde. Verlegene Lacher aus dem Publikum wichen jedoch bald bestürzten Gesichtsausdrücken, als das Feuer ausser Kontrolle geriet und die zerissenen Fetzen, die das Opfer auf dem Rad noch am Leibe hatte, in Flammen aufgingen. Woher einer der Henkersgehilfen den Eimer Wasser hatte, weiß ich nicht, jedenfalls war der ganze Vorraum sehr bald mit dem beißenden Qualm eines verlöschenden Strohfeuers erfüllt und alles strebte hustend und mit Tüchern vor dem Mund dem Ausgang zu...
Beim späteren Reinigen der Bahnhofstreppe (eine Auflage des Bezirksamts Schöneberg) war jedenfalls zu merken, daß die Hauptdarstellerin die Situation auf dem Rad förmlich genossen hatte, es sei das beste gewesen, was hätte passieren können und sie werde dafür sorgen, daß man das Stück noch einmal aufführen werde. Ich weiß nicht, ob das je geschehen ist, ich wurde nie mehr um Mitwirkung gefragt, man hat heutzutage gewisse Verwahrungsanstalten für Leute, die der landläufigen Auffassung nach etwas von der Norm abweichen...