Die Zeitung liegt vor mir, der Titel schreit mich beinahe an: „Ich war ganz unten – und keiner hat es gemerkt.“ Darunter ein großes Foto von Lisa, vertraut und doch fremd. Als psychologische Psychotherapeutin bin ich es gewohnt, Geschichten wie ihre zu hören. Doch heute steht ihre Geschichte schwarz auf weiß vor mir – öffentlich, für alle sichtbar.
Ich lasse meinen Blick über die Worte gleiten. Lisa erzählt von der Dunkelheit, von den schlaflosen Nächten, den Panikattacken und der Leere, die sie jahrelang überspielt hat. Ihre Fassade war makellos – stark, unabhängig, perfekt. Doch dahinter war nichts als Schmerz und Selbstzweifel.
„Lisa, Sie dürfen schwach sein. Das macht Sie nicht weniger wertvoll.“
Da ist er. Mein Satz. Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich ihn aussprach. Damals war Lisa noch voller Wut und Abwehr. Sie hat mir kaum in die Augen gesehen. Aber irgendetwas, ein winziges Stück, hat dieser Satz in ihr bewegt. Und jetzt steht er hier, gedruckt in einer Zeitung, in ihrer Geschichte.
Stolz – ja, den fühle ich. Aber da ist noch etwas anderes. Ein leises Ziehen in meiner Brust. Ist das… Neid? Ein unerwartetes, beinahe beschämendes Gefühl. Lisa steht hier, mit ihrer Geschichte, mit ihrem Schmerz und ihrer Heilung, und die Welt applaudiert ihr. Mein Satz – ein Teil von mir – ist jetzt Teil ihrer großen, öffentlichen Geschichte.
Als psychologische Psychotherapeutin bin ich darin geschult, Gefühle zu analysieren – auch meine eigenen. Was ist dieser Neid? Vielleicht der Wunsch, auch gesehen zu werden, nicht nur im vertraulichen Rahmen eines Therapiezimmers, sondern darüber hinaus. Oder vielleicht ist es der stille Schmerz darüber, dass ich weiß: Heilung ist nicht linear. Lisa wird Rückschläge erleben, vielleicht wird sie wieder in meinem Praxiszimmer sitzen, vielleicht auch nicht.
Ich atme tief durch und lese weiter. Lisa beschreibt ihre Klinikzeit, die harten Tage ohne Ablenkung, ohne Fluchtmöglichkeiten. Sie spricht von Gruppentherapien, von Einsichten, die sie schmerzhaft erkämpfen musste. Von ihrem Weg zurück zu sich selbst.
Und ich erkenne, dass dieser Artikel nicht das Ende ist – sondern ein Anfang. Lisa erzählt ihre Geschichte nicht, weil sie „geheilt“ ist, sondern weil sie den Mut gefunden hat, diesen langen, oft einsamen Weg weiterzugehen.
Der Neid verflüchtigt sich. Was bleibt, ist Respekt. Und Dankbarkeit. Denn als psychologische Psychotherapeutin ist es selten, so klar zu sehen, dass die eigenen Worte etwas bewegt haben. Oft begleite ich Menschen nur ein Stück auf ihrem Weg, und dann verschwinden sie aus meinem Blickfeld. Aber heute, in diesem Artikel, sehe ich, dass etwas hängen geblieben ist.
Ich lege die Zeitung zusammen und schaue aus dem Fenster. Der Himmel färbt sich orange, die Stadt liegt in einem sanften Licht.
Gut gemacht, Lisa. Wirklich gut gemacht.
Und während ich das denke, spüre ich, dass dieser Artikel nicht nur Lisas Heilung dient, sondern vielleicht auch ein kleines Stück meiner eigenen.
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