Die halbe Wahrheit
Exhibitionisten sind total harmlos!
Von Esther Kogelboom
Manchmal denke ich: Ein Mann will – wie jedes durchschnittliche Wirbeltier – geliebt und bewundert werden. Meistens denke ich: Männer wollen in erster Linie regelmäßigen Geschlechtsverkehr (Entschuldigung für dieses Wort) und ansonsten ihre Ruhe. Sie erforschen die Tiefen der Ozeane, und wenn sie wieder auftauchen, schälen sie sich aus dem Neoprenanzug und wollen Sex.
Und wenn es keine Frau gibt, die am Strand auf sie wartet, rollen sie durch die Gegend wie eine vergessene Flasche Becks Gold auf dem Boden eines Linienbusses.
Mir rollen immer wieder solche Flaschen vor die Füße. Als ich vor genau zehn Jahren in Berlin ankam, stellte sich am Bahnhof Zoo ein junger Mann vor. Er sagte: „Ich gebe dir 20 Mark, wenn du mir einen runterholst.“ Kurze Zeit später präsentierte mir am Frankfurter Tor ein Exhibitionist, was er zu präsentieren hatte, und am Abend vor der mündlichen Uni-Prüfung über das Thema Soziolinguistik zeigte mir an der Straßenbahnhaltestelle Arnswalder Platz ein Unbekannter, wie geschmeidig Männer funktionieren. Doch was meiner Freundin und mir jetzt passiert ist, übertrifft alles bisher Dagewesene.
Es geschah hinter dem Bahnhof Friedrichstraße, wir schepperten mit dem Auto in die kleine, dunkle Einbahnstraße zwischen Tränenpalast und Spree, ich wollte im Bahnhof das Nötigste für einen Abend auf dem Sofa einkaufen. „Lass mich nicht so lang allein“, seufzte meine Freundin noch und schmiegte sich voller Behagen in den Beifahrersitz.
Ich besorgte Zigaretten, zwei tiefgefrorene Pizza Spinaci und eine Flasche Grappa, das heißt, ich ließ meine Freundin etwa sieben Minuten allein.
Als ich zurückkam, hatte ihr Gesicht die Farbe von Mozarella. „Da“, sagte sie, „der Mann!“ Sie deutete auf eine schief gewachsene Gestalt, die sich gemessenen Schrittes im Wirrwarr von Sträuchern und Baustellenabsperrungen verlor. Ich schaute sie fragend an. „Der Mann hat soeben vor dieses Fenster … bah … ich muss kotzen …“
Details entnehmen Sie bitte der nebenstehenden Zeichnung.
Eine Frau sein, das ist manchmal wirklich nichts für schwache Nerven. Eine treue Scheibenwischanlage zu sein, auch nicht.
Dass meine Freundin und ich nicht allein sind, ergab eine kurze Umfrage unter weiteren Freundinnen. Jede, wirklich jede ist in Berlin bereits Opfer eines sexuell eher seltsam gepolten Mannes geworden. Die meisten fanden das in der Rückschau eher lustig. „Exhibitionisten sind total harmlos“, sagen sie. Sie ziehen es vor, sich über diese Männer zu amüsieren, statt sich von ihnen Angst einjagen zu lassen. Eine vernünftige Einstellung, die sich problemlos auf vieles im Leben übertragen lässt, schätze ich.
Ein Schock ist alles, was nach drei Grappe immer noch da ist. Meine Freundin stand nach ihrer Begegnung mit dem schief Gewachsenen definitiv unter Schock. Erst nach dem vierten Schnaps entspannte sie sich und äußerte Heißhunger auf eine fettig-süße Pizza Spinaci. Dann fragte sie: „Was würde eigentlich Frank Schirrmacher dazu sagen?“
Wir konzentrierten uns, die Pizza blähte sich auf dem Rost des Backofens. Noch bevor der Käse ganz zerlaufen war, wussten wir Bescheid. Er würde sagen: Während die bürgerliche Großfamilie den Donner-Pass überlebte, erfror der Wichser vom Tränenpalast als einer der Ersten.
Unsere Kolumnistin, 30, bekommt ständig gute Ratschläge. An dieser Stelle überprüft sie alle 14 Tage einen davon auf seinen Wahrheitsgehalt.
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