Es war eine Liebe auf den zweiten Blick. Nachdem Wolf sich zuvor auf das Rückhaltloseste gegen den von ihm als ideenarm und erzreaktionär erachteten Notenschwurbel Brahms ausgesprochen hatte (der wiederum in Verachtung für den überspannten Wagnerianer schwelgte), notiert Wolf am 12. Februar 1891 in sein Tagebuch: »Heute Brahms im Bade getroffen. Man sieht dem ewigen Hagestolz weder das Alter noch seine musikalische Seneszenz an. Faszinierender Bart. Beschloßen, das Rasieren bis auf weiteres einzustellen.« Und Brahms notiert am gleichen Tag: »Unverhofftes recontre mit Wolf, welches sich jedoch im Nu verflüchtigte, als wir von der Musik zu profaneren Themen wechselten. Heute zum ersten Mal seit 5 Jahren den Bart gestutzt.« Wolf, etwa eine Woche später: »Bestürzende Einsicht, daß mir ein zureichender Bartwuchs nicht möglich ist. Lektüre: Walt Whitman, 'Leaves of Grass'. In einer Nacht 18 Gedichte hieraus vertont, alle verworfen. Zerstreuter Gang zum Bade - und da sitzt Brahms! Ein Zeichen?« Brahms, einen tag darauf: »Versuch, den unseligen Tristan-Akkord zum Vorwurfe für eine Vertonung Platens zu nehmen, abgebrochen, stattdessen zwei Streichquintette komponiert.« Für die nächsten zwei Wochen finden wir keine Aufzeichnungen Brahms', und die Skizzenbücher Hugo Wolfs weisen neben einer Reihe in bislang unentzifferter Kryptographie gehaltenen Eintragungen überwiegend ithyphallische Bleistiftskizzen und unerklärliche Ausfälle gegen Clara Schumann auf. Brahms hingegen beginnt mit der Komposition von 25 Liederzyklen, bricht jedoch nach knapp der Hälfte unter Verweis auf eine 'schmerzhafte Fissur' ab. Beider Tagebücher berichten in der Folgezeit von Besuchen in einer nicht näher identifizierbaren 'Uranos–Schenke' , bis ein erneuter, diesmal langfristiger Sanatoriumsaufenthalt Wolfs diese denkwürdige Künstlerfreundschaft jäh und dauerhaft unterbricht.
|