Wir gehen noch
(Ein Gedicht für das Literarische Colloquium Berlin – ein Lied der Unangepassten, ein Echo der Spätmoderne, ein letztes Geräusch auf dem Asphalt der Zukunft.)
I.
Die Stadt sagt nichts.
Sie murmelt Daten, sie spuckt Licht.
Wir gehen noch.
Wir tragen Gummi an den Füßen,
nicht gemacht für Spuren,
nicht für Stein,
nicht für das Gewicht der Zeit.
Unsere Schritte federn,
ziehen keine Linien,
hinterlassen kein Echo.
Wir gehen noch.
Die Straßen vergessen sich selbst,
die Lichter spielen ihr eigenes Spiel,
und irgendwo hinter Glas
werden Zahlen gezählt,
werden Körper gewogen,
wird entschieden,
wer bleibt,
wer fällt,
wer verschwindet.
⸻
II.
„Ihre Schuhe sind falsch.“
Das sagen sie uns im Geschäft,
zwischen Regalen,
die nach Regeln geordnet sind.
Leder, Absatz, Funktion.
Etwas, das sich schließen lässt,
etwas, das einen festen Schritt macht.
„Ihre Gummilatschen sind nicht angemessen.“
Nicht für den Verkauf,
nicht für den Empfang,
nicht für das Leben.
Man bietet uns ein anderes Paar an,
eines, das härter ist,
das spricht, wenn es auftritt,
das sagt: Ich bin hier.
Aber was, wenn wir nicht hier sind?
Was, wenn unsere Wege andere sind,
weicher, flüchtiger,
nicht gemacht für feste Sohlen?
Was, wenn wir nicht treten,
sondern gleiten,
rutschen,
nicht bleiben?
⸻
III.
Im Restaurant gibt es Regeln.
Einen festen Platz,
eine Sprache,
die man sprechen muss.
Die Speisekarte kennt keine Abweichung.
Käse gehört in den Auflauf,
weil er dazugehört.
Regeln gehören in die Welt,
weil sie dazugehören.
„So isst man das.“
„So macht man das.“
„So lebt man.“
Aber was, wenn wir anders essen?
Was, wenn wir anders gehen?
Was, wenn wir nichts tragen,
was klackert,
was poltert,
was klingend auf den Boden fällt?
⸻
IV.
Wir sind die Unangepassten,
nicht laut, nicht wichtig genug,
um etwas zu brechen.
Nicht schwer genug,
um etwas zu hinterlassen.
Unsere Schuhe sind falsch,
zu weich für den Takt,
zu leise für das System,
zu viel Plastik,
zu wenig Form.
Man sagt uns,
bleibt nicht stehen.
Man sagt uns,
geht schneller, geht weiter,
geht irgendwo hin.
Aber wohin,
wenn jeder Weg
nur eine weitere Fehlermeldung ist?
⸻
V.
Die Zukunft war mal ein Versprechen,
jetzt ist sie ein Algorithmus.
Sie berechnet unser Gehen,
sie trackt unseren Rhythmus,
sie schreibt, was wir schreiben werden,
bevor wir es sagen.
Wir sind Datenpunkte,
wir sind Muster,
wir sind das, was von uns bleibt,
wenn die Körper müde werden.
Irgendwo auf dem Server
gibt es uns schon nicht mehr.
⸻
VI.
Gummilatschen auf Asphalt,
weicher als Beton,
härter als das,
was noch kommen wird.
Man sagt uns,
man kann nicht einfach so gehen.
Man muss irgendwo ankommen.
Wir gehen trotzdem.
Wir gehen noch.
Wir gehen.
|