Urninge
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Die mir bekannten Urninge vertheilen sich auf zahlreiche Berufsarten. Ich weiss Urninge unter Juristen, Medicinern, Theologen, Philologen, Kaufleuten, Offizieren, Schriftstellern, Schauspielern, Handwerkern, Gärtnern, Arbeitern u. s. w. Dennoch scheint es einzelne Beschäftigungsarten zu geben, in denen sich eine relativ grössere Zahl von Urningen befindet, als in anderen, obwohl genauere statistische Berechnungen auch hier nicht möglich sind. Die betreffenden Berufsarten, die ich meine, sind: Schauspieler, Schriftsteller, Blumenarrangeure, Tapezierer, Decorateure, Köche, Friseure, Damenschneider und Damenkomiker. Es scheint, dass viele Urninge sich ihrer weiblichen Natur zufolge überhaupt zu Beschäftigungen hingezogen fühlen, die mehr dem weiblichen Charakter entsprechen. Hierzu gehört entschieden die Befähigung zu hübschen Arrangements, zur Verfertigung von Decorationen, Damentoiletten etc. Dass Urninge gern als Damenkomiker sowohl öffentlich als in Privatgesellschaften auftreten, ist leicht erklärlich; ihnen kommt ihre Fistelstimme sowie die Fähigkeit, weibliche Bewegungen mit grösster Eleganz auszuführen, bei diesem Berufe zu statten.
Von spiritistischen Medien giebt Ed. v. Hartmann an, dass sie mitunter sexuelle Perversionen haben. Mir wird privatim der Name eines solchen Mediums genannt, das vor einigen Jahren viel Aufsehen erregte, und das an conträrer Sexualempfindung litt.
Was die Urninge unter den Soldaten betrifft, so glaubte ein Urning, mir über diese die Mittheilung machen zu können, dass sie zum Waffendienst selten Neigung haben, dass sie daher, wenn sie Berufssoldaten sind, mehr zu theoretischen Leistungen sich hingezogen fühlen. Doch wurde diese Angabe von anderer Seite bestritten. Erwähnt sei übrigens, dass mehrere grosse Feldherren, Julius Cäsar, Karl XII., Tilly u. s. w. bei Urningen im Ruf der Männerliebe stehen. Doch konnte ich bei einigen derselben, besonders bei Tilly, ausser den darauf bezüglichen Traditionen in Urningskreisen keinen Anhaltspunkt gewinnen. Den einfachen Umstand, dass Tilly jeden Verkehr mit dem Weibe mied, als einen Beweis zu betrachten, dass er der Männerliebe gehuldigt, ist falsch. Auch Prinz Eugen ist der griechischen Liebe beschuldigt worden.
Interessant wäre es auch, genau den Procentsatz, in dem die Juden unter den Urningen vorkommen, zu wissen. Sicher ist es, dass es eine Anzahl jüdischer Urninge giebt: mir sind verschiedene davon bekannt. Doch soll nach Mittheilung eines auf diesem Gebiete erfahrenen Herrn die Zahl der Juden unter den Urningen entsprechend dem Procentsatz in der Bevölkerung eher kleiner als grösser sein, was aber mit Gocks und Herrn N.N.'s Erfahrungen sich nicht deckt; mir scheinen die Juden in ungefähr dem ihnen zukommenden Verhältnisse betheiligt zu sein.
Ueber das Alter der Urninge kann ich folgendes angeben: der jüngste der mir bekannten ist 16 Jahre, der älteste 68 Jahre alt, doch zeigt sich aus Fragen, die ich an die erwachsenen Urninge gerichtet, dass diese bereits im Alter von 10 und 12 Jahren, ja noch früher den perversen Trieb empfanden. Ich kenne sogar einen Fall, wo bis ins dritte Lebensjahr das Entstehen der krankhaften Affection verfolgt werden kann, wo bereits zu dieser Zeit eine auffällige Zuneigung zu Männern bestand. Es kann sonach nicht bezweifelt werden, dass auch unter der jetzigen männlichen Bevölkerung, die unter 36 Jahren ist, eine grosse Anzahl Urninge sich befindet. Hierzu kommt, dass gerade bei der conträren Sexualempfindung der Geschlechtstrieb durchschnittlich zeitiger geweckt wird als bei Leuten, die normalen Geschlechtstrieb besitzen. Ob der krankhafte Geschlechtstrieb in einem früheren Alter erlischt als der normale, vermag ich nicht anzugeben. Von dem oben erwähnten Herrn, der sich Ende der 60er befindet, weiss ich nur, dass er heute seinen Trieb etwas seltener befriedigt, dass er früher durchschnittlich die Woche zweimal, jetzt nur einmal mit einem männlichen Individuum Umgang haben muss. Dass übrigens auch Leute noch im höheren Alter ihren perversen Trieb haben und befriedigen, weiss ich aus sicheren Quellen, wenn ich auch die Leute persönlich nicht kenne.
Albert Moll 1891: 'Die conträre Sexualempfindung' Teil 3