Melatoninparty
Bewertung: 15 Punkt(e)Schon vor Monaten hatte ich gerüchteweise gehört, unsere neuen Nachbarn Frank und Moni würden regelmäßig Melatoninpartys feiern, doch erst Anfang letzter Woche gelang es mir, in einem gemeinsamen Gespräch auch dieses Thema anzuschneiden. Erstaunlich frei heraus erwiderte Frank, ja, das würde stimmen, alle drei Wochen Freitags, diese Woche sei es wieder so weit, ich könne ja auch mal reinschauen, nur bequeme Sachen sollte ich mitbringen. Ich war dann doch ziemlich nervös, als ich zum vereinbarten Termin in meinem Converse–Trainingsanzug klingelte. Und zuerst dachte ich, Frank hätte mir ein falsches Datum genannt, als Moni in einem locker geschnittenen Calida–Hausanzug die Tür öffnete und ich in eine verdunkelte Wohnung blickte. Aber sie lächelte bloß und sagte »Komm rein...« Drinnen sah ich, was los war: Mindestens 15 Personen, ich erkannte sogar die massige Gestalt Herrn D*s vom Tierhilfswerk, lagen in ruhenden Haltungen auf Decken, Kissen, Liegen und Matratzen. Es herrschte völlige Stille, bis auf die Atemgeräusche einiger Schlafender. Frank, der offenbar in einem Nebenzimmer ein weiteres Bett bezogen hatte, trat zu mir und hielt mir ein kleines Silbertablett unter die Nase, auf dem gut ein Dutzend weißer Pillen lagen. Er deutete mir an, zwei davon zu nehmen, die ich mit einem Glas lauwarmen, aber herrlich süßen Pfefferminztees herunterspülte, das mir Moni augenreibend brachte. »Wir lassen dich jetzt allein,« flüsterte Moni. »die Pillen brauchen mindestens eine halbe Stunde bis zum Wirkungseintritt. Du kannst solange ja in die Bibliothek gehen, da ist etwas Licht. Wir haben ein paar Hollandbildbände und Biographien berühmter Altistinnen herausgelegt, vielleicht wäre das was für dich.« Ich dankte ihr und zog mich zurück, um mich dann für kurze Zeit einem Band aus Jüngers 'Siebzig verweht' festzulesen. Nach einiger Zeit wurden mir die Augen schwer. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist mein ungläubiger Blick zur Uhr, als ich im Lesesessel erwachte: Ich hatte fast 10 Stunden selig wie ein Kind geschlafen. Erfrischt und ohne jedes Gefühl eines Restspiegels an Schlafschwere trat ich aus der Tür, wo mir Frank lächelnd entgegenkam: »Morgen, du Waldhüter,« grinste er. »Frühstück?« Ich schüttelte verlegen den Kopf. »Eigentlich würde ich jetzt lieber–––« »Laß mich raten,« sagte die dazugetretene Moni, »du möchtest das alles erstmal alleine für dich verarbeiten. Das geht wohl allen zuerst so. Aber der nächste Freitagstermin geht hoffentlich klar für dich?« Ich nickte fast ein wenig zu konspiratorisch und nahm den von ihr gereichten Ingwerkeks auf meinen nachdenklichen und entspannten Nachhauseweg.