Luchsus
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Ein sonniger Frühlingsnachmittag, ich habe es mir auf dem Bett bequem gemacht, Tristan hat seine tägliche Ration Hähnchenschenkel verputzt und liegt schnurrend auf meinem Bauch, dazu läuft dezent im Hintergrund »The Cat« von Jimmy Smith, Cooljazz auf der Hammond B3... seine wunderschönen bernsteinfarbenen Luchsaugen scheinen heute eine Spur intensiver zu leuchten als sonst. Ich spüre es, er ist heute in einer verspielten Stimmung, er streckt sich, fährt seine Krallen aus, dann leckt er mir mit seiner Schmirgelpapierzunge durchs Gesicht, reibt seine Wangen in meinem Bart (Katzen mögen Bärte!)... ich streichele den langgestreckt auf mir liegenden Tristan von den Pinselohren bis zum Stummelschwanz durch, das macht ihn so richtig wuschig, er traktiert meine Nase mit Liebesbissen, jaaaa, Tristan, mehr davon! Noch mehr rauhe Luchszunge auf Wangen, Nase und Stirn, ich tapeziere sein schönes, kluges Katzengesicht mit Küssen, er wiederum umkrallt meinen Kopf und liebesbeißt mir in die Haare... ooooooh Tristan, TRISTAN!!! So geht es Stunde um Stunde, mensch-lüchsische Kuschelekstase, es wird Abend, es wird Nacht... und irgendwann stelle ich fest, dass die unbebarteten Teile meines Gesichts sich seltsam pelzig anfühlen. Ich halte kurz inne... »Yadgar!« höre ich eine Stimme, etwas rau und unartikuliert... wer ruft denn da nach mir? Hier ist doch niemand! »Yadgar!« ein zweites Mal... das ist doch nicht etwa...? Doch, es ist Tristan, und mir fällt auf einmal auch auf, dass ich seine Lippenbewegungen mühelos erkennen kann, obwohl im Zimmer fast völlige Dunkelheit herrscht!
»Du kannst sprechen?«
»Ja... ich weiß auch nicht, warum... aber du siehst ja komisch aus! So einen Menschen habe ich noch nie gesehen!«
Das will ich genauer wissen, ich springe aus dem Bett, laufe ins Badezimmer, schalte sogar das Licht ein, um mir im Spiegel selbst ein Bild zu machen... und was ich da sehe, kann ich erst nicht glauben: mein ganzes Gesicht ist von einer kurzen, aber dichten Behaarung überzogen, mit weißen Streifen um die Augen herum, dunklen Streife auf rostbraunem Grund auf der Stirn - wie ein Luchs! Unwillkürlich fasse ich nach meinen Ohren... da sind Haarpinsel! Auch meine Hände sind behaart... und die Fingernägel sind langen Krallen gewichen! Kann ich sie womöglich auch einziehen? Ja, das funktioniert (immerhin kann ich so weiter eine Computertastatur bedienen)!
»Bringst du mir Programmieren bei?« höre ich den mir ins Badezimmer gefolgten Tristan fragen... ja, Tristan, wenn ich für dich eine passende Tastatur gefunden oder selbst gebastelt habe! Und mir ist auf einmal so warm... ich streife hastig meine Kleider ab, ich ahne schon, was passiert ist... tatsächlich, mir ist ein komplettes Luchsfell gewachsen, wie ich im Spiegel sehe, mit länglichen dunkelbraunen Flecken auf dem Rücken (also eher Karpatenluchs, nicht Nordluchs wie Tristan), cremeweiß auf Brust und Bauch, letzter auch gar nicht mehr so fett wie früher. Und, ich fasse hinter mich, der Stummelschwanz fehlt auch nicht, klassisch mit schwarzer Spitze!
Ich schaue Tristan an, ein Funkeln tritt in seine Augen, er springt mir in die Arme (früher hatte ich das immer vermieden, aber jetzt spüre ich seine Krallen kaum noch)...
»Wir wandern aus!« sage ich zu ihm, »Tristan, der Menschenluchs und Yadgar, der Luchsmensch, auf nach Norwegen, Schweden oder Finnland, wo uns in den Wäldern niemand findet!«
»Aber erst bringst du mir Programmieren bei, ja? Du schwärmst immer so von C++, das fände ich interessant zu lernen...«