Landeskrüppelarzt
Bewertung: 8 Punkt(e)
Oft sind es die Fundstücke in einem antiquarisch erworbenen Buch, die aus einem Schätzchen einen Schatz machen. Heute kam mit der Post mein bestelltes Buch über pathologisch–anatomische Untersuchungen, die der Arzt Siegfried Graeff im Hamburg der Jahre 1943–45 an Opfern der Luftangriffe vorgenommen hat. Die Scharteke ist gruselig genug, nach ein paar Dutzend Seiten hat man erst einmal genug von zerbröckelnden Aorten, klebrigen Nieren und geschrumpften Darmschlingen, doch ein zum Notizzettel gedient habendes eingelegtes Blatt, hälftig zerrissen, scheint mir der Verblasterung wert. Auf der Rückseite hat sich der Erstbesitzer des Buches, offenbar ein Dr. Locher, eine Anmerkung zur Buchseite 117 notiert, die knapp und bedeutungsschwer 'Postmortale Blasenbildung' lautet. Die Innenseite trägt den Stempel 'Staatliches Gesundheitsamt Bentheim' und darunter ist in xerographierter Schreibmaschinenschrift zu lesen:
Betr.: Krüppelberatungstermin
Am 19. Oktober 1948 nachm. ab 13 Uhr hält der Landeskrüppelarzt, Herr Professor Dr. Lindemann aus Hannover, im Gesundheitsamt Nordhorn, Hohenkörbener Weg, einen Krüppelberatungstermin ab. Es sollen alle Kinder und Jugendlichen (bis 18 J.), die an einer Verkrüppelung leiden oder bei denen eine Verkrüppelung droht, vorgestellt werden. Von der Vorstellung banaler Fälle, wie leichter Haltungsfehler der Füsse oder Wirbelsäule, wird jedoch gebeten abzusehen, ebenso von der Vorstellung –––
Hier endet das Blatt und hinterlässt den ungeduldigen Leser mit der Frage, von welcher Vorstellung abzusehen ist. Etwa der Vorstellung, dieser Termin diente dem Zweck der Heilung der Verkrüppelten?